Doppelgesichtiges Deutschland
Hans-Ulrich Wehler legt den fünften Band seines Monumentalwerks zur deutschen Gesellschaftsgeschichte vor. Er forscht nach, wie sich Herrschaft organisiert und welche soziale Realität dabei entsteht. Die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik erscheint als Erfolgsgeschichte, während das Bild von der freien Gesellschaft mit Aufstiegsmöglichkeiten für jedermann vom Autor genüsslich zerpflückt wird. Die DDR behandelt Wehler nur als "gescheitertes Intermezzo".
Mit dem Band schließt Hans-Ulrich Wehler eine Reihe ab, die in der deutschen Geschichtsschreibung ihresgleichen sucht. Den Zeitraum von fast 300 Jahren hat Wehler analysiert, beschrieben und zuweilen deftig kommentiert.
Beginnend mit den feudalen Verhältnissen des 18. Jahrhunderts hat er den Einbruch der industriellen und politischen Moderne in die deutschen Lande verfolgt, Abwehrreaktionen und Aufbruchsversuche, den "dreißigjährigen Krieg" des 20. Jahrhunderts, hat Brüche und Kontinuitäten beschrieben – und ist nun in der Zeit angekommen, die ein Doppelgesicht hat. 1949-90: zwei deutsche Staaten, zwei entgegen gesetzte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen.
Allerdings - ernsthaft kümmert er sich nur um die Gesellschaftsgeschichte des einen, größeren deutschen Staates. Die kleine DDR schrumpft in Wehlers Werk auf Fußnotengröße zusammen. Der zweite deutsche Staat ist für ihn nur eine "sowjetische Satrapie", deren gesellschaftliche Entwicklung kaum der Rede wert ist. "Man kann es der florierenden DDR-Forschung getrost überlassen", schreibt er im Vorwort, "das Gelände eines untergegangenen, von seiner eigenen Bevölkerung aufgelösten Staatswesens mit all seinen Irrwegen genauer zu erkunden." Selten hat ein Autor so unverblümt im Vorwort klargemacht, dass man einen Teil dessen, was er im Untertitel seines Buches ankündigt, getrost vergessen kann.
Tatsächlich unternimmt Wehler keine ernsthaften Anstrengungen, eine Gesellschaftsgeschichte auch der DDR vorzulegen (in der durchaus mehr steckt als nur der Befehl der SED-Oberen und der Gehorsam der Untertanen!). Lediglich die knappe Darstellung des wirtschaftlichen Desasters der DDR in den 80er Jahren ist eindrucksvoll und sei jedem Ostalgie-Gefährdeten zur Lektüre empfohlen. Dass die Bundesrepublik in dieser Zeit die DDR noch am Leben gehalten hat, obwohl diese wirtschaftlich schon ins Bodenlose stürzte, gehört zu den besonderen Ironien der Geschichte.
Es gibt noch eine zweite Irritation: Wehlers im Anfangsteil phasenweise recht oberflächliche Lobeshymnen auf die Bundesrepublik. Ist er vom westdeutschen Wirtschaftswunder derart geblendet, dass er die kritische Distanz verloren hat? Die Antwort ist eindeutig: Nein. Denn im Kern bietet dieser Band schonungslos kritische Analysen der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik.
Wehler beschreibt das im wahrsten Sinne des Wortes unvorstellbare Wunder des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs aus Ruinen – die Alliierten hatten realistischerweise mit einer 30-jährigen Krisenperiode gerechnet – und nimmt im Gegenzug auseinander, wie das Wirtschaftswunder harte gesellschaftliche Realitäten verdeckt. Demokratie lebt von dem Versprechen, dass die willigen und fähigen Bürger die Türen zum sozialen Aufstieg aufstoßen können. Die Bundesrepublik löse dieses Versprechen viel weniger ein als allgemein angenommen, resümiert Wehler.
Die Wirtschaftselite habe sich fast hermetisch abgeriegelt, die Konzentration von (Produktiv-)Kapital auf eine winzige Minderheit habe krasse Formen angenommen, auch die intellektuelle Elite schotte sich gegenüber Aufsteigern nach Kräften ab. Die Bildungsreformen der 60er und 70er Jahre hätten daran kaum etwas geändert, konstatiert Wehler und kommt zu dem Schluss, dass die erstaunliche Zementierung gesellschaftlicher Positionen nur dank des wachsenden Wohlstandes kaum ins allgemeine Bewusstsein gedrungen sei. Das birgt Gefahren, wenn die Wohlstandsdecke weggezogen wird.
Andererseits schätzt Wehler die Beteiligung auch der unteren Bevölkerungsschichten am wachsenden Wohlstand nicht gering. Ermöglicht wird dies durch riesige Transferzahlungen an diejenigen, die in der Marktgesellschaft das Nachsehen haben. Den Markt preist Wehler als ingeniöse Erfindung – aber der Markt ist für ihn kein Allheilmittel, deshalb ist Wehlers Buch auch als flammendes Plädoyer für den Sozialstaat zu lesen. Der Sozialstaat sei eine der "größten Leistungen der europäischen Politischen Kultur im 20. Jahrhundert", schreibt er und kritisiert zugleich das unaufhaltsame Wachstum sozialstaatlicher Leistungen, das die Ressourcen bedrohe.
Wehler analysiert gesellschaftliche Strukturen, um den Rahmen sichtbar zu machen, innerhalb dessen wir uns bewegen. Er ist unbeirrt von den Winden des Zeitgeistes ein Aufklärer alter Schule. Mit polemischer Schärfe kommentiert er sozialwissenschaftliche Moden der letzten Jahrzehnte, die "die harten Strukturen sozialer Ungleichheit … wegpluralisierten" und eine gesellschaftliche Offenheit, eine "Quasi-Klassenlosigkeit" konstatierten, während sie die bahnbrechenden Untersuchungen etwa Pierre Bourdieus ignorierten.
Zum Abschluss seiner fünfbändigen Deutschen Gesellschaftsgeschichte hat er sich durch die schier unüberschaubare Menge sozialwissenschaftlicher und sozialgeschichtlicher Literatur zur neuesten Geschichte gearbeitet. Souverän zeichnet er Entwicklungslinien und Forschungsdebatten nach und versieht sie mit eigenen Einschätzungen und den ihm eigenen polemischen Kommentaren.
Herausgekommen sind – hinsichtlich der westdeutschen Geschichte – höchst aufschlussreiche Analysen, die vor allem Fachkundigen Stoff für Debatten liefern. Nicht herausgekommen ist die große Erzählung über die Gesellschaftsgeschichte seit 1949.
Wehler ist einmal mehr ein scharfer Analytiker, der hier abschnittsweise Dimensionen der Gesellschaftsgeschichte untersucht. Zuweilen liest sich das Buch fast wie ein Lexikon, in dem Begriffe und Themen abgehandelt werden. Deshalb ist es schwer, den Inhalt des Buches auf einen Nenner zu bringen - wie etwa bei Heinrich August Winklers Werk über den langen Werk der Deutschen nach Westen.
Wehler korrigiert dieses Bild ein wenig: Deutschland sei eigentlich immer schon Teil des Westens gewesen, ehe es seinen eigenen Weg in den Abgrund gegangen sei. Nach 1949 sei Westdeutschland (inzwischen Gesamtdeutschland) dank günstiger Umstände und kluger politischer Entscheidungen wieder zum Westen zurückgekehrt. Dieser Gedanke ist allerdings nicht so originell, dass er zu einem Schlagwort in den Feuilletons werden könnte.
Wehlers wissenschaftliche Leistung ist eine andere: Er hat die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands von der heran brechenden Moderne bis in die jüngste Vergangenheit strukturgeschichtlich analysiert und damit grundlegende Erkenntnisse über Tiefenströmungen der historischen Entwicklung zutage gefördert. Dass er mit einer geradezu starren Systematik vorgeht, hat sofort die Kritiker auf den Plan gerufen. Aber die Debatte, die es in den Feuilletons anregt, beweist: das Buch ist eine intellektuelle Herausforderung erster Güte.
Rezensiert von Winfried Sträter
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 5: Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949-90
C. H. Beck Verlag, München 2008
529 Seiten, 34,90 EUR
Beginnend mit den feudalen Verhältnissen des 18. Jahrhunderts hat er den Einbruch der industriellen und politischen Moderne in die deutschen Lande verfolgt, Abwehrreaktionen und Aufbruchsversuche, den "dreißigjährigen Krieg" des 20. Jahrhunderts, hat Brüche und Kontinuitäten beschrieben – und ist nun in der Zeit angekommen, die ein Doppelgesicht hat. 1949-90: zwei deutsche Staaten, zwei entgegen gesetzte politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen.
Allerdings - ernsthaft kümmert er sich nur um die Gesellschaftsgeschichte des einen, größeren deutschen Staates. Die kleine DDR schrumpft in Wehlers Werk auf Fußnotengröße zusammen. Der zweite deutsche Staat ist für ihn nur eine "sowjetische Satrapie", deren gesellschaftliche Entwicklung kaum der Rede wert ist. "Man kann es der florierenden DDR-Forschung getrost überlassen", schreibt er im Vorwort, "das Gelände eines untergegangenen, von seiner eigenen Bevölkerung aufgelösten Staatswesens mit all seinen Irrwegen genauer zu erkunden." Selten hat ein Autor so unverblümt im Vorwort klargemacht, dass man einen Teil dessen, was er im Untertitel seines Buches ankündigt, getrost vergessen kann.
Tatsächlich unternimmt Wehler keine ernsthaften Anstrengungen, eine Gesellschaftsgeschichte auch der DDR vorzulegen (in der durchaus mehr steckt als nur der Befehl der SED-Oberen und der Gehorsam der Untertanen!). Lediglich die knappe Darstellung des wirtschaftlichen Desasters der DDR in den 80er Jahren ist eindrucksvoll und sei jedem Ostalgie-Gefährdeten zur Lektüre empfohlen. Dass die Bundesrepublik in dieser Zeit die DDR noch am Leben gehalten hat, obwohl diese wirtschaftlich schon ins Bodenlose stürzte, gehört zu den besonderen Ironien der Geschichte.
Es gibt noch eine zweite Irritation: Wehlers im Anfangsteil phasenweise recht oberflächliche Lobeshymnen auf die Bundesrepublik. Ist er vom westdeutschen Wirtschaftswunder derart geblendet, dass er die kritische Distanz verloren hat? Die Antwort ist eindeutig: Nein. Denn im Kern bietet dieser Band schonungslos kritische Analysen der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik.
Wehler beschreibt das im wahrsten Sinne des Wortes unvorstellbare Wunder des wirtschaftlichen Wiederaufstiegs aus Ruinen – die Alliierten hatten realistischerweise mit einer 30-jährigen Krisenperiode gerechnet – und nimmt im Gegenzug auseinander, wie das Wirtschaftswunder harte gesellschaftliche Realitäten verdeckt. Demokratie lebt von dem Versprechen, dass die willigen und fähigen Bürger die Türen zum sozialen Aufstieg aufstoßen können. Die Bundesrepublik löse dieses Versprechen viel weniger ein als allgemein angenommen, resümiert Wehler.
Die Wirtschaftselite habe sich fast hermetisch abgeriegelt, die Konzentration von (Produktiv-)Kapital auf eine winzige Minderheit habe krasse Formen angenommen, auch die intellektuelle Elite schotte sich gegenüber Aufsteigern nach Kräften ab. Die Bildungsreformen der 60er und 70er Jahre hätten daran kaum etwas geändert, konstatiert Wehler und kommt zu dem Schluss, dass die erstaunliche Zementierung gesellschaftlicher Positionen nur dank des wachsenden Wohlstandes kaum ins allgemeine Bewusstsein gedrungen sei. Das birgt Gefahren, wenn die Wohlstandsdecke weggezogen wird.
Andererseits schätzt Wehler die Beteiligung auch der unteren Bevölkerungsschichten am wachsenden Wohlstand nicht gering. Ermöglicht wird dies durch riesige Transferzahlungen an diejenigen, die in der Marktgesellschaft das Nachsehen haben. Den Markt preist Wehler als ingeniöse Erfindung – aber der Markt ist für ihn kein Allheilmittel, deshalb ist Wehlers Buch auch als flammendes Plädoyer für den Sozialstaat zu lesen. Der Sozialstaat sei eine der "größten Leistungen der europäischen Politischen Kultur im 20. Jahrhundert", schreibt er und kritisiert zugleich das unaufhaltsame Wachstum sozialstaatlicher Leistungen, das die Ressourcen bedrohe.
Wehler analysiert gesellschaftliche Strukturen, um den Rahmen sichtbar zu machen, innerhalb dessen wir uns bewegen. Er ist unbeirrt von den Winden des Zeitgeistes ein Aufklärer alter Schule. Mit polemischer Schärfe kommentiert er sozialwissenschaftliche Moden der letzten Jahrzehnte, die "die harten Strukturen sozialer Ungleichheit … wegpluralisierten" und eine gesellschaftliche Offenheit, eine "Quasi-Klassenlosigkeit" konstatierten, während sie die bahnbrechenden Untersuchungen etwa Pierre Bourdieus ignorierten.
Zum Abschluss seiner fünfbändigen Deutschen Gesellschaftsgeschichte hat er sich durch die schier unüberschaubare Menge sozialwissenschaftlicher und sozialgeschichtlicher Literatur zur neuesten Geschichte gearbeitet. Souverän zeichnet er Entwicklungslinien und Forschungsdebatten nach und versieht sie mit eigenen Einschätzungen und den ihm eigenen polemischen Kommentaren.
Herausgekommen sind – hinsichtlich der westdeutschen Geschichte – höchst aufschlussreiche Analysen, die vor allem Fachkundigen Stoff für Debatten liefern. Nicht herausgekommen ist die große Erzählung über die Gesellschaftsgeschichte seit 1949.
Wehler ist einmal mehr ein scharfer Analytiker, der hier abschnittsweise Dimensionen der Gesellschaftsgeschichte untersucht. Zuweilen liest sich das Buch fast wie ein Lexikon, in dem Begriffe und Themen abgehandelt werden. Deshalb ist es schwer, den Inhalt des Buches auf einen Nenner zu bringen - wie etwa bei Heinrich August Winklers Werk über den langen Werk der Deutschen nach Westen.
Wehler korrigiert dieses Bild ein wenig: Deutschland sei eigentlich immer schon Teil des Westens gewesen, ehe es seinen eigenen Weg in den Abgrund gegangen sei. Nach 1949 sei Westdeutschland (inzwischen Gesamtdeutschland) dank günstiger Umstände und kluger politischer Entscheidungen wieder zum Westen zurückgekehrt. Dieser Gedanke ist allerdings nicht so originell, dass er zu einem Schlagwort in den Feuilletons werden könnte.
Wehlers wissenschaftliche Leistung ist eine andere: Er hat die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands von der heran brechenden Moderne bis in die jüngste Vergangenheit strukturgeschichtlich analysiert und damit grundlegende Erkenntnisse über Tiefenströmungen der historischen Entwicklung zutage gefördert. Dass er mit einer geradezu starren Systematik vorgeht, hat sofort die Kritiker auf den Plan gerufen. Aber die Debatte, die es in den Feuilletons anregt, beweist: das Buch ist eine intellektuelle Herausforderung erster Güte.
Rezensiert von Winfried Sträter
Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 5: Bundesrepublik Deutschland und DDR 1949-90
C. H. Beck Verlag, München 2008
529 Seiten, 34,90 EUR