Doppelleben im Internet

Von Kim Kindermann |
Wer kennt den Wunsch nicht, wenn Chaos herrscht im Beruf oder in der Familie: einmal jemand ganz anderes zu sein. Manche erfüllen sich den Wunsch, indem sie sich eine zweite Existenz im Internet zulegen. Hier kann man eine oder sogar mehrere andere Identitäten annehmen, ohne die eigene zu enthüllen.
Ein Klick auf der Tastatur und schon kann man jemand anderes sein. Es ist so leicht. Keiner merkt, wenn man in eine andere Rolle schlüpft. Anonym bekennt sich eine junge Frau in einem Internet-Forum:

" Als ich im Chat war und angesprochen wurde, wer ich bin, erzählte ich, dass ich männlich bin. Mir tat es gut, jemand anderes zu sein. Fort von meinen Problemen. "

Und weil es einfach war, legt sich diese junge Frau gleich drei verschiedene Identitäten zu. Männliche! Plötzlich ist sie nicht mehr das unsichere Mädchen, sondern ein ganzer Kerl. Stark, erfolgreich, selbstbewusst.

" In jeder Person steckten Dinge, die ich nicht ausleben kann, die ich gerne hätte. Lauter solche Dinge ... "

Damit ist die junge Frau kein Einzelfall. Viele Menschen legen sich im Internet neue ausgefeilte Legenden zu, die mit ihrem realen Alltag nicht mehr viel zu tun haben, sagt Ursula Lindauer. Die Berliner Psychotherapeutin berät seit fünf Jahren Menschen, die im Internet ein virtuelles Doppelleben führen.

" Also, teilweise verschweigen die, dass sie verheiratet sind oder Kinder haben. Was ich auch festegestellt habe, ist - das ist ein Trend, der nimmt zu - dass viele Leute, die arbeitslos sind, sich für diese Zwecke dann völlig andere Berufswege ausdenken und dann den Leuten erzählen, sie sind erfolgreiche Architekten oder Ärzte oder so was. Und dann da eine andere Resonanz bekommen als in ihrem Alltag. "

Ein "Daniel" im Bekenntnisforum über die Motive seiner Freundin:

" Im Chat ist sie begehrenswert, jeder denkt, sie hätte einen perfekten Körper und sei das schönste Mädchen der Welt... andererseits denkt sie, dass wenn die anderen Chatter wüssten, wie sie aussieht, würden sie sie nicht mehr mögen."

" Die Motivation ist ganz unterschiedlich, manche machen das aus Spaß. Also, es wirkt so ein bisschen lausbubenhaft. Und manche machen das wirklich aus einer Not heraus. Und dann entwickelt das so eine eigene Dynamik, so einen Sog und dann leben die ein paar Jahre so."

Not ergibt sich immer dann, wenn im wahren Leben Sehnsüchte ungelebt bleiben. Allen voran die erotischen. Oft gelten viele Sexpraktiken als unanständig und werden deshalb in einer Partnerschaft nicht ausgelebt. Sind die Begierden aber so stark, finden sie im Geheimen statt. Geheim deshalb: Weil niemand seine Familie, seine gesellschaftliche Stellung und seinen Arbeitsplatz aufs Spiel setzen will. Doppelleben gab und gibt es überall, sagt Wolfgang Scholl. Er ist Professor für Sozialpsychologie an der Berliner Humboldt Universität:

" Es gibt die Nebenbeziehungen von katholischen Priestern, die Beziehungen zu Frauen haben und die nicht haben dürfen, also zur Geheimhaltung gezwungen sind. Eventuelle Bereiche, wo jemand Homosexualität nicht outen will, weil er in sozialen Umgebungen lebt, die das nicht tolerieren würden. "

Eine 41-jährige Frau über das Doppelleben ihres Freundes, das er zehn Jahre vor ihr geheim hielt.

" Er hat Filmchen von sich beim Onanieren gedreht und sie ins Netz gestellt. Natürlich, schrieb er dazu, er sei Single und suche Frauen. Bevor ich zum Nachtdienst ging, hat er sich rasiert, geduscht und einparfümiert. Er hat sie wohl auch getroffen, oft stand sein Auto morgens anders da als am Abend zuvor. "

Schockiert und zutiefst verunsichert, fragen sich viele Partner von Menschen mit Doppelleben: Ist das eigentlich psychisch noch normal? Warum so weitermachen? Und was bedeutet das für andere? Vor Konsequenzen fürchten sich fast alle Beteiligten. Und doch muss das nicht immer schlecht sein, meint Ursula Lindauer. Zumindest wenn es sich um ein Doppelleben im Internet handelt.

" Manchmal habe ich den Eindruck, dass die dann nicht in der Realität bestimmte Dinge umsetzen müssen. Also, es genügt sozusagen, das virtuell zu machen. Damit ist dieses Bedürfnis dann schon befriedigt. Insofern könnte man sagen, dass das Internet bestehende Verhältnisse stabilisiert. "
Das Internet als eine Art Probebühne oder gar "virtuelle Selbsttherapie"? Hier kann vielleicht nicht nur ausgelebt werden, was gesellschaftlich peinlich oder tabuisiert ist, sondern man kann auch testen: Was passiert eigentlich, wenn ich mich so gebe wie ich mich fühle?

Transsexuelle etwa können hier ihr zweites Ich besser kennen lernen, bevor sie sich für einen Weg entscheiden. Und das sollte man immer dann, wenn man merkt, dass der Leidensdruck nicht mehr auszuhalten ist. So wie bei der jungen Frau, die sich drei männliche Identitäten im Internet zulegte. Nach zweieinhalb Jahren hörte sie auf:

" Mein Leben war nur noch von dem Leben dieser drei Menschen bestimmt. Ich habe meine Freunde nicht mehr getroffen, nichts mehr für mich getan. Mich gab es beinahe gar nicht mehr."

Macht die Geheimniskrämerei anfangs noch den Kitzel aus, wird genau sie irgendwann lästig: Der ständige Druck, lügen zu müssen, beansprucht auf Dauer die Nerven. Wohl deshalb hören viele mit ihrem virtuellen Doppelleben irgendwann genauso einfach wieder auf, wie sie damit angefangen haben. Ein Klick auf der Tastatur und es ist vorbei. Vorbei?