Stephan Thome: Gegenspiel. Roman
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
457 Seiten, 22,95 Euro
Sprengstoff der Selbstverwirklichung
Mit "Gegenspiel" erzählt Stephan Thome erneut die Geschichte des Vorgängerromans "Fliehkräfte": die alltägliche Ehe von Maria und Hartmut. Diesmal ist aber die streitlustige und launische portugiesischen Ehefrau die Hauptfigur.
Der 43-jährige Stephan Thome ist ein konzeptuell arbeitender Autor. In seinem Debüt "Grenzgang" (2009) interessierte ihn, wie sich Personen entwickeln und verändern, denen man an einem im Siebenjahresrhythmus wiederkehrenden Fest begegnet. Im "Gegenspiel" versetzt sich der Philosoph und Sinologe Thome in das Leben der Portugiesin Maria, eine Frau um die 50. Thome-Lesern ist der gesamte Plot aus dem 2012 erschienenen Roman "Fliehkräfte" bekannt.
Denn das Porträt einer ziemlich gewöhnlichen, zwischen Glück, Alltäglichkeit, Langeweile und Ausbruchsfantasien pendelnden Ehe wurde in den "Fliehkräften" aus der Perspektive von Marias Mann, dem Philosophie-Professor Hartmut Hainbach erzählt. Im "Gegenspiel" wechselt der Autor seine Hauptfiguren aus. Maria steht im Fokus. Beide Romane enden am Meer. Maria steht am Strand. Harmut schwimmt "ohne Ziel und ohne Angst" in die Nacht hinaus.
Aufbruch aus der traditionellen Rollenverteilung
Maria repräsentiert die Generation, die durch Simone de Beauvoirs Bücher zur Emanzipation fanden. Zur eigenen Karriere fehlt die gute Ausbildung, und der Begriff der Selbstverwirklichung verwandelt sich unter der alten Rollenverteilung, Ehefrau, Hausfrau und Mutter, in Sprengstoff. Marias durch Vor- und Rückblenden geschildertes Leben gibt dem Autor Gelegenheit, über kulturelle Unterschiede zwischen Deutschland und dem stockkatholischen Portugal Auskunft zu geben und den Aufbruch der bundesrepublikanischen Nach-68-Gesellschaft West Berlins an biografischen Beispielen vorzuführen.
Stephan Thome ist ein realistischer und betont dialogischer Autor. Im Zentrum steht die Spiegelung von Theorie und Praxis. Wie ein Diagnostiker untersucht er die Strukturen unterschiedlicher Sprechweisen, Handlungsweisen, Empfindungsarten von Mann und Frau. Sein Doppelporträt ist ein theoretisch interessantes Spiel. Der traditionell durch den Professorenberuf gesicherte Hartmut wird durch seine streitlustige, launische und latent unzufriedenen Maria verunsichert. Maria ist der stärkere Charakter, Hartmut der dienendere. Marias Ausbruch in eine Berufstätigkeit am Berliner Theater weit weg vom Häuschen in Bonn, bringt Gewohnheiten zum Einstürzen.
"Gegenspiel" funktioniert auch ohne Kenntnis von "Fliehkräfte"
Thome verhandelt nicht nur die Geschichte einer Ehe aus weiblicher Perspektive. Ihn interessieren Fremdheit und Schweigen: "In einer Ehe", sagt Maria am Telefon zu ihrer 20-jährigen Tochter, "redet man nicht über das Wichtige".
Angelpunkt des Romans ist die Frage, ob nach Marias Ausbruch nach Berlin, auch Hartmut der Schritt aus den Sicherheiten seines Professorendaseins gelingt. Der Roman "Gegenspiel", der ohne die Kenntnis von "Fliehkräfte" für sich steht, ist die Rückblende auf eine Generation, für die Emanzipation ein Abenteuer war. Thome zeigt das Frauenbild eines durchschnittlichen weiblichen Lebens, schwankend zwischen Tatkraft und Labilität, zwischen Launenhaftigkeit und Eigensinn. Nichts ist daran neu. Doch selbst in Zeiten, in denen sich das alte Familien- und Gendermodell aufzulösen scheint, steckt in Stephan Thomes "Gegenspiel" kein Rat, aber Erkenntnis.