Sonja Eismann ist Mitbegründerin und -herausgeberin des "Missy Magazine" und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie schreibt, referiert und unterrichtet zu Themen rund um Feminismus und Popkultur. Zuletzt gab sie im März 2019 gemeinsam mit "Missy"-Chefredakteurin Anna Mayrhauser die Literaturanthologie "Freie Stücke. 15 Geschichten über Selbstbestimmung" heraus.
Wie Kinder und Regieren zusammengehen
03:51 Minuten
Kinder und Karriere? Ob das zusammengeht, müssen Spitzenpolitikerinnen wirklich immer noch beantworten. Das ist zum einen diskriminierend, findet die Journalistin Sonja Eismann. Zum anderen gibt es für das reale Problem dahinter eine erprobte Lösung.
Annalena Baerbock ist Grünen-Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl im September und Mutter zweier junger Kinder. Schnell wurde öffentlich gemutmaßt, beides ließe sich nicht vereinbaren.
Diese sexistische Unterstellung wurde zu Recht skandalisiert – denn wer stellt schon bei männlichen Kandidaten infrage, ob sie das mit der Kindererziehung und dem Topjob gleichzeitig hinkriegen?
Männer stehen vor derselben Herausforderung
Trotzdem wirft diese aus der Zeit gefallene Unterstellung eine Perspektive auf, die in all den Debatten um mögliche Eignungen noch kaum diskutiert wurde: Ist es wünschenswert, verantwortungsvolle Posten zu vergeben, die es Menschen, egal welchen Geschlechts, quasi verunmöglichen, sich um andere Belange als ihre Arbeit zu kümmern?
Möchten wir solche Posten, solche Persönlichkeiten im 21. Jahrhundert? Denn auch wenn bei männlichen Spitzenpolitikern das Problem der Vereinbarkeit von Beruf und Familie weitgehend unsichtbar bleibt, heißt das nicht, dass es zufriedenstellender gelöst würde.
Wer rund um die Uhr erreichbar sein muss, wer folgenschwere politische Entscheidungen treffen und dabei um den ganzen Globus jetten muss, hat in der Regel keine Zeit, jeden Tag das kleinere Kind von der Kita abzuholen und mit dem größeren Mathe zu büffeln. Oder sich mit Freund*innen zu treffen. Oder bei einem Hobby zu entspannen.
Warum die Verantwortung nicht aufteilen?
Man mag mich naiv nennen, aber ich finde das schade. Und in gewisser Weise auch gefährlich. Schade, weil ich mir wünschen würde, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die freie persönliche Entfaltung für jeden Menschen ein Grundrecht ist. Und gefährlich, weil die immense Machtkonzentration zu einer Hybris führen kann, bei der das Gespür und auch Interesse für die alltäglichen Sorgen leicht verloren geht. Nicht umsonst schrieb die Autorin Meli Kiyak, eine singuläre Staatsspitze umgebe ein "Aroma von König, Papst und Papa".
Warum dann also diese Verantwortung nicht aufteilen? Warum nicht gleichzeitig den Druck und den Rausch verringern? Die weiblich-männliche Doppelspitze bei den Grünen galt als fortschrittlich, harmonisch und produktiv. Sobald es jedoch um die Kanzler*innenkandidatur ging, war klar: The winner takes it all.
Muss das heute, wo zahllose Studien die Vorteile von geteilten Führungsposten belegen, tatsächlich noch automatisch so sein?
Die Diskussionen um ein Kanzler*innen-Duo wurden in den letzten Wochen immer wieder mit dem lapidaren Hinweis auf das Grundgesetz abgewürgt. Dort sei verbrieft, dass nur eine einzelne Person dieses Amt besetzen dürfe. Man könne schließlich nicht vor der Wahl einfach so das Grundgesetz ändern.
Das Grundgesetz könnte auch anders gelesen werden
In Artikel 62 steht tatsächlich: "Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern.". Komisch nur, dass sich auf der offiziellen Website bundeskanzlerin.de folgender Satz findet: "Im Grundgesetz ist nur die männliche Form genannt, natürlich ist damit immer auch eine Bundeskanzlerin gemeint."
Woher wissen wir dann also so genau, dass nicht auch Bundeskanzler*innen gemeint sein können? Für all die komplexen organisatorischen beziehungsweise juristischen Probleme wie Richtlinienkompetenz oder Misstrauensvoten, die bei der Ablehnung einer geteilten Kanzler*innenschaft vorgebracht werden, gäbe es sicherlich gewinnbringende Lösungen: Das Duo (oder vielleicht sogar Trio?) könnte zum Beispiel als rechtliche Einheit statt als Einzelpersonen betrachtet werden, trotzdem aber klar definierte Fachressorts betreuen.
Allein die Möglichkeit einer solchen Spitze würde mich hoffnungsfroher in eine politische Zukunft blicken lassen. Denn lieber als von vermeintlichen Übermenschen würde ich von Individuen regiert, die Macht und Verantwortung auch teilen können. Und Zeit für Familie und Freund*innen haben.