Doppelte Staatsbürgerschaften helfen Kriege verhindern
Kwame Anthony Appiah hat kein Problem damit, zu verschiedenen Staaten sich loyal zu verhalten. Der "Einheitsbegriff der Staatsbürgerschaft" stamme aus der Zeit der Aufklärung und von dem müsse man sich verabschieden. Mit doppelten Identitäten und Loyalitäten könne man die Wahrscheinlichkeit von Konflikten senken, glaubt der Philosoph.
Frank Meyer: Sind wir Bürger EINES Landes - oder sind wir Bürger der ganzen Welt? Für den Philosophen Kwame Anthony Appiah ist die Antwort eindeutig: Er versteht sich ganz ausdrücklich als Weltbürger. Seine Biographie passt dazu: Kwame Anthony Appiah ist der Sohn eines Politikers aus Ghana und einer britischen Autorin. Er hat in Großbritannien, in Ghana und den USA gelebt und dort gilt er als einer der maßgeblichen Intellektuellen unserer Tage. Heute wird der Philosoph in Berlin einen Vortrag halten unter dem Titel "Beeing Cosmopolitan" - "ein Weltbürger sein". Ich habe vor der Sendung mit Kwame Anthony Appiah gesprochen und ihn gefragt:- Lässt uns die Globalisierung, das Zusammenrücken der Welt heute keine andere Wahl: Müssen wir Weltbürger werden?
Kwame Anthony Appiah: Nein, aber ich glaube, Sie wollen von mir noch eine etwas kompliziertere Antwort. Hier kommt sie: Ich möchte Menschen durchaus ermutigen, Weltbürger zu werden, ich glaube aber nicht, dass es verpflichtend vorgeschrieben ist, ein Weltbürger zu sein. Ich bin Philosoph und ich bin tief beeinflusst durch Immanuel Kant und durch seinen Begriff der Pflicht. Und er sagt eben, man kann nur verpflichtet werden, das zu tun, was man eben als seine Pflicht erkennt. Und so meine ich, dass nicht jeder Mann, jede Frau es als seine oder ihre Pflicht erkennen muss, Weltbürger zu sein. Ich meine zwar, dass es in vielen Weltgegenden unumgänglich ist, Weltbürger zu sein, aber ich muss auch anerkennen, dass es Menschen gibt, die sich dem entziehen, die gut leben können, ohne Weltbürger zu sein. Ich muss also anderen das Recht zugestehen, nicht Weltbürger zu sein.
Meyer: Aber wenn Sie sagen, es gibt Weltgegenden, wo man eigentlich schon heute keine andere Wahl mehr hat, als als Weltbürger zu leben, welche Gegenden haben Sie da vor Augen?
Appiah: Ich meine zum Beispiel, dass es in den Großstädten kaum mehr möglich ist, als Nicht-Weltbürger zu leben. Nehmen wir etwa New York City, wo ich einen Teil des Jahres lebe. Auf den Straßen sieht man Menschen mit ganz unterschiedlichem Aussehen, Frauen kommen mit Hijab, ohne Hijab verhüllt daher. Wir sehen oft die jüdische Kippa auf den Männerköpfen. Wenn man Unterschiede hasst, dann wird man dort nicht genussvoll leben können. Also in Gegenden wie diesen großen Städten wie etwa New York oder Berlin muss man sich mit diesen Unterschieden abfinden. Und hier ist es fast unumgänglich, als Weltbürger zu leben.
Meyer: Aber heißt Weltbürger sein nur in diesem fast genießerischen Sinn, ja, ich akzeptiere Unterschiede, ich akzeptiere, dass Leute anders leben als ich, ich genieße das auch in einem gewissen Sinne - ist mit dem Begriff des Weltbürgers, auch wie Sie ihn gebrauchen - sind damit nicht auch Pflichten verbunden, auch die Frage, wem gegenüber muss ich eigentlich loyal sein? Bin ich meinem Land gegenüber loyal oder muss ich als Weltbürger eigentlich der ganzen Welt, dieser riesigen sozialen Gemeinschaft der ganzen Welt gegenüber loyal sein?
Appiah: Nun, ganz oft wird diese Frage gestellt, als sei es unmöglich, gleichzeitig unterschiedliche Loyalitäten als Weltbürger zu leben. Dem ist aber nicht so. Wenn man zum Beispiel als Vater mehrere Kinder hat, kann man doch sich allen Kindern gleichermaßen verpflichtet in der Loyalität zu ihnen fühlen. Ich selbst habe auch eine doppelte Loyalität durch meine Herkunft aus Ghana und England. Mein Vater ist aus Ghana, meine Mutter ist aus England, für mich ist das kein Widerspruch. Ich fühle gegenüber beiden Herkunftsländern eine Verpflichtung.
Ich fühle auch diese Verpflichtung der Loyalität zu meinem Beruf als Philosoph. Andererseits habe ich auch diese Verpflichtung gegenüber meinem anderen Beruf als Romanschriftsteller. Die beiden streiten nicht miteinander, sondern beide Loyalitäten müssen miteinander verbunden werden.
Dieses Konzept des Weltbürgertums ist meiner Meinung nach verwurzelt in zwei wesentlichen grundlegenden Ideen: Einerseits spürt natürlich der Weltbürger, dass er eine sittliche Verpflichtung gegenüber der Menschheit insgesamt hat, gegenüber allen Menschen als Trägern von Rechten und Ansprüchen. Das spürt er. Zugleich aber akzeptiert er, ja, er begrüßt und preist sogar die Unterschiede in den unterschiedlichen Gemeinschaften. Der Kosmopolit akzeptiert und bringt diesen Unterschieden Wertschätzung entgegen, weil er die Chancen erkennt, die in der Unterschiedlichkeit liegen. Er kann diese annehmen und so auch fremde Identität anerkennen.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Philosophen Kwame Anthony Appiah über sein Konzept des Weltbürgertums, und ich möchte aber gern noch mal an dieser Frage der Loyalität herumbohren. Wir haben zum Beispiel in Deutschland eine lange währende Diskussion über die doppelte Staatsbürgerschaft, ob ein Bürger dieses Landes zwei Staatsbürgerschaften haben kann. Was würden Sie denn zu diesem Problem sagen? Verstehe ich Sie richtig, dass Sie sagen, dieses Konzept der Staatsbürgerschaft ist dann eigentlich überholt, ich bin ein Bürger der ganzen Welt, ein Staatsbürger der ganzen Welt?
Appiah: Mein Vater, der ein Rechtsanwalt in Ghana war, arbeitete damals an den verschiedenen Verfassungen mit, denn wir hatten mehrere Verfassungen, da wir auch verschiedene Militärregierungen hatten, und ich fing immer mit ihm eine Diskussion an und sagte: Papa, schau mal, ich habe doch diese Bindung sowohl an England und an Ghana, könntest du das nicht so einrichten, dass ich eben beide Staatsbürgerschaften beibehalte? Und darauf hat er immer geantwortet: Nein, Staatsbürgerschaft ist etwas Einheitliches, das kann man nur gegenüber einem Staat haben, du kannst nur in einem Staat Staatsbürger sein.
Und ich halte das für einen Fehler. Ich glaube, dass man durchaus Loyalitäten zu unterschiedlichen politischen Gebilden haben kann, dass man sehr wohl ein gesetzestreuer, ein Steuer zahlender, ein verantwortlicher Bürger in einem Gebilde sein kann und zugleich auch gegenüber einem anderen staatlichen Gebilde. Letztlich kommt dieser Einheitsbegriff der Staatsbürgerschaft aus dem Gedanken des Nationalstaates, wie er sich in der Aufklärung entwickelt hat, und ich meine, von diesem einheitlichen Loyalitätsbegriff gegenüber nur einem Staat müssen wir uns verabschieden. Es gibt keine intrinsische Begründung dafür, weshalb man nur gegenüber einem politischen Gebilde diese Verpflichtung verspüren sollte.
Es stimmt natürlich, Loyalitäten können in Konflikt geraten im Falle des Krieges. Wenn ich doppelter Staatsbürger bin und diese Staaten in den Krieg treten, dann, so meine ich, muss man eine Entscheidung treffen. Aber soll man nur deswegen, weil diese Staaten in Krieg miteinander kommen könnten, die doppelte Staatsbürgerschaft aufgeben? Im Gegenteil. Doppelte Staatsbürgerschaften, doppelte Loyalitäten führen dazu, dass die Wahrscheinlichkeit des Krieges sinkt. Ich bin also durchaus dafür, dass man mit solchen doppelten Identitäten, mit solchen doppelten Loyalitäten die Wahrscheinlichkeit von Konflikten senkt. Konflikte können auftreten, sie müssen aber nicht auftreten.
Meyer: Und wenn wir uns dieses Konzept Weltbürgertum, Weltbürgerschaft noch mal von einer anderen Seite anschauen, von einer Seite, auf die Sie auch eingehen in Ihrem Buch, das es auf Deutsch gibt, "Der Kosmopolit": Die sittliche Frage, ja, wenn ich ein Bürger bin des Gemeinwesens Welt und Sie spielen die Frage durch, kann ich es mir eigentlich erlauben, zum Beispiel in New York in die Oper zu gehen und dafür viel Geld auszugeben, wenn mit diesem Geld doch anderswo, zum Beispiel in Afrika, ein Kinderleben gerettet werden könnte? Wie beantworten Sie diese Frage?
Appiah: Nun, Ihr Beispiel beruht ja auf einem sehr klar herausgearbeiteten Grundsatz, der immer wieder vorgebracht wird, nämlich dass es unsere Pflicht sei, den Wohlstand für alle Menschen in größtmöglicher Weise zu steigern - Wohlstandsmaximierung als umfassendes Ziel der Moral. Der Horizont, in dem wir hier argumentieren, ist eben die Menschheit insgesamt, deren Wohlstand und Wohlergehen wir insgesamt in größtmöglicher Weise fördern müssen.
Um von diesem Imperativ etwas wegzukommen, möchte ich doch mal den Rahmen infrage stellen, der hinter dieser Formulierung steckt, eben wonach Wohlstandsmaximierung das oberste Ziel unserer Bestrebungen sein sollte. Es gibt Philosophen, die das so vertreten haben, man nennt sie Utilitaristen, denn Utilitarismus vertritt genau diese Ansicht. Ich halte diese Ansicht für falsch, denn es gibt eben im Leben nicht nur einen Wert, ein oberstes Gebot, auf das man hinarbeiten sollte.
Es gibt verschiedene Werte, die kann man nicht gegeneinander ausspielen. Eine große Liebe besteht neben den vielen Freundschaften, die man pflegt. Man darf nicht die Werte alle zusammenfassen und dann sozusagen in eine Einheitswährung ummünzen, die da heißt: Wohlstandsmaximierung. Ich glaube eben, das kann nicht das oberste Ziel sein.
Was ist es aber stattdessen? Sie haben mir diese Frage vorgelegt. Leiste ich den von mir vernünftigerweise zu erwartenden, gerechten Beitrag dazu, damit alle Menschen den ihnen zustehenden Zugangsanspruch auf ihre Grundbedürfnisse haben? Das ist die Frage, und was das dann im Einzelnen ist, darüber muss man lange diskutieren. Wir sind jetzt sechs Milliarden oder eigentlich fast sieben Milliarden Menschen auf der Welt, und ich würde sagen, mein Anteil ist eben genau ein siebenmilliardstel Anteil an dieser großen Gesamtaufgabe, jedem Menschen nach meinen Kräften dazu zu verhelfen, dass sie Zugang zu den Chancen haben, die sie als Menschen eben haben.
Nun, ich weiß mindestens zwei Milliarden Menschen haben keinen gerechten Zugang zu diesen Chancen. Ich als einzelner Mensch kann dafür jetzt nicht die Verantwortung übernehmen, das übersteigt meine Kräfte. Und wenn Sie mich fragen, ist es noch zu rechtfertigen, in die Oper zu gehen, während anderswo die Kinder sterben, dann würde ich sagen: Ja, es ist durchaus ein vertretbarer Wert, in die Oper zu gehen, solange ich mich andererseits eben darum bemühe, meinen gemäßen Beitrag dafür zu leisten, dass diese allgemeinen Ansprüche für jeden ein Stück weit der Verwirklichung näher kommen.
Meyer: Und Herr Appiah, wenn wir uns das noch einmal auf einer politischen Ebene anschauen: Der amerikanische Präsident Barack Obama hat ja vor einiger Zeit eine Rede in Ägypten gehalten, eine Rede an die muslimische Welt, eine Botschaft, und er hat in dieser Botschaft gesagt, wir respektieren eure Werte, wir wollen in Respekt mit euch zusammenleben, auch als Markierung eines Unterschiedes zur Politik seines Amtsvorgängers. Ist denn diese Haltung von Barack Obama in Ihrem Sinne eine politisch kosmopolitische Haltung, eine weltbürgerliche Haltung in der Politik?
Appiah: Ja, ich glaube, dass diese Ansichten von Präsident Obama durchaus dem entsprechen, was ich als Weltbürgerschaft bezeichne. Dieser Dialog, von dem hier immer wieder gesprochen wird, zwischen verschiedenen Religionen, verschiedenen Weltanschauungen, der muss aber letztlich darum geführt werden, was das Rechte ist. Nicht alle Werte, die wir in einer anderen Kultur finden, können wir achten, hochschätzen oder akzeptieren. Ich schreibe gerade an den letzten Seiten eines neuen Buches, wo ich unter anderem das Thema "Ehrenmord" anspreche. Ich kann natürlich die Werte, die zum Ehrenmord führen, nicht hochschätzen, ich kann sie nicht einmal akzeptieren. Ich achte und ehre die Menschen, aber ich kann ihnen nicht zugestehen, dass die Werte, die zum Ehrenmord führen, die richtigen sind. Ich versuche sie zu überzeugen, dass diese Werte falsch sind.
Meyer: Kwame Anthony Appiah, heute wird er in Berlin den Hauptvortrag zum 20. Geburtstag des Hauses der Kulturen der Welt halten zu dem Thema, über das wir hier gesprochen haben: "Being Cosmopolitan - ein Weltbürger sein". Und wenn Sie sich seine Thesen genauer anschauen wollen, es gibt ein Buch, "Der Kosmopolit: Philosophie des Weltbürgertums" heißt es, erschienen im C. H. Beck Verlag. Bei uns Herr Appiah, vielen Dank für das Gespräch!
Appiah: Danke! Danke!
Kwame Anthony Appiah: Nein, aber ich glaube, Sie wollen von mir noch eine etwas kompliziertere Antwort. Hier kommt sie: Ich möchte Menschen durchaus ermutigen, Weltbürger zu werden, ich glaube aber nicht, dass es verpflichtend vorgeschrieben ist, ein Weltbürger zu sein. Ich bin Philosoph und ich bin tief beeinflusst durch Immanuel Kant und durch seinen Begriff der Pflicht. Und er sagt eben, man kann nur verpflichtet werden, das zu tun, was man eben als seine Pflicht erkennt. Und so meine ich, dass nicht jeder Mann, jede Frau es als seine oder ihre Pflicht erkennen muss, Weltbürger zu sein. Ich meine zwar, dass es in vielen Weltgegenden unumgänglich ist, Weltbürger zu sein, aber ich muss auch anerkennen, dass es Menschen gibt, die sich dem entziehen, die gut leben können, ohne Weltbürger zu sein. Ich muss also anderen das Recht zugestehen, nicht Weltbürger zu sein.
Meyer: Aber wenn Sie sagen, es gibt Weltgegenden, wo man eigentlich schon heute keine andere Wahl mehr hat, als als Weltbürger zu leben, welche Gegenden haben Sie da vor Augen?
Appiah: Ich meine zum Beispiel, dass es in den Großstädten kaum mehr möglich ist, als Nicht-Weltbürger zu leben. Nehmen wir etwa New York City, wo ich einen Teil des Jahres lebe. Auf den Straßen sieht man Menschen mit ganz unterschiedlichem Aussehen, Frauen kommen mit Hijab, ohne Hijab verhüllt daher. Wir sehen oft die jüdische Kippa auf den Männerköpfen. Wenn man Unterschiede hasst, dann wird man dort nicht genussvoll leben können. Also in Gegenden wie diesen großen Städten wie etwa New York oder Berlin muss man sich mit diesen Unterschieden abfinden. Und hier ist es fast unumgänglich, als Weltbürger zu leben.
Meyer: Aber heißt Weltbürger sein nur in diesem fast genießerischen Sinn, ja, ich akzeptiere Unterschiede, ich akzeptiere, dass Leute anders leben als ich, ich genieße das auch in einem gewissen Sinne - ist mit dem Begriff des Weltbürgers, auch wie Sie ihn gebrauchen - sind damit nicht auch Pflichten verbunden, auch die Frage, wem gegenüber muss ich eigentlich loyal sein? Bin ich meinem Land gegenüber loyal oder muss ich als Weltbürger eigentlich der ganzen Welt, dieser riesigen sozialen Gemeinschaft der ganzen Welt gegenüber loyal sein?
Appiah: Nun, ganz oft wird diese Frage gestellt, als sei es unmöglich, gleichzeitig unterschiedliche Loyalitäten als Weltbürger zu leben. Dem ist aber nicht so. Wenn man zum Beispiel als Vater mehrere Kinder hat, kann man doch sich allen Kindern gleichermaßen verpflichtet in der Loyalität zu ihnen fühlen. Ich selbst habe auch eine doppelte Loyalität durch meine Herkunft aus Ghana und England. Mein Vater ist aus Ghana, meine Mutter ist aus England, für mich ist das kein Widerspruch. Ich fühle gegenüber beiden Herkunftsländern eine Verpflichtung.
Ich fühle auch diese Verpflichtung der Loyalität zu meinem Beruf als Philosoph. Andererseits habe ich auch diese Verpflichtung gegenüber meinem anderen Beruf als Romanschriftsteller. Die beiden streiten nicht miteinander, sondern beide Loyalitäten müssen miteinander verbunden werden.
Dieses Konzept des Weltbürgertums ist meiner Meinung nach verwurzelt in zwei wesentlichen grundlegenden Ideen: Einerseits spürt natürlich der Weltbürger, dass er eine sittliche Verpflichtung gegenüber der Menschheit insgesamt hat, gegenüber allen Menschen als Trägern von Rechten und Ansprüchen. Das spürt er. Zugleich aber akzeptiert er, ja, er begrüßt und preist sogar die Unterschiede in den unterschiedlichen Gemeinschaften. Der Kosmopolit akzeptiert und bringt diesen Unterschieden Wertschätzung entgegen, weil er die Chancen erkennt, die in der Unterschiedlichkeit liegen. Er kann diese annehmen und so auch fremde Identität anerkennen.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Philosophen Kwame Anthony Appiah über sein Konzept des Weltbürgertums, und ich möchte aber gern noch mal an dieser Frage der Loyalität herumbohren. Wir haben zum Beispiel in Deutschland eine lange währende Diskussion über die doppelte Staatsbürgerschaft, ob ein Bürger dieses Landes zwei Staatsbürgerschaften haben kann. Was würden Sie denn zu diesem Problem sagen? Verstehe ich Sie richtig, dass Sie sagen, dieses Konzept der Staatsbürgerschaft ist dann eigentlich überholt, ich bin ein Bürger der ganzen Welt, ein Staatsbürger der ganzen Welt?
Appiah: Mein Vater, der ein Rechtsanwalt in Ghana war, arbeitete damals an den verschiedenen Verfassungen mit, denn wir hatten mehrere Verfassungen, da wir auch verschiedene Militärregierungen hatten, und ich fing immer mit ihm eine Diskussion an und sagte: Papa, schau mal, ich habe doch diese Bindung sowohl an England und an Ghana, könntest du das nicht so einrichten, dass ich eben beide Staatsbürgerschaften beibehalte? Und darauf hat er immer geantwortet: Nein, Staatsbürgerschaft ist etwas Einheitliches, das kann man nur gegenüber einem Staat haben, du kannst nur in einem Staat Staatsbürger sein.
Und ich halte das für einen Fehler. Ich glaube, dass man durchaus Loyalitäten zu unterschiedlichen politischen Gebilden haben kann, dass man sehr wohl ein gesetzestreuer, ein Steuer zahlender, ein verantwortlicher Bürger in einem Gebilde sein kann und zugleich auch gegenüber einem anderen staatlichen Gebilde. Letztlich kommt dieser Einheitsbegriff der Staatsbürgerschaft aus dem Gedanken des Nationalstaates, wie er sich in der Aufklärung entwickelt hat, und ich meine, von diesem einheitlichen Loyalitätsbegriff gegenüber nur einem Staat müssen wir uns verabschieden. Es gibt keine intrinsische Begründung dafür, weshalb man nur gegenüber einem politischen Gebilde diese Verpflichtung verspüren sollte.
Es stimmt natürlich, Loyalitäten können in Konflikt geraten im Falle des Krieges. Wenn ich doppelter Staatsbürger bin und diese Staaten in den Krieg treten, dann, so meine ich, muss man eine Entscheidung treffen. Aber soll man nur deswegen, weil diese Staaten in Krieg miteinander kommen könnten, die doppelte Staatsbürgerschaft aufgeben? Im Gegenteil. Doppelte Staatsbürgerschaften, doppelte Loyalitäten führen dazu, dass die Wahrscheinlichkeit des Krieges sinkt. Ich bin also durchaus dafür, dass man mit solchen doppelten Identitäten, mit solchen doppelten Loyalitäten die Wahrscheinlichkeit von Konflikten senkt. Konflikte können auftreten, sie müssen aber nicht auftreten.
Meyer: Und wenn wir uns dieses Konzept Weltbürgertum, Weltbürgerschaft noch mal von einer anderen Seite anschauen, von einer Seite, auf die Sie auch eingehen in Ihrem Buch, das es auf Deutsch gibt, "Der Kosmopolit": Die sittliche Frage, ja, wenn ich ein Bürger bin des Gemeinwesens Welt und Sie spielen die Frage durch, kann ich es mir eigentlich erlauben, zum Beispiel in New York in die Oper zu gehen und dafür viel Geld auszugeben, wenn mit diesem Geld doch anderswo, zum Beispiel in Afrika, ein Kinderleben gerettet werden könnte? Wie beantworten Sie diese Frage?
Appiah: Nun, Ihr Beispiel beruht ja auf einem sehr klar herausgearbeiteten Grundsatz, der immer wieder vorgebracht wird, nämlich dass es unsere Pflicht sei, den Wohlstand für alle Menschen in größtmöglicher Weise zu steigern - Wohlstandsmaximierung als umfassendes Ziel der Moral. Der Horizont, in dem wir hier argumentieren, ist eben die Menschheit insgesamt, deren Wohlstand und Wohlergehen wir insgesamt in größtmöglicher Weise fördern müssen.
Um von diesem Imperativ etwas wegzukommen, möchte ich doch mal den Rahmen infrage stellen, der hinter dieser Formulierung steckt, eben wonach Wohlstandsmaximierung das oberste Ziel unserer Bestrebungen sein sollte. Es gibt Philosophen, die das so vertreten haben, man nennt sie Utilitaristen, denn Utilitarismus vertritt genau diese Ansicht. Ich halte diese Ansicht für falsch, denn es gibt eben im Leben nicht nur einen Wert, ein oberstes Gebot, auf das man hinarbeiten sollte.
Es gibt verschiedene Werte, die kann man nicht gegeneinander ausspielen. Eine große Liebe besteht neben den vielen Freundschaften, die man pflegt. Man darf nicht die Werte alle zusammenfassen und dann sozusagen in eine Einheitswährung ummünzen, die da heißt: Wohlstandsmaximierung. Ich glaube eben, das kann nicht das oberste Ziel sein.
Was ist es aber stattdessen? Sie haben mir diese Frage vorgelegt. Leiste ich den von mir vernünftigerweise zu erwartenden, gerechten Beitrag dazu, damit alle Menschen den ihnen zustehenden Zugangsanspruch auf ihre Grundbedürfnisse haben? Das ist die Frage, und was das dann im Einzelnen ist, darüber muss man lange diskutieren. Wir sind jetzt sechs Milliarden oder eigentlich fast sieben Milliarden Menschen auf der Welt, und ich würde sagen, mein Anteil ist eben genau ein siebenmilliardstel Anteil an dieser großen Gesamtaufgabe, jedem Menschen nach meinen Kräften dazu zu verhelfen, dass sie Zugang zu den Chancen haben, die sie als Menschen eben haben.
Nun, ich weiß mindestens zwei Milliarden Menschen haben keinen gerechten Zugang zu diesen Chancen. Ich als einzelner Mensch kann dafür jetzt nicht die Verantwortung übernehmen, das übersteigt meine Kräfte. Und wenn Sie mich fragen, ist es noch zu rechtfertigen, in die Oper zu gehen, während anderswo die Kinder sterben, dann würde ich sagen: Ja, es ist durchaus ein vertretbarer Wert, in die Oper zu gehen, solange ich mich andererseits eben darum bemühe, meinen gemäßen Beitrag dafür zu leisten, dass diese allgemeinen Ansprüche für jeden ein Stück weit der Verwirklichung näher kommen.
Meyer: Und Herr Appiah, wenn wir uns das noch einmal auf einer politischen Ebene anschauen: Der amerikanische Präsident Barack Obama hat ja vor einiger Zeit eine Rede in Ägypten gehalten, eine Rede an die muslimische Welt, eine Botschaft, und er hat in dieser Botschaft gesagt, wir respektieren eure Werte, wir wollen in Respekt mit euch zusammenleben, auch als Markierung eines Unterschiedes zur Politik seines Amtsvorgängers. Ist denn diese Haltung von Barack Obama in Ihrem Sinne eine politisch kosmopolitische Haltung, eine weltbürgerliche Haltung in der Politik?
Appiah: Ja, ich glaube, dass diese Ansichten von Präsident Obama durchaus dem entsprechen, was ich als Weltbürgerschaft bezeichne. Dieser Dialog, von dem hier immer wieder gesprochen wird, zwischen verschiedenen Religionen, verschiedenen Weltanschauungen, der muss aber letztlich darum geführt werden, was das Rechte ist. Nicht alle Werte, die wir in einer anderen Kultur finden, können wir achten, hochschätzen oder akzeptieren. Ich schreibe gerade an den letzten Seiten eines neuen Buches, wo ich unter anderem das Thema "Ehrenmord" anspreche. Ich kann natürlich die Werte, die zum Ehrenmord führen, nicht hochschätzen, ich kann sie nicht einmal akzeptieren. Ich achte und ehre die Menschen, aber ich kann ihnen nicht zugestehen, dass die Werte, die zum Ehrenmord führen, die richtigen sind. Ich versuche sie zu überzeugen, dass diese Werte falsch sind.
Meyer: Kwame Anthony Appiah, heute wird er in Berlin den Hauptvortrag zum 20. Geburtstag des Hauses der Kulturen der Welt halten zu dem Thema, über das wir hier gesprochen haben: "Being Cosmopolitan - ein Weltbürger sein". Und wenn Sie sich seine Thesen genauer anschauen wollen, es gibt ein Buch, "Der Kosmopolit: Philosophie des Weltbürgertums" heißt es, erschienen im C. H. Beck Verlag. Bei uns Herr Appiah, vielen Dank für das Gespräch!
Appiah: Danke! Danke!