Doppeltes Trauma
Mit ihrem Buch "Das Drama des begabten Kindes" warb die Psychologin Alice Miller in den 1980er-Jahren dafür, kindliches Leiden zu erkennen und zu überwinden. Doch die Dramen ihrer eigenen Kindheit verschwieg sie ihr Leben lang. Ihr Sohn, Martin Miller, bricht nun dieses Schweigen - und findet dabei zu sich selbst.
Wir hatten Verwandte in Zürich, Ala, die Lieblingstante meiner Mutter, ihren Mann Bunio und ihre Tochter Irenka. In ihrer Wohnung gab es diese bereits erwähnten Gegenstände, die mich als Kind magisch anzogen. Sie standen auf der Anrichte: Holzfiguren, die orthodoxe jüdische Männer darstellten, und ein Chanukkaleuchter. Doch dass meine Verwandtschaft mütterlicherseits Juden waren und was das für meine Familie bedeutete – das war kein Thema im Hause Miller.
Martin Miller, so erfährt der Leser am Anfang seines Buchs, wusste zwar von den jüdischen Wurzeln seiner Mutter. Aber es blieb ein diffuses Wissen, das Alice Miller vor der Öffentlichkeit völlig zu verbergen versuchte: Weder ihre eigene Homepage noch die ihres Verlages geben Aufschluss über ihre Kindheit und ihr Überleben im Krieg. Warum?
Martin Miller: "Einerseits hat die Mutter mir das, aus welchen Gründen auch immer, verwehrt, sie wollte nicht, dass ich da teilnehme. Sie hat mir zwar offiziell immer gesagt: ‚Ich will nicht, weil ich Angst habe, dass wir wieder abgeholt werden.‘ Aber ich denke auch, wenn sie mich miteinbezogen hätte, hätte sie ja auch vieles von ihrem Trauma aufarbeiten müssen, und das war nicht drin."
Zwei geradezu typische Schicksale schildert der Sohn in seinem Buch: Das einer schwer traumatisierten Überlebenden der Shoah und das eines Angehörigen der Second Generation, der dieses Trauma unbewusst weiterträgt und daran beinahe zerbricht. Im Buch schreibt er:
Heute bin ich davon überzeugt, dass die Unfähigkeit Alice Millers, für mich eine liebevolle Mutter zu sein, in dem fest abgekapselten Trauma der Verfolgungsjahre von 1939 bis 1945 begründet liegt.
Jahrelang leidet der Sohn an der unausgeglichenen Beziehung zur Mutter, die sich zwischen Abweisung und erdrückender Nähe bewegt. Miller entwickelt eine schwere Essstörung und beschreibt im Buch, wie er im Konflikt mit der Mutter im bereits fortgeschrittenen Erwachsenenalter an den Rand des Suizids gerät. Besonders tragisch: Obwohl er selbst Therapeut ist und die Problematik der Zweiten Generation seit den 80er-Jahren Eingang in den psychotherapeutischen Diskurs gefunden hat, findet er nicht den Schlüssel zu seinem Leiden.
Miller: "Es ist sehr schwer, Außenstehenden klar zu machen, dass solche Schweigemuster eine unwahrscheinliche Kraft haben, eine unwahrscheinlich unterdrückende Energie darstellen....Erst wenn man das wirklich verstanden hat, dann hat man verstanden, was psychisches Leiden bedeutet."
Martin Miller, so erfährt der Leser am Anfang seines Buchs, wusste zwar von den jüdischen Wurzeln seiner Mutter. Aber es blieb ein diffuses Wissen, das Alice Miller vor der Öffentlichkeit völlig zu verbergen versuchte: Weder ihre eigene Homepage noch die ihres Verlages geben Aufschluss über ihre Kindheit und ihr Überleben im Krieg. Warum?
Martin Miller: "Einerseits hat die Mutter mir das, aus welchen Gründen auch immer, verwehrt, sie wollte nicht, dass ich da teilnehme. Sie hat mir zwar offiziell immer gesagt: ‚Ich will nicht, weil ich Angst habe, dass wir wieder abgeholt werden.‘ Aber ich denke auch, wenn sie mich miteinbezogen hätte, hätte sie ja auch vieles von ihrem Trauma aufarbeiten müssen, und das war nicht drin."
Zwei geradezu typische Schicksale schildert der Sohn in seinem Buch: Das einer schwer traumatisierten Überlebenden der Shoah und das eines Angehörigen der Second Generation, der dieses Trauma unbewusst weiterträgt und daran beinahe zerbricht. Im Buch schreibt er:
Heute bin ich davon überzeugt, dass die Unfähigkeit Alice Millers, für mich eine liebevolle Mutter zu sein, in dem fest abgekapselten Trauma der Verfolgungsjahre von 1939 bis 1945 begründet liegt.
Jahrelang leidet der Sohn an der unausgeglichenen Beziehung zur Mutter, die sich zwischen Abweisung und erdrückender Nähe bewegt. Miller entwickelt eine schwere Essstörung und beschreibt im Buch, wie er im Konflikt mit der Mutter im bereits fortgeschrittenen Erwachsenenalter an den Rand des Suizids gerät. Besonders tragisch: Obwohl er selbst Therapeut ist und die Problematik der Zweiten Generation seit den 80er-Jahren Eingang in den psychotherapeutischen Diskurs gefunden hat, findet er nicht den Schlüssel zu seinem Leiden.
Miller: "Es ist sehr schwer, Außenstehenden klar zu machen, dass solche Schweigemuster eine unwahrscheinliche Kraft haben, eine unwahrscheinlich unterdrückende Energie darstellen....Erst wenn man das wirklich verstanden hat, dann hat man verstanden, was psychisches Leiden bedeutet."
"Im letzten Moment eine Beziehung zum Judentum gefunden"
Erst nach dem Tod Alice Millers im April 2010 beginnt er, - übrigens ganz im Sinne ihres theoretischen Ansatzes – ihrer beider Leben zu erforschen. Mit Hilfe der Erzählungen von Verwandten erschließt er sich die Kindheitswelt der jungen Alicija Englard: Ihre Rebellion gegen die strenge und von ihr als scheinheilig empfundenen Regeln und Gesetze der jüdischen Orthodoxie. Miller recherchiert das Überleben seiner Mutter 1939 bis 1945 im Warschauer Untergrund – unter neuem Namen, stets verfolgt von einem Nazi-Spitzel und in anhaltender Todesgefahr. Durch diese Arbeit, sagt Miller, hat er sich eine eigene Identität erschrieben:
Miller: "Was für mich eigentlich der größte Gewinn ist, dass ich eigentlich endlich sagen kann: ‚Ich gehöre dazu.‘ Also, indem ich diese zerstörte Welt meiner Mutter wiederentdecken konnte, im letzten Moment, habe ich zum Judentum eine emotionale Beziehung bekommen. Ich bin zum ersten Mal stolz auf das, woher ich komme."
Miller, der katholisch erzogen wurde und als Jugendlicher sogar ein katholisches Internat besuchte, genießt das Interesse der jüdischen Gemeinschaft, die ihm bislang den Zugang verwehrte. Etwa als er vor 25 Jahren versuchte, der israelitischen Kultusgemeinde in Zürich beizutreten.
"Das war für mich ein Horror-Erlebnis. Der Typ, das war irgendso ein Wiener Rabbi, ein furchtbar unsympathischer, blöder Kerl, der hat überhaupt nicht verstanden, was los ist. Also ich kann das nur interpretieren als eine furchtbare Abwehr. Der wollte mit der ganzen Problematik gar nichts zu tun haben. Holocaust und das alles hat den überhaupt nicht interessiert. Und ich habe gesagt: ‚Ich möchte daran Anteil haben und meine Tante kommt mit, um zu bezeugen, dass ich eigentlich jüdisch bin.‘ Da sagt er: ‚Das funktioniert so nicht, sind Sie beschnitten, Herr Miller?‘"
Noch heute ist zu spüren, wie sehr ihn diese Ablehnung gekränkt hat. Mit einer solchen Erfahrung sieht er sich nicht als Einzelfall und warnt.
"Es ist gar nicht im Interesse des jüdischen Volkes, wenn wir uns nicht überlegen: Wie kann man diese Leute wieder integrieren?"
Mag sein, sagt Miller, dass er als Sohn einer Überlebenden, die zudem den eigenen Wurzeln ablehnend gegenüberstand, nicht in der jüdischen Tradition aufgewachsen sei. Aber seine Identität sei ja durch das jüdische Schicksal entscheidend geprägt:
"Also, meine Identität ist, dass ich eine Schlauheit und eine geistige Beweglichkeit entwickelt habe, aus der Überlebensgeschichte der Juden. Ich wusste, irgendwie muss ich eine Geschichte in mir haben, auch wenn meine Mutter überlebt hat und mit allen Begleiterscheinungen. Letzten Endes hat sie mir eine Überlebensstrategie vermittelt, indem sie sagte, du musst deinen Verstand, deine Intelligenz, deine Psychologie, deine Chuzpe entwickeln, um zu überleben. Und das hat mir irgendwie Kraft gegeben. Wenn ich jetzt das Buch so sehe, sage ich, das ist ein schriftliches Zeugnis, das ist für mich so ein Feedback: Du hast es geschafft."
Rein äußerlich, sagt Miller, habe sich für ihn nicht viel verändert. Religiös oder fromm könne er mit seinen 63 Jahren nicht mehr werden. Aber emotional sei er nun endlich nach Hause gekommen.
Miller: "Was für mich eigentlich der größte Gewinn ist, dass ich eigentlich endlich sagen kann: ‚Ich gehöre dazu.‘ Also, indem ich diese zerstörte Welt meiner Mutter wiederentdecken konnte, im letzten Moment, habe ich zum Judentum eine emotionale Beziehung bekommen. Ich bin zum ersten Mal stolz auf das, woher ich komme."
Miller, der katholisch erzogen wurde und als Jugendlicher sogar ein katholisches Internat besuchte, genießt das Interesse der jüdischen Gemeinschaft, die ihm bislang den Zugang verwehrte. Etwa als er vor 25 Jahren versuchte, der israelitischen Kultusgemeinde in Zürich beizutreten.
"Das war für mich ein Horror-Erlebnis. Der Typ, das war irgendso ein Wiener Rabbi, ein furchtbar unsympathischer, blöder Kerl, der hat überhaupt nicht verstanden, was los ist. Also ich kann das nur interpretieren als eine furchtbare Abwehr. Der wollte mit der ganzen Problematik gar nichts zu tun haben. Holocaust und das alles hat den überhaupt nicht interessiert. Und ich habe gesagt: ‚Ich möchte daran Anteil haben und meine Tante kommt mit, um zu bezeugen, dass ich eigentlich jüdisch bin.‘ Da sagt er: ‚Das funktioniert so nicht, sind Sie beschnitten, Herr Miller?‘"
Noch heute ist zu spüren, wie sehr ihn diese Ablehnung gekränkt hat. Mit einer solchen Erfahrung sieht er sich nicht als Einzelfall und warnt.
"Es ist gar nicht im Interesse des jüdischen Volkes, wenn wir uns nicht überlegen: Wie kann man diese Leute wieder integrieren?"
Mag sein, sagt Miller, dass er als Sohn einer Überlebenden, die zudem den eigenen Wurzeln ablehnend gegenüberstand, nicht in der jüdischen Tradition aufgewachsen sei. Aber seine Identität sei ja durch das jüdische Schicksal entscheidend geprägt:
"Also, meine Identität ist, dass ich eine Schlauheit und eine geistige Beweglichkeit entwickelt habe, aus der Überlebensgeschichte der Juden. Ich wusste, irgendwie muss ich eine Geschichte in mir haben, auch wenn meine Mutter überlebt hat und mit allen Begleiterscheinungen. Letzten Endes hat sie mir eine Überlebensstrategie vermittelt, indem sie sagte, du musst deinen Verstand, deine Intelligenz, deine Psychologie, deine Chuzpe entwickeln, um zu überleben. Und das hat mir irgendwie Kraft gegeben. Wenn ich jetzt das Buch so sehe, sage ich, das ist ein schriftliches Zeugnis, das ist für mich so ein Feedback: Du hast es geschafft."
Rein äußerlich, sagt Miller, habe sich für ihn nicht viel verändert. Religiös oder fromm könne er mit seinen 63 Jahren nicht mehr werden. Aber emotional sei er nun endlich nach Hause gekommen.
Martin Miller: Das wahre 'Drama des begabten Kindes'
Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken
Kreuz Verlag, Freiburg 2013
176 Seiten, 17,99 Euro
Die Tragödie Alice Millers – wie verdrängte Kriegstraumata in der Familie wirken
Kreuz Verlag, Freiburg 2013
176 Seiten, 17,99 Euro