Dorota Masłowska: "Bowie in Warschau"
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Wodka, Tinte und Tränen
05:52 Minuten
Dorota Masłowska
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Bowie in WarschauRowohlt Berlin, Berlin 2022125 Seiten
22,00 Euro
Die polnische Autorin Dorota Masłowska hat mit "Bowie in Warschau" einen gleichermaßen realistischen wie surrealistischen Roman geschrieben. Poitenreich, blasphemisch und deftig!
Seine schmale Silhouette zieht alle Energien auf sich, er tanzt und tänzelt durch den Roman wie der große Attraktor. Tatsächlich war David Bowie im Mai 1973 auf der Rückfahrt von Moskau nach Berlin kurz in Warschau. Dorota Masłowska macht sich das auf wundersame Weise zunutze. Das muss man können. Die Suggestivkraft der Figur, die Kraft auch des tragisch-elegischen, von tiefen Bässen durchpulsten Songs „Warszawa“, den Bowie in Zusammenarbeit mit Brian Eno in seinen Berliner Jahren kreierte und 1977 auf „Low“, seinem elften Studioalbum, veröffentlichte, ist das Herzstück des Romans.
Ein Roman mit Wumms
Die kleine Rahmenerzählung um Bowie – und das Phantasma seiner Erscheinung, die als Verkörperung von Wunsch- und Hassprojektionen durch den Text spukt – ist der Kunstgriff, der es ermöglicht, überhaupt von einem Roman zu sprechen. Denn eigentlich handelt es sich bei „Bowie in Warschau“ um ein Theaterstück mit krassen, prallen, knappen Dialogen und eindrücklichen Szenen. Es ist eine Art „Warten auf Godot“ in der polnischen Variante des „Atomzeitalters“, wie die siebziger Jahre einmal apostrophiert werden.
Die 1983 geborene und heute in Warschau lebende Dorota Masłowska unterlegt den Roman mit einem weiblichen Sehnsuchts-Tremolo, das zuweilen an Tschechow erinnert, aber auch kein Klischee scheut, wenn es der Sache dient. Die Sache dieser Schriftstellerin ist die Überzeichnung. Sie liebt es, mit Wumms aufs Pedal zu drücken, seit ihrem Erstling "Schneeweiß und Russenrot", bis hin zu ihrem letzten Roman "Andere Leute". Ihre Prosa ist rhythmisch, blasphemisch, deftig. Ohne die Polen-Klischees ängstlich abzumildern, bringt Olaf Kühl sie in ein Deutsch, das die Überzeichnung als virtuoses Stilmittel der Selbstdemontage inszeniert.
Seelenschmerz im Tagebuch
Der Wodka und die Tinte, die Tränen und die Vorwürfe fließen in Strömen. Masłowskas Sprachlust nimmt sie auf wie der bunt verfilzte Wischlappen der immerzu putzenden Frau Nastka, einer fast mythischen Verkörperung des Typus „erschöpfte Frau“. Sie ist neben der ebenso schönen wie trägen Regina und deren Mutter eine der Hauptfiguren des Romans. Fast hätte sich Regina in die Weichsel gestürzt, doch der Polizist Wojciech Kretek rettet sie. Er ist einem „Damenwürger“ auf der Spur. Nachts ergießt er seinen Seelenschmerz in ein Tagebuch, während seine Frau schnarchend neben ihm liegt.
Heruntergekommene Wohnungen, vollgestellte Treppenhäuser, viel zu viele Funktionen auf zu engem Raum werden ebenso beschrieben wie aufstrebende Neubauviertel und die in der Erinnerung immer herrschaftlicher werdenden Räume, die Reginas Mutter einst mir ihrer Schwester und den Eltern bewohnte, bevor die Deutschen Warschau zerstörten.
Projizierte Hoffnungen
Ein kleines Nachtkästchen wird zum Zankapfel der Schwestern, ein längst schäbig gewordenes Utensil, auf das sie ihre Hoffnungen projizieren. Wenn es um ihre beiden Töchter geht, liefern sie sich einen Überbietungswettbewerb verpasster Chancen. Regina fängt schließlich einen Hilfsjob in jener Buchhandlung an, in der Bowie die Schallplatten mit polnischer Volksmusik gekauft haben soll, die später zum Material von „Warszawa“ wurden. Wenn ihm langweilig ist, daddelt er auf einem Taschenrechner als cooler, neuer Erfindung und rechnet die Raumzeit in andere Dimensionen um.
„Bowie in Warschau“ ist ein gleichermaßen realistisches wie surrealistisches Stück Literatur, pointenreich wie der Taschenrechner als Vorschein der kommenden Smartphone-Ära.