Thea Sternheim

"Ein ganz außergewöhnliches Frauenleben"

18:00 Minuten
Das Cover der Biografie von Dorothea Zwirner über Thea Sternheim auf orange-weißem Grund. Auf dem Cover ist ein Porträitfoto eine Frau mit recht kurzen, schwarzen Haaren zu sehen. Sie trägt leger eine helle Bluse.
Geboren im Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg -Thea Sternheim hat viel erlebt und darüber in ihren Tagebüchern geschrieben. Eine "Chronistin der Moderne", so Dorothea Zwirner. © Deutschlandradio / Wallstein
Dorothea Zwirner im Gespräch mit Shelly Kupferberg |
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Thea Sternheim war Schriftstellerin, Kunstsammlerin, Fotografin und schrieb sechs Jahrzehnte Tagebuch. Daraus entstanden ist nun ihre Biografie. Sternheim habe alle wichtigen Fragen ihrer Zeit reflektiert, sagt die Kunsthistorikerin Dorothea Zwirner.
Shelly Kupferberg: Thea Sternheim übergab der Nachwelt eine umfangreiche Chronik des 20. Jahrhunderts. „Thea Sternheim – Chronistin der Moderne“, so heißt die Biografie, die die Kunsthistorikerin Dorothea Zwirner nun vorgelegt hat.
Thea Sternheim lebte von 1883 bis 1971 und kurz vor ihrem Tod hat sie ihre vielen Tausende von Seiten Tagebuchaufzeichnungen dem Literaturarchiv Marbach übergeben. Was machen diese Tagebücher von Thea Sternheim für die Nachwelt so interessant?
Dorothea Zwirner: Zunächst ist es natürlich der ungeheure Umfang und die ungeheure Kontinuität: Über sechs Jahrzehnte auf 34.000 eng beschriebenen Seiten entfaltet sich da ein ganz außergewöhnliches und exzeptionelles Frauenleben. Aber nicht nur das, sondern eben auch ein Panorama der Zeit, das sowohl die kulturelle Güte als auch die politischen Katastrophen umfasst.

Intime Einblicke in die Sehnsüchte einer Frau

Und vor diesem Hintergrund ihres wirklich dramatischen Lebensschicksals wird sie eben zur Chronistin der Moderne, so nenne ich mein Buch auch, insofern sie all die wichtigen Fragen ihrer Zeit darin reflektiert, als da wären etwa die Rolle der modernen Frau in Familie und Gesellschaft, ihre Reflexionen über bildende Kunst und Literatur, über Film und Theater, aber auch die großen politischen Strömungen, den Pazifismus, den Kommunismus, den Antifaschismus. Sie reflektiert über Judentum, über Religionen, auch über Europa – all das ist noch heute von einer so großen Aktualität, dass es sich einfach immer wieder lohnt, zu lesen.
Man könnte vielleicht sagen, es ist so etwas wie das weibliche Pendant zu Harry Graf Kessler – mit dem Unterschied, dass ihr Tagebuch ja nicht zur Veröffentlichung bestimmt war und insofern nicht nur eine unerschöpfliche Quelle und Fundgrube ist, sondern darüber hinaus wirklich intime Einblicke in die Ambitionen, in die Zweifel, in die Sehnsüchte einer Frau ihrer Zeit gibt auf der Suche nach ihrer eigenen geschlechtsspezifischen Rolle.
Kupferberg: Thea Sternheim war aktiver Teil am Aufbruch der Moderne, das schreiben Sie in Ihrem Buch. Was machte sie denn selbst so unerschrocken, so neugierig, so leidenschaftlich, so modern? Sie kam ja aus einem sehr konservativen, großbürgerlichen, katholischen Elternhaus, in dem gesellschaftliche Konventionen eine sehr große Rolle spielten. Das alles war ihr aber offenbar zu eng. Wer oder was bewegte also in ihr den Willen, etwas anders zu leben?
Zwirner: Sie sprechen das Elternhaus zurecht an, so konservativ es war, so eröffnete es ihr aber doch von Anfang an Zugang zu kulturellen Dingen. Das heißt, dort hatte sie natürlich erste Theatereindrücke und Bildungserlebnisse. Sie war von Anfang an ein ausgesprochen musisches, ein neugieriges, ein auch sehr begabtes, fleißiges und rebellisches Mädchen, für die es eigentlich nichts Größeres gab als den schöpferischen Menschen.
Schon als junges Mädchen schrieb sie einen Brief an Maurice Maeterlinck, den führenden symbolistischen Schriftsteller. Sie schrieb an Rodin, sie bekam auch Post zurück, das heißt, sie suchte die unmittelbare Nähe zum Künstler. So lässt sich sicherlich auch – teilweise zumindest – ihr Verhältnis zu Carl Sternheim erklären, mit dem sie ja eine Affäre begann, als sie früh verheiratet in erster Ehe war. Und in Carl Sternheim bewunderte sie eben den aufstrebenden Schriftsteller, der dann ja mit seinen bissigen Satiren auf die wilhelminische Gesellschaft zu einem der führenden Dramatiker der 10er- und 20er-Jahre wurde.

Die Ehe mit Carl Sternheim

Mit ihm baute sie dann das schlossähnliche Anwesen "Bellemaison" bei München auf. Dort verkehrte sie eben mit der kulturellen und geistigen Elite, mit der Avantgarde ihrer Zeit, dort baute sie ihre fantastische Sammlung auf, die ja unter anderem zwölf van-Gogh-Bilder umfasste und damit die größte van-Gogh-Sammlung ihrer Zeit war. Also, sie war umgeben und beraten von den führenden Menschen aus der Kunst, ich nenne nur Hugo von Tschudi, der große Museumsmann aus Berlin und München, den großen Kunsthistorikern Meier-Graefe und Carl Einstein, den großen Kunsthändlern Alfred Flechtheim und Paul Cassirer, alles Menschen, die ja für einen progressiven Kunstgeschmack stehen – im Gegensatz zu der national-konservativen Ausrichtung des Kaisertums.
Kupferberg: Sie haben gerade schon von dem Schriftsteller, Dramatiker und Dichter Carl Sternheim berichtet, von 1907 bis 1927 ging diese Ehe, keine einfache Beziehung war das. Obwohl Carl Sternheim die Moralvorstellungen des Bürgertums der wilhelminischen Zeit gerne angriff, war er selbst doch auch keiner, der eine emanzipierte, selbstbewusste Frau neben sich haben konnte in letzter Konsequenz, denn er verlangte anderes von seiner Frau, Thea Sternheim. Sie sollte sich sozusagen einfügen in die Ehe, hat er aber ihr künstlerisches, ihr intellektuelles Potenzial zumindest gesehen, wahrgenommen, ernst genommen?
Zwirner: Ja, das muss man sagen, das hat er schon, aber eben im klassischen Sinne mehr als Muse, als Erstleserin, als Zu- und Mitarbeiterin seines Werks. Wenn man bedenkt, die unendlichen Kopien, die sie angefertigt hat, abgetippt hat, seine Manuskripte korrigiert und abgetippt hat und natürlich auch mit ihm darüber gesprochen hat, dann, glaube ich, kann man ihren Einfluss, ihre Rolle an seinem Werk gar nicht genug betonen.
Immerhin hat er auch die einzige Erzählung, die sie geschrieben hat, mit dem Titel „Anna“ so sehr geschätzt, dass er sie aufgenommen hat in einem Erzählband, den er publiziert hat, dann allerdings unter seinem Namen. Das war wahrscheinlich anders gar nicht denkbar. Und man muss sagen, sie hat ihm auch ihren daraus dann weiterentwickelten Roman mit dem Titel „Sackgassen“ noch lange Jahre nach der Scheidung zugesandt im Manuskript mit der Bitte, ihn zu redigieren, ihn zu kommentieren. Und es war eine große Genugtuung für sie, dass er das mit großer Sorgfalt getan hat und sie darin auch sehr bestärkt und belobigt hat.
Kupferberg: Es war auch deswegen keine einfache Ehe, weil Carl Sternheim sie regelmäßig betrogen hat, auch die gemeinsamen Kinder bereiteten Thea Sternheim immer wieder große Sorgen. Sie war diejenige, die das Vermögen in die Ehe brachte, Sie haben schon von dem schlossartigen Anwesen gesprochen, das übrigens Thea Sternheim selbst mitentworfen hat, wie ich lesen konnte.

Ein großer autobiografischer Entwicklungsroman

Thea Sternheim hat auch selbst geschrieben, Sie haben es ja gerade schon gesagt, nicht nur Tagebuch, sondern darunter auch diesen Roman, 1952 ist er erschienen, „Sackgassen“. Um was geht es denn da, ist der Titel bezeichnend?
Zwirner: Absolut! Das ist ein großer autobiografisch angelegter Entwicklungsroman, der in den Jahren zwischen 1910 und 1920 in den Metropolen Brüssel und Paris spielt, also wichtigen Lebensstationen von Thea Sternheim. Und in diesem Umfeld spielen sie sich alle ab, die großen Themen ihres Lebens. Da ist sozusagen die große innere Zerrissenheit zwischen der leidenschaftlichen Liebe, die sie eben für Carl Sternheim empfunden hat, und die sie ja ihre erste Ehe und ihre beiden Kinder sogar zurückgelassen hat, da ist aber auch diese ungeheure Anpassungsfähigkeit an diesen chronisch untreuen und wirklich geradezu krankhaft egozentrischen Mann.
Und da ist aber auch so eine scharfsinnige Lebensfreude, dieser Lebenshunger. Und diese höchst unterschiedlichen Eigenschaften werden in dem Roman verteilt auf drei Frauenfiguren, auf Anna, das ist sozusagen ihr Alter Ego, und dann die beiden Freundinnen Nadja und Marie.
Weitere Themen sind die Liebe zur Literatur, allen voran zu Flaubert, die eben Anna, die Hauptheldin, verbindet mit einem Antiquar, mit dem sie dann bald auch in unglücklicher Ehe verheiratet ist. Da ist der Hang von Anna zur Religion und zur mittelalterlichen Mystik, der sie verbindet mit dem Gelehrten Durtain. Und da ist auch diese pazifistische Grundhaltung Annas, die eingebettet ist in einen allgemeinen Geschlechterkonflikt, in dem die Frau den lebensspendenden und lebenserhaltenden Part übernimmt, während der Mann als Krieger gewissermaßen das lebenszerstörende und -verhindernde Element ist. Ja, all diese Motive fließen zusammen in den jeweiligen Sackgassen vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges, Sackgassen in Form von Einsamkeit, in Form von Enttäuschung und letzten Endes von Tod.

Thea Sternheim und ihre Kunstsammlung

Kupferberg: Da steckt also viel drin, zeigt die Vielseitigkeit dieser scharfen Denkerin, Thea Sternheim. Kommen wir noch mal zu der Kunstsammlerin Sternheim, Picasso, Matisse, Renoir, van Gogh – Werke dieser Künstler befanden sich in ihrer Sammlung. Sie haben schon berichtet, mit wem sie alles verkehrte, mit wem sie alles in Kontakt stand, also wirklich das "Who Is Who" der damaligen Moderne, muss man sagen. Was passierte denn mit ihrer Sammlung?
Zwirner: Ja, die Sammlung wird dann nach der Scheidung 1927 Stück für Stück verkauft und erweist sich damit im Grunde als wertbeständige, mobile Vermögensanlage, die sie durch alle Krisen ihres Lebens begleitet und dann buchstäblich am Leben erhalten hat.
Ich will mal einige Beispiele nennen. 1929, also im Jahr der Weltwirtschaftskrise, verkauft Thea eines ihrer bedeutenden van-Gogh-Bilder, „Das Liebespaar im Dichtergarten“, über Flechtheim an die Berliner Nationalgalerie für 100.000 Mark und akzeptiert eine Anzahlung von 20.000 Mark und eine langjährige Abzahlungsrate, die dann natürlich prompt 1933 eingestellt wird.
1937 wird das Bild dann als entartet beschlagnahmt und ein Jahr später von Göring für den Kauf annektiert. Von dem Bild fehlt bis heute jede Spur, und bei den Wiedergutmachungsbemühungen von Thea Sternheim in jahrelangen Prozessen kommt als eine schäbige Entschädigungssumme von wenig mehr als 1.600 Mark, also wirklich jämmerlich.
Das geht dann so weiter, in der Zeit der Pariser Besatzung herrscht natürlich auch an allem Mangel, schweren Herzens muss sich Thea Sternheim von ihrem geliebten Stillleben von Matisse trennen, sie verkauft das über Louise Leiris, die eben die Galerie Kahnweiler weiterführt. Und sie stellt dann ein Jahr zu ihrer großen Freude und Überraschung fest, dass das Bild bei keinem geringeren als bei Pablo Picasso gelandet ist, der sie einlädt, ihr Bild, ihr Stillleben bei ihm im Atelier zu besichtigen, was sie auch tut. Und dieses Bild bleibt zeitlebens bei Picasso und befindet sich heute im Musée Picasso in Paris.
Und vielleicht noch ein drittes Beispiel, auch in der Nachkriegszeit ist Thea Sternheims wirtschaftliche Lage so desolat, dass sie sich schließlich auch von ihrem Picasso trennt, ein Picasso der Blauen Periode, das eine Mutter darstellt, die ihrem heraneilenden Kind einen dampfenden Teller Suppe reicht, also wirklich ein Inbegriff von Armut und Hunger, das dann zu ihrer buchstäblichen Nahrungsgrundlage wird.

Dorothea Zwirner: "Thea Sternheim - Chronistin der Moderne"
Wallstein Verlag, 2021
413 Seiten, 28 Euro

Kupferberg: Ihren Lebensabend hat sie dann verarmt bei ihrer Tochter aus erster Ehe in der Schweiz verbracht. Nun haben Sie Thea Sternheims Tagebücher als Grundlage für Ihre Biografie herangezogen, aber auch noch ganz andere Texte. Tausende, Abertausende von Seiten, das klingt nach einer unglaublichen, komplexen Recherche, welche Punkte haben Sie dabei besonders interessiert, mit welchen Fragestellungen sind Sie an diese Person, an diesen Menschen Thea Sternheim selbst herangetreten?
Zwirner: Ich glaube, mich hat vor allen Dingen die Frage geleitet, was hat ihr diese unglaubliche Kraft und Disziplin gegeben, sich all diesen Schicksalsschlägen ihres Lebens immer wieder mit so viel Haltung und Würde entgegenzustellen? Und da kommt einem natürlich zunächst mal der Glaube in den Sinn, um den sie zeitlebens unglaublich gerungen hat, ihr aber immer Halt und Orientierung gegeben hat.
Kupferberg: Der Katholizismus in diesem Fall?
Zwirner: Der Katholizismus, aber in einem sehr unorthodoxen, kirchenfernen Sinne. Das spielt insofern gar keine so große Rolle, aber vielleicht insofern auch, dass sie den Begriff Schutzheilige, also die Heiligen spielen eine große Rolle, aber eben in diesem unorthodoxen Sinne, insofern sie damit nicht nur die traditionellen Heiligen meint, sondern zum Beispiel auch die Künstler und Schriftsteller, die sie immer wieder als ihre Nothelfer und Schutzheiligen im Leben bezeichnet.
Und da ist natürlich schlussendlich ihr Tagebuch, dass ihr der Rückzugsort und das Medium war, in dem sie eben permanent reflektieren konnte sich ihrer selbst versichern konnte. Und all das zusammen genommen macht diese Person für mich aus.

Ein orgineller, unabhäniger Ton

Kupferberg: Geboren im Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, das Aufkommen der Nazis hat sie schon früh gesehen und für sich Konsequenzen gezogen, Weimarer Republik, Adenauer-Deutschland – in welchem Ton hat Thea Sternheim ihre Tagebücher geschrieben? Was macht also ihre Sprache, ihr Denken aus?
Zwirner: Da ist einerseits dieser hohe Ton, auch pathetische Ton der Zeit, insbesondere in den religiösen Passagen, der uns heute sehr, sehr fremd ist. Da ist aber auf der anderen Seite auch ein sehr origineller, unkonventioneller, unabhängiger Ton, insbesondere dann, wenn es um die Beschreibung ihrer Zeitgenossen, Mitmenschen, um die Beurteilung und Bewertung von Kunst und Literatur geht, der eben heute noch immer unglaublich fasziniert. Da ist also einerseits eine Freigeistigkeit und Unabhängigkeit und andererseits eine tief moralische, christlich geprägte Grundhaltung. Diese Mischung ist es, die mich so unheimlich fasziniert an ihr.
Kupferberg: Der Nachwelt hinterlassen hat sie auch eigene Fotografien, sie hat sehr gut fotografiert und unglaublich viele Persönlichkeiten. Gibt es Bilder, die im öffentlichen Bewusstsein möglicherweise auch heute noch bekannt sind?
Zwirner: Ja, ich habe schon Alfred Flechtheim genannt, jeder kennt das, das ist immer wieder das von ihr fotografierte Bild, was von ihr reproduziert wird. Auch das Porträtfoto von Hugo von Tschudi ist sehr, sehr bekannt, von Annette Kolb, wie sie im Garten sitzt und Zigarette raucht, aber auch als ganz alte Frau. Das sind alles wirklich Meisterwerke der Porträtfotografie ihrer Zeit. Aber auch die persönlichen Fotos, insbesondere von Mopsa, die ja auch eine ganz schillernde Figur ist, ihrer Tochter mit Sternheim, die repräsentieren die moderne Frau ihrer Zeit.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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