Statt Almosen geben lieber Krieg führen?
Das "Zentrum für politische Schönheit" plädiert in "2099" am Dortmunder Schauspiel für radikale Lösungen in der Flüchtlingspolitik. Kleiderspenden sind den Schauspielern zu wenig. An ihren Vorschlägen kann man sich reiben - und soll es auch.
Kein Jaguarbaby wurde getötet. Die Aktionskünstler des "Zentrums für politische Schönheit" haben auch keine Zwergaffen entführt. Die Ankündigungen vor der Premiere des Stücks "2099" im Dortmunder Schauspiel waren nur ein Spiel mit den Medien. Ziel war es, den Zynismus aufzuzeigen, dass der bestialische Mord an vielen Syrern hingekommen wird, während Gewalt an Tieren für viele unerträglich zu sein scheint. Der Bluff ist gelungen, das Fernsehen hat berichtet, einige Menschen wollten das Jaguarbaby adoptieren und mit ihrem Leben verteidigen. "Wenn die Syrer Wale wären", schreibt das Zentrum, sähe ihr Schicksal wohl anders aus.
Zeitreisende berichten von fünf Holocausts
Die Philosophen und Aktivisten wählen krasse Methoden, um Aufmerksamkeit zu erzielen. Auch ihr Stück "2099" - die erste Begegnung des Zentrums mit dem Stadttheater und laut eigener Aussage auch vorerst die letzte - verstört. Weil es eine radikale Utopie formuliert. Vier Zeitreisende landen aus der Zukunft auf der Bühne des Dortmunder Schauspiels. Sie wissen, was im 21. Jahrhundert geschehen wird, mindestens fünf Völkermorde, sie sprechen von "Holocausts". Sie geben uns, die Möglichkeit die Verbrechen zu verhindern.
Der Abend ist offen und kommunikativ, hat manchmal Züge eines Happenings. Da wird eine ältere Dame aus dem Publikum aus der zweiten Reihe auf die Bühne gewuchtet und mit einem Eid auf den Humanismus eingeschworen. Die - in Dortmund besonders große - Hilfsbereitschaft für die Flüchtlinge findet keine Gnade vor den Besuchern aus der Zukunft. Sie werfen Kleidung ins Publikum, behaupten, das seien Klamotten aus den Säcken, die am Hauptbahnhof abgegeben wurden. "Nehmt eure Almosen zurück!" rufen sie. Das verunsichert viele Besucher, die glauben, etwas Gutes getan zu haben. Das reicht aber nicht, lautet die Botschaft des Abends. Jeder muss mit der Waffe in der Hand dafür kämpfen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. "Nur der Sieg zählt", sagen die Performer.
"2099" ist ein 'work in progress'
Die Radikalität birgt natürlich Probleme. Wer soll die Kriege im Sinne des Humanismus führen, ohne eigene Interessen hineinzumischen? Und würde man unsere eurozentristische Weltsicht, die westlichen Werte dann nicht absolut setzen und überall auf der Welt den Menschen aufzwingen? "Frag mal die Syrer, was sie dazu meinen", antwortet Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit auf diese Frage nach der Vorstellung.
Auf die Drehbühne werden Bilder von zerschundenen Leichen projiziert. Die vier energiegeladenen Schauspieler (Björn Gabriel, Christoph Jöde, Bernd Kuschmann und Uwe Schmieder) rennen in Gegenrichtung, brüllen ihre Zweifel ins Publikum, nehmen wechselnde Standpunkte ein, kommen zu Erkenntnissen. "2099" ist keine dieser Theateraufführungen, die sich damit begnügt, Fragen zu stellen. Hier werden Antworten gegeben, an denen man sich reiben kann. Die Forderung, edel und humanistisch zu handeln, ist das, was mit "politischer Schönheit" gemeint ist. Ein Begriff, der man aus antiken Geschichtschreibungen kennt und heute fast vergessen hat.
Die Aufführung wird sich von Abend zu Abend verändern. "2099" ist ein 'work in progress', ein Wagnis, eine kraftvolle Reaktion auf die Verbrechen der Gegenwart und unsere hilflosen Reaktionen darauf.