"Ich glaube, die intellektuelle Szene in Kiew ist stark genug, dass sie sich auch, wenn ihr eine Institution weggenommen wird, sich weiterhin gut organisieren kann. Das ist ein Land, in dem im Moment wahnsinnig viel passiert, zum Teil auch in Verbindung mit anderen Städten. Grad zwischen Berlin und Kiew ist eine ganze Menge los."
Demokratie-Labor in Gefahr
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Seit fast 30 Jahren ist das Dovzhenko-Center in Kiew ein bedeutender Kulturort. Jetzt steht es vor einer ungewissen Zukunft: Es soll umorganisiert werden, vor allem das Nationale Filmarchiv wäre betroffen. Kritiker vermuten politische Gründe.
Es ist eine ziemlich durchgeknallte Gesellschaft, die in dieser Burgruine lebt und einem anarchischen Treiben frönt. In ihrem Film „Unter grauen Steinen“ setzte die ukrainische Regisseurin Kira Muratowa 1983 der grauen sowjetischen Monotonie ein grotesk fantastisches Gesellschaftsszenario entgegen. Der irrwitzige Film läuft in der Filmreihe des Kiewer Dovzhenko-Centers – des nationalen Filmarchivs und Kulturzentrums der Ukraine.
Das wöchentliche Programm ist ziemlich bunt, erzählt der Leiter des Filmarchivs, Oleksandr Teliuk: "Zum Programm gehören ukrainische Horror-, Genre- und Fantasy-Filme ebenso wie Literaturverfilmungen und Diskussionsabende."
Allerdings finden die Vorstellungen momentan nicht im Dovzhenko-Center, sondern einem Kiewer Kino statt: Eine Woche nach Kriegsbeginn beschädigte eine nicht weit entfernt eingeschlagene Bombe den Kinosaal des Gebäudes – deshalb musste man ausweichen.
Zwischen Filmerbe und Filmvermittlung
Das 1994 gegründete Dovzhenko-Center ist ein bedeutender Kulturort, aber jetzt steht die Einrichtung vor einer ungewissen Zukunft: Sie soll umorganisiert werden, vor allem das Nationale Filmarchiv ist davon betroffen. Das Ministerium will das Archiv auf andere Institute aufteilen und seine bedeutende Filmkollektion dem Wissenschaftlichen Zentrum für Kinematographie übergeben.
Niemand weiß, meint Teliuk, was dieses Institut eigentlich macht, es wirke wie eine Art Briefkastenfirma. Und dahin soll das zentrale Archiv des ukrainischen Filmerbes wandern, das die Mitarbeiter des Dovzhenko-Centers bisher nicht nur bewahrt und restauriert haben.
Als Teliuk vor sechs Jahren zum Dovzhenko-Center kam, ging es hier hauptsächlich um den Erhalt des Filmerbes. Das neue Team aber setzte mit Ausstellungen und Filmvorführungen verstärkt auf öffentliche Vermittlung. Das hat, sagt Teliuk, hervorragend funktioniert, der Publikumszulauf war gewaltig.
Das Dovzhenko-Center als intellektuelles Labor
Warum das Archiv aufgelöst werden soll, versteht in dem Kulturzentrum niemand. Auch den Filmkritiker Bert Rebhandl verwundert dieser Plan:
„Ich hatte das Glück, dass ich 2014 Gelegenheit hatte, das Dovzhenko-Center selber im Süden von Kiew zu besuchen. Das ist ein Riesen-Bunker, ein Beton-Monstrum, in dem noch sehr, sehr stark der Geist der alten Sowjetunion geherrscht hat. Und in dieser fast ein bisschen verschnarchten Institution haben dann einige jüngere Leute begonnen, etwas Neues aufzubauen und diese Institution so ein bisschen umzuwenden auf heutige Kulturbetriebe. Und die haben das tatsächlich als eine Art intellektuelles Labor verstanden.“
Aber das neue Team war nicht nur, was moderne Kulturvermittlung betrifft, aktiv, sondern auch in der Demokratiebewegung 2014. Das Dovzhenko-Center hat sich immer auch als eine Art Demokratie-Labor verstanden und am Aufbruch auf Straßen und Plätzen mitgewirkt. „Ich glaube, dass das Dovzhenko-Center sehr, sehr toll diesen Graswurzelgeist verkörpert in der Ukraine", meint Kritiker Rebhandl.
Warum diese für die neue Ukraine so wichtige, intellektuelle Institution zerstückelt werden soll, hat wohl politische Gründe:
„Nachdem, was ich mit den Leuten in den letzten Monaten so gesprochen habe, war es ja mehr oder weniger von Beginn der Präsidentschaft von Selenskyj eine der Bestrebungen, auch die Filmbranche gewissermaßen zu übernehmen und mit Leuten zu besetzen, die eben aus dem Umfeld des Präsidenten stammen. Das ist übrigens in anderen Ländern nicht so unterschiedlich. In Österreich, als die schwarz-blaue Koalition mit Strache und Kurz noch im Amt war, hat diese Koalition genauso begonnen, die Filmbranche mehr oder weniger passend zu machen.“
Die Umgestaltung muss nicht das Ende sein
Möglicherweise, meint Rebhandl, schwebe der Selenskyj-Regierung eine repräsentativere Form der Filmvermittlung vor – und nicht eine intellektuell offene, wie sie vom Dovzhenko-Center praktiziert wird. Die Zerstückelung dieser Institution wäre ein großer Verlust für die intellektuelle Szene in der Ukraine – aber kein tödlicher:
Die Deutsche Kinemathek Berlin hat sich auch an einer Solidaritätsaktion für den Erhalt des bisherigen Dovzhenko Centers beteiligt. Der Vitalität der ukrainischen Filmszene hat jedenfalls selbst der Krieg nichts anhaben können.