Der Störenfried
Er ist eine moralische Instanz in Deutschland und hat mit seinen Dramen dem dokumentarischen Theater Leben und politische Brisanz eingehaucht: Rolf Hochhuth. Heute wird er 85 Jahre alt.
Rolf Hochhuth sitzt barfuß und mit Anzug und Krawatte an seinem Esstisch. Der bietet gerade noch genug Platz für die Kaffeetasse des Autors. Bücher und Papiere stapeln sich hier nämlich, auch auf den Stühlen und den abgenutzten Perserteppichen. Der Wälzer "Der große deutsche Bauernkrieg" wurde zum Türstopper umfunktioniert.
"Wem gilt Ihr Interesse? Welchem Buch oder was?"
Rolf Hochhuth kann sich nicht mehr daran erinnern, was der Anlass des Interviews ist. Eine Schwäche, mit der er bemerkenswert offen umgeht:
"Ich weiß noch ganz genau, was der letzte Kaiser zu Kaiser Franz Joseph am 13. März 1911 gesagt hat. Aber ich weiß ja nicht mehr, dass ich vorgestern im Theater war. Das Kurzzeitgedächtnis lässt nicht nur nach. Es fällt auch fast aus."
Der Dramatiker wohnt direkt neben dem Holocaustmahnmal. Durch eine große Fensterfront hat er einen perfekten Blick auf das Stelenfeld und die Besucher.
"Es ist für mich eine ganz, ganz große Genugtuung, wie dieses Denkmal angenommen wird."
Erhard nannte ihn einen "Pinscher"
In "Das Grundbuch", seinem neuen Band mit oft hölzern wirkenden Kurzgedichten, finden sich aber auch skeptischere Töne. Ja, das Holocaustmahnmal zeige Wirkung, sagt Hochhuth, aber danach würden die Touristen zum Hitlerbunker gebracht.
"Die werden ihn ausgraben wie Pompeji, den Hitlerbunker. Es ist eben so, dass das Teuflische eine weit stärkere Faszination hat als das Gute."
Mit zehn Jahren sah Rolf Hochhuth, wie Juden aus seiner Geburtsstadt Eschwege deportiert wurden. Er arbeitete im Verlag und schrieb mit seinem Debüt gleich sein bis heute bedeutendstes Theaterstück. "Der Stellvertreter", sein Drama über die Rolle des Papstes und der katholischen Kirche im Holocaust, löste in den 60er-Jahren international einen der größten Theaterskandale überhaupt aus. Es gab gewaltsame Proteste. Außenminister schalteten sich ein. Rolf Hochhuth wurde lange beschimpft. Kanzler Erhard nannte ihn einen "Pinscher".
Eine moralische Instanz
"Ich habe immer ziemlich hart ausgeteilt und fand es immer völlig selbstverständlich, dass ich deshalb auch einstecken muss. Und dass Franz Josef Strauß mich Ratte und Schmeißfliege nannte, das nahm man natürlich nicht ernst. Man wusste, er ist ein sehr schlauer, bayerischer Prolet."
Der penetrante Aufklärer Hochhuth wurde anfangs als Störenfried wahrgenommen. 1978 sorgte er mit einem Text letztlich für den Rücktritt des baden-württembergischen Ministerpräsidenten und ehemaligen Nazi-Richters Filbinger. Hochhuth war eine moralische Instanz.
Heute wirkt er eher wie aus der Zeit gefallen. Sein Dokumentartheater hat schon lange nicht mehr die Kraft von früher. Und die meisten der vermeintlich erotischen Gedichte in seinem "Grundbuch" nähren sich nur aus peinlich expliziten Altherrenfantasien. Zwölf Mal kommt allein das Wort "Vagina" vor.
"Das ist aber bei mir einer oppositionellen Haltung entsprungen. Im ganzen 19. Jahrhundert hat kein deutscher Lyriker riskiert, außer Hand und Hals und Augen einen Körperteil zu erwähnen, obwohl sie vorgaben, Liebesgedichte zu schreiben. Und ich habe noch erlebt, als meine Mutter endlich auf dem Hof die Ehebetten meiner Eltern, geheiratet 1924, verheizen ließ. Bis dahin - das kann man sich nicht vorstellen - schliefen Paare in getrennten Holzgestellen!"
Alt, aber nicht altersmilde
Hochhuth ist merklich alt geworden. Alt, aber nicht etwa altersmilde. Als Eigentümer des Berliner Ensembles habe er noch eine Rechnung mit dem Intendanten offen. Hochhuths Stiftung habe das Theater nämlich "unter Wert" vermietet:
"Gegen das Versprechen, dass dreimal im Oktober, zum Gedenken an die Deportation aus Rom, 'Der Stellvertreter' im Programm ist. Und Peymann hält sich nicht daran. Er spielt es nicht seit vier Jahren. Und deshalb werde ich ihn doch jetzt anzeigen müssen."
Jedenfalls in diesem Punkt bleibt sich Rolf Hochhuth auch mit 85 Jahren treu.