Unvollständiges Archiv und Molkereiprozess
Die "Mülheimer Theatertage" sind einer der wichtigsten deutschen Wettbewerbe der Branche. Sieben Stücke hat die Jury ausgewählt. Der Preisträger des Titels "Dramatiker des Jahres" wird vermutlich im Juni feststehen.
Es gibt zwei deutschsprachige Schauspielwettbewerbe, die sich Theaterfreunde in ihrem Kalender rot anstreichen: Das Berliner Theatertreffen und die Mülheimer Theatertage. Während in Berlin Ensembles ausgezeichnet werden, Regisseure, Bühnenbildner, Schauspieler, dreht sich Mülheim um die Kreativen erster Klasse, die Dramatikerinnen und Dramatiker.
Am Freitag ging die erste Runde zu Ende, in Mülheim teilte das Auswahlgremium auf einer Pressekonferenz mit, wer in diesem Jahr nach Mülheim eingeladen wird. Die Jury hat in diesem Jahr 99 Stücke begutachtet - das ist guter Durchschnitt.
Sieben von ihnen haben die erste Hürde überwunden, sieben Stücke werden in diesem Jahr nach Mülheim zum Dramatikerwettbewerb eingeladen.
Eingeladen: Laura de Weck, Wolfram Höll und andere
Laura de Weck ist dabei mit ihrem "Archiv des Unvollständigen". Man muss sich den Titel auf der Zunge zergehen lassen - ein solches Archiv, das das Unvollständige sammelt, kann eigentlich selbst auch nie vollständig werden.
Der Ort sieht aus wie eine absurde Mischung aus Bühne und Tonstudio. Wichtig sind Kabinen wie für Toningenieure, Glaskästen, durch die man die Schauspieler sehen kann - aber nur hören, wenn sie die Mikrofone und Lautsprecher anstellen - sonst bleiben sie stumm. Das "Archiv des Unvollständigen" ist ein Stück über Kommunikation. Eigentlich klappt sie nur selten, aber da wir uns so sehr wünschen, dass eine Brücke von Mensch zu Mensch führen sollte, probieren die Schauspieler es immer wieder. Musik spielt eine große Rolle. Ein wenig erinnert das Stück an Christoph Marthaler. Aber es ist keine Kopie, sondern höchst originell: Pures Theatergold.
Wolfram Höll nennt sein Stück "Und dann". So erzählen Kinder. Sie können noch keine Begründungen liefern, keine Sätze mit "Weil" konstruieren oder gar mit "Trotz". Hier wird aus der Sicht eines Kindes eine versunkene Welt beschworen - man kann sie sich vorstellen, aber ob sie so ist, wie das Kind sie uns vor Augen stellen will, ist und bleibt unklar. (Schauspiel Leipzig)
Rebekka Kricheldorf ist eingeladen - sie hat sich einen guten Namen als produktive Dramatikerin gemacht. Ihr Stück heißt "Alltag & Ekstase". Das "Und" geschrieben mit einem Kaufmannszeichen wie bei "GmbH & Co KG". Thema ist die Selbstverwirklichung, die heute zur Selbstoptimierung herabgesunken ist. Selbstverwirklichung sollte ein Mittel gegen die Entfremdung sein - und Selbstoptimierung ist extreme Entfremdung. Rebekka Kricheldorf hat eine kritische Farce geschrieben. Die Uraufführung vom Deutschen Theater Berlin ist eingeladen.
Philipp Löhle schreibt wie immer gesellschaftskritisch, er ist ein engagierter Kapitalismuskritiker. Sein neues Stück, am Nationaltheater Mannheim uraufgeführt, heißt "Du (Normen)". Im Mittelpunkt steht ein Opportunist, der sich bemüht, die Normen dieser Gesellschaft zu erfüllen - er will mit so wenig Aufwand wie möglich den größten Nutzen erzielen. Was im Einzelfall für den ein oder anderen vernünftig klingen mag, führt, wenn alle diesem Rezept folgen, zur Katastrophe.
René Pollesch ist wieder eingeladen, er hat schon zweimal den Dramatikerpreis bekommen. Pollesch ist ein unverwechselbarer Theatermann. Er ist nicht nur Dramatiker, sondern auch Regisseur seiner Stücke. Er will ein Theater schaffen, dass die Entfremdung im üblichen Betrieb überwindet - die Schauspieler sollen nicht mehr dem Regisseur unterworfen sein, Pollesch bezieht sie ein, sie arbeiten auch am Text mit, der während der Proben entsteht. Oft wird die Uraufführung bis zur Premiere nicht fertig, die Schauspieler haben Hänger - macht nichts, die Souffleuse spielt mit und sagt laut und deutlich ein. Pollesch will kein Illusionstheater, will sein Publikum nicht täuschen - sondern jeder Zuschauer soll merken, das ist jetzt und hier Theater. "Gasoline Bill" verarbeitet Theorie, es ist schwer zu sagen welche, vor allem Psychologie, verschiedene Themen werden angesprochen, die Liebe spielt eine Hauptrolle - ein Stück mit großartigen Schauspielern, die eine unheimliche Dynamik entfalten, ein Theaterspaß mit Tiefgang. (Münchner Kammerspiele)
Rimini Protokoll hat inzwischen international einen Namen. Dahinter verbergen sich in diesem Fall Helgard Haug und Daniel Wetzel. Ihr Stück, Dokumentartheater der ganz besonderen Art, heißt "Qualitätskontrolle". Sie haben das Stück mit Maria Christina Hallwachs, einer Querschnittgelähmten, erarbeitet. Sie hatte als junge Frau einen Unfall, seitdem sitzt sie im Rollstuhl. Ist das ein lebenswertes Leben? Die Antwort auf diese Frage behält sich die Frau im Rollstuhl selbst vor - ein überzeugendes Plädoyer für Selbstbestimmung und Humanität. (Rimini Protokoll/Schauspiel Stuttgart)
Ferdinand Schmalz heißt nicht Ferdinand Schmalz - das ist ein Pseudonym. Dahinter verbirgt sich ein Student, der gleich mit seinem Debut eingeladen wird, sein Stück heißt "am beispiel der butter". Die Beschreibung des Produktionsprozesses in der Molkerei bietet Metaphern, mit denen man die ganze Welt beschreiben kann - ein Stück über Wort und Welt, voller Philosophie, von Walter Benjamin bis Giorgio Agamben. (Schauspiel Leipzig)
Dramatiker des Jahres wird in öffentlicher Diskussion gewählt
Die Auswahl ist anfechtbar, wie jede. Schade, dass Oliver Bukowski nicht dabei ist, seine systemkritische Farce "Ich habe Bryan Adams geschreddert" ist ein Meisterwerk. Oder John von Düffel. Er hat sich mit "Kirschgarten - Die Rückkehr" mit Tschechow, dem 19. Jahrhundert und unserer Gegenwart auseinandergesetzt: geistreich, sehenswert! Aber insgesamt ist die Auswahl geglückt, das Programm der 39. Mülheimer Dramatikertage kann sich sehen lassen - es zeigt die Fülle des deutschsprachigen Dramenschaffens, den Reichtum der Fantasie und die Vielfalt der Formen.
Mit der Aufführung der Stücke beginnt der zweite Teil des Dramatikerwettbewerbs, den Höhepunkt stellt die Wahl zum Dramatiker des Jahres dar - der Termin steht noch nicht genau fest, vermutlich wird es der 7. Juni. Dann wählt eine Jury, die vom ersten Auswahlgremium unabhängig ist, die Dramatikerin oder den Dramatiker des Jahres - in offener Diskussion.
Diese offene Form hat sich bewährt. Die Jurymitglieder sitzen auf einem Podium und müssen begründen, warum sie einige Stücke ausscheiden lassen und warum sie sich für eines entscheiden. Absprachen sind schwer möglich - die Wahl erscheint als transparenter Prozess. Wer öffentlich sein Urteil begründet, macht sich und sein Urteil natürlich auch angreifbar. Die Debatte, die meistens bis nach Mitternacht dauert, ist spannend, sie bildet den Höhepunkt und Abschluss der Dramatikertage.
Wer hat die besten Chancen, wer wird Dramatikerin oder Dramatiker des Jahres 2014? Es ist zu früh, das seriös zu sagen, aber spekulieren kann man immer. Das "Archiv der Unvollständigen" ist originell, unterhaltsam und kritisch - und Laura de Weck ist der Preis zu wünschen. René Polleschs "Gasoline Bill" ist ein starkes Stück, aber Pollesch hat schon zweimal Lorbeer in Mülheim gewonnen. Laura de Weck steht noch am Anfang ihrer Theaterlaufbahn, da kann ihr der Preis mehr nützen als Pollesch.