Habe nun, ach, immer noch nicht...
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Alle sitzen zuhause und machen irgendwas: Theaterfestivals online organisieren oder Theaterfestivals online ansehen. Die Steuererklärung, den Frühjahrsputz oder endlich mal am eigenen Sixpack arbeiten. Nur unsere Kolumnistin: macht nichts.
Pandemiebedingtes Zuhausebleiben Woche drei und ich habe immer noch nicht:
Die Fenster geputzt. Die Steuererklärung gemacht. Den Balkon bepflanzt. Meinen Roman fertig geschrieben, oder zumindest mal das Dokument geöffnet. Mehr als ein Mal gestaubsaugt. Einen guten Tagesrhythmus gefunden. Eine Performance in meinem Badezimmer veranstaltet und für interessiertes Publikum gestreamt. Eine Lesung in meinem Wohnzimmer veranstaltet und für interessiertes Publikum gestreamt.
Einen Zaubertrick gelernt und für interessiertes Publikum gestreamt. Mir ein paar kluge Gedanken über die aktuelle Situation gemacht und für interessiertes Publikum gestreamt. Die schwer waschbaren Teile, die am Boden meiner Wäschetonne liegen, handgewaschen. Ausgemistet. Umgeräumt. Ein Buch gelesen. Eine Atemschutzmaske genäht. Etwas gekocht, was ich noch nie gekocht habe. Etwas fermentiert. Etwas repariert. Den Podcast vom Star-Virologen gehört. Die neue Netflix-Serie mit den Tigern geguckt. Eine Theater- oder Konzert–Aufführung gestreamt.
Jetzt hätte ich ja Zeit
Die Wohnung gestrichen, dabei will ich das schon seit drei Jahren machen, habe aber nie Zeit dafür, und jetzt hätte ich sie ja. Jetzt hätte ich ja Zeit! Jeden Tag eine Stunde Portugiesisch zu lernen, eine Stunde Gitarre zu üben, eine Stunde Yoga zu machen und eine halbe Stunde Rückenübungen, und den ganzen Tag zu meditieren und zu staubsaugen und wie gesagt endlich mal die Fenster zu putzen.
Ich habe immer noch nichts gebacken, immer noch nicht das erste Mal in meinem Leben etwas gebacken, immer noch nicht die Risse in meinen Dielen gefüllt und meine ganzen Wissenslücken, immer noch nicht das neue Theaterstück angefangen, immer noch kein neues Projekt für 2021 ausgedacht, immer noch nicht angefangen für das Projekt im Sommer zu recherchieren, immer noch nicht das Projekt vom Winter nachbereitet, immer noch keine alternativen Aufführungsformate mit dem Kollektiv entwickelt für alle Veranstaltungen, die uns jetzt ausfallen, mich noch immer nicht als Medienkünstlerin neu erfunden.
Noch immer keine Langeweile
Ich habe noch kein Meme gebastelt und keine virtuelle Ausstellung in meiner Insta-Story kuratiert. Ich habe noch kein Online-Festival ins Leben gerufen und noch an keinem teilgenommen. Ich habe noch keinen Sixpack. Ich habe noch keinen Plan B. Ich habe noch immer keine Ahnung von gar nichts. Ich habe noch keinen Slogan für die Krise.
Ich hatte noch keine richtig gute Idee. Ich habe noch keine Balance gefunden und keine Normalität. Ich hab die Krise noch nicht als Chance begriffen und die Chance noch nicht vertan. Ich habe noch immer keine Langeweile.