In vollen und leeren Zügen
05:24 Minuten
Laura Naumann begibt sich für "Rang 1" hin und wieder auf Exkursionen in den Alltag - in ihrer Kolumne beobachtet die Dramatikerin dann, was das Leben außerhalb des Theaters so zu bieten hat. Diesmal Menschen in Zügen.
Seitdem mir Greta auf der Schulter sitzt und jedes Mal, wenn ich einen Flug buchen will, mit der Stimme Prinzessin Leias aus Star Wars zu mir sagt: "Tu's nicht Laura. Du bist meine letzte Hoffnung", verbringe ich wieder sehr viele Stunden meines Lebens in Zügen. Meistens gibt es Verspätung in mindestens eine Richtung, meistens verkehrt der Zug mit veränderter Wagenreihenfolge, meistens ist die Klimanlage in mindestens einem Waggon kaputt oder auf "Arktis" eingestellt, meistens hat irgendjemand im Ruhe-Bereich irgendwas total Wichtiges am Telefon zu besprechen, meistens können die Sitzplatzreservierungen nicht angezeigt werden und es kommt zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Menschen, die reserviert haben und Menschen, die Menschen, die reserviert haben, zum Kotzen finden.
Neulich konnte ich auf einer neunstündigen Reise keinen Platz mehr reservieren, weil Greta scheinbar vielen Menschen auf der Schulter sitzt in letzter Zeit; so vielen, dass man manchmal nicht mal mehr ein Ticket für einen Zug buchen kann oder Züge am Bahnhof nicht abfahren dürfen, weil sie überfüllt sind.
Dating-Einladung ins Bordbistro
Meine Reise beginnt morgens um 9 mit einer Durchsage: "Es ist Frühstückszeit meine Damen und Herren. Und Sie müssen nicht parshippen, um nette Leute kennenzulernen. Kommen Sie doch einfach bei uns im Bord-Bistro vorbei!" Bin leider die Einzige, die sich blicken lässt. Den Anderen ist 9 Uhr morgens wohl zu früh zum Daten.
Gegen Mittag, zwischen Göttingen und Mannheim, erklärt eine junge Frau einem jungen Mann alles, was man über Theater nur wissen kann. Er hat sehr viel Fragen. Und sie hat sehr viel theoretisches Wissen. Drei Stunden lang sitze ich hinter ihnen und denke: Jetzt küsst euch doch endlich. So sehr kann man sich gar nicht für Theater interessieren. Aber dann steigt sie einfach aus. Mein Herz bricht. Und das von dem Jungen, glaub ich, auch. Als ich zur Toilette gehe, sehe ich, wie er reglos, mit Kopfhörern auf den Ohren, auf dem Tisch vor ihm liegt. Love is cruel.
Dann ein Notarzt-Einsatz an einem Regio, den wir umfahren. Dann ein Notfall in unserem eigenen Zug! Per Durchsage wird medizinisches Personal an Bord gesucht. Vor dem betroffenen Abteil bildet sich eine Menschentraube. Ärzte und Ärztinnen stehen bis in den Gang. Beruhigend, irgendwie, zu wissen, dass nicht nur Kulturschaffende und Banker*innen Zug fahren. Bald gibt es Entwarnung. Bluthochdruck. Die Controllerin, die ehrenamtlich Rettungswagen fährt zwei mal in der Woche, gibt in dem Wagen, in dem ich jetzt sitze, eine kleine informelle Info-Veranstaltung über die Rettungssanitäter*innen-Ausbildung. Sie trägt einen Anzug, ist jünger als ich und scheint mir kompetent in jedem Lebensbereich. Ich hoffe, sie kommt mich retten, falls mir jemals was passiert.
Aggressionen an Kindern auslassen
In Mannheim steht der Anschluss auf der Kippe aufgrund unserer Verspätung, aber leider hat jemand die Lautsprecher im gesamten Zug leiser gedreht, sodass man die Durchsagen bezüglich der Anschlussmöglichkeiten nicht mehr verstehen kann. Oder es gibt keine Durchsagen mehr. Aus Feigheit. Menschen, die auf den Umstieg angewiesen sind, fletschen die Zähne. Wir wissen schon aus dem Internet, dass es keine guten Neuigkeiten für uns gibt. Der Zug am gegenüberliegenden Gleis wird nicht auf uns warten. Aber an wen könen wir unsere Enttäuschung, unsere Aggressionen richten?
Eine Mutter staucht zum wiederholten Mal ihre besorgniserregend gut erzogenen Tochter zusammen, die es gewagt hatte, auch einen leisen Satz zur Gesamtsituation zu äußern. DU SAGST JETZT BESSER NICHTS MEHR, keift sie sie für alle Umstehenden hörbar an und das Mädchen macht ein tapferes Gesicht. Dafür hat man also Kinder. Schön Druck ablassen, geht’s einem gleich besser. Die bleiben bei einem, egal wie arschig man sich verhält, denn sie haben keine Wahl, sie brauchen einen.
Gerade, als ich mir überlegt habe, was ich Aufmunterndes zu dem Mädchen sagen könnte ("Eines Tages wirst du frei sein" oder "Halte durch, kleiner Mensch, gib dich nicht auf") hält der Zug und alle möchten als erste aussteigen. Ein paar andere Waghalsige und ich springen in den Zug am gegenüberliegenden Gleis, der nicht unser Anschluss ist, aber vielleicht eine Alternativ-Verbindung, wir werden sehen, was das Schicksal für uns bereithält.
Der Waggon ist abgesperrt. Rotes Band und übler Geruch. Wir sind in einer Crime-Scene gelandet. "Ich will gar nicht wissen, was hier passiert ist", raunt ein Reisender mit einer Gitarre. "Technische Störung", sagt ein Mitarbeiter mit Plastikhandschuhen kurz angebunden. Technische Störung mit Verwesungs-Geruch? Interessant. Ich stelle mir vor, wie Gitarre und ich der Sache auf den Grund gehen. Noch zwei Stunden bis zum Ziel, das könnten wir schaffen. Aber dann trifft er einen alten Bekannten und ich bin wieder auf mich allein gestellt.
Warum ich im Theater arbeite
Auf meinem neuen Sitz erfahre ich alles über eine völlig beknackte Hochzeit, ein Familiendrama und die psychische Gesundheit eines der Familienmitglieder der älteren Dame, die vor mir sitzt und sich freut, dass sie so guten Empfang hat. Und wie mich da so zurücklehne in meinem gepolsterten Sitz und mir zu Akt zwölf meiner Reise ein kleines Bier aufmache, während draußen in der vorbeiziehenden Landschaft ein Lichtwechsel stattfindet, weiß ich plötzlich wieder ganz genau, warum ich mir mal überlegt habe, im Theater zu arbeiten – Akteur*innen und Publikum. Kurzum: Menschen, ey. Das größte und wahrscheinlich unterhaltsamste Rätsel der Menschheit.