"Theater muss vibrieren"
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Provokant und visionär – Jens Hillje hat schon mehrere renommierte deutsche Bühnen vor dem Weg in die Durchschnittlichkeit gerettet. "Neustart" ist seine Devise – das Rüstzeug dazu fand er unter Italiens Sonne und in bayerischen Wirtshäusern.
Er hat die Berliner Schaubühne programmatisch runderneuert und auch das Berliner Maxim Gorki Theater zu einer der spannendsten Spielstätten im Land gemacht. Mit Stücken, die Minderheiten und Migranten eine Stimme geben – und Kritiker und Publikum begeistern. "Theater muss vibrieren", sagt Jens Hillje. Und wenn es das nicht tut, muss man es neu erfinden.
Suche nach blinden Flecken
"Mein Kriterium ist immer: Ist es notwendig, das zu erzählen? Es ist ein Suchen nach blinden Flecken, nach Geschichten, die noch nicht erzählt worden sind, nach dem Teil der Bevölkerung, der nicht repräsentiert ist auf der Bühne."
Zum Beispiel die Gruppe der Queers oder türkische und polnische Berliner. Migration ist für Jens Hillje auch ein persönliches Thema: Seine Kindheit verbrachte er zwischen Norditalien und Niederbayern, viele Impulse für seine Theaterarbeit stammen aus dieser Zeit.
"Es fängt natürlich auch bei mir selber an, einerseits mit einem schwulen Coming Out im Niederbayern der achtziger Jahre, selbst in Italien aufgewachsen und nach Deutschland gekommen, whatever das war, italienisch, deutsch. Ich habe schon aus dem Gefühl, selbst immer wieder ausgeschlossen zu sein, einen Blick, ein Gefühl und eine Erfahrung dafür, was es heißt, ausgeschlossen zu werden."
Von Deutschland nach Italien und zurück
Vor dem Mauerbau verließen seine Eltern Thüringen und zogen nach Baden-Württemberg, von da aus nach Italien und dann wieder zurück nach Deutschland. Eine Kindheit in zwei Kulturen: Jens Hillje war sieben Jahre, als die Familie nach Bayern kam.
"Ich wurde schon sehr durchgeschüttelt als Kind. Ich war kein Deutscher, aber ich war auch kein Ausländer. Es war klar, dass ich zu den anderen, die Bayrisch sprechen, nicht dazugehöre. Das hat bei mir zu einer Überkompensation geführt. Du versuchst, umso stärker zu kämpfen, damit du drin bist. Aber die Angst, dass es morgen vorbei ist, die bleibt."
In Bayern sammelte Jens Hillje erste Theatererfahrungen – auf kleinen Wirtshausbühnen. Er träumte vom Archäologie- und Geschichtsstudium, "aber ich blieb am Theater hängen". Sein Durchbruch kam, als er mit Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne arbeitete. Inzwischen teilt sich der 51-Jährige mit Shermine Langhoff die Intendanz des Maxim Gorki Theaters.
"Was mach‘ ich mit dem Rest der Zeit"
Im Sommer wird Jens Hillje, der immer wieder versucht, ein neues Publikum ins Theater und neue Künstler auf die Bühne zu bringen, auf der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk ausgezeichnet.
"Es ist eine große Freude und Auszeichnung. Erstmal ist das ein sehr gutes Gefühl. Es gibt aber auch den kleinen Moment von: Okay, was mach ich jetzt noch mit dem Rest der Zeit, was lass ich mir da einfallen, damit das auch noch so spannend und reich weitergeht, wie mein Leben bisher war?"
(tif/svs)
Erstsendedatum: 14.06.2019