"Natürlich reproduzieren wir keinen Rassismus"
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"Atlas" von Thomas Köck handelt von einer deutsch-vietnamesischen Familie. Doch Vietnamesen wirken in der Aufführung am Schauspiel Leipzig nicht mit. Die Dramaturgin Katja Herlemann reagiert nun auf die Kritik und spricht von Missverständnissen.
Timo Grampes: Falk Schreiber, Jurymitglied beim Mülheimer Dramatikerpreis, dem ging es mit dem diesjährig ausgezeichneten Theaterstück folgendermaßen, wie er uns gestern Abend in "Fazit" erzählt hat:
Falk Schreiber: Tatsächlich hatte ich ein bisschen Bauchschmerzen mit "atlas".
Grampes: Bauchschmerzen mit "Atlas", dem Stück von Thomas Köck, das handelt von einer deutsch-vietnamesischen Familie. Vietnamesinnen oder Vietnamesen wirken darin aber nicht mit, und die, die vorab für Rechercheinterviews zur Verfügung standen, zur Vorbereitung auf das Stück, die finden keine Erwähnung. Die Folge war ein offener Brief mit harter Kritik, initiiert unter anderem von der Choreografin und Performance-Künstlerin Olivia Hyunsin Kim, die im Deutschlandfunk Kultur dieses sagte:
Olivia Hyunsin Kim: Es ist einfach eine Frage des Respekts und der Würdigung, weil man kann sagen, woher das Stück kam, von wem es kam und wie es entstanden ist und dies transparent machen. Es ist nicht, dass es durch eine Genieperson entstanden ist, wie man so früher denkt an männliche Künstler und ihre anonymen Musen.
Grampes: Der offene Brief, der findet noch drastischere Worte, darin heißt es, es sei fragwürdig, sich Geschichten migrierter, zum Teil traumatisierter Menschen zu bedienen, sie dafür weder angemessen zu entlohnen noch namentlich zu würdigen und sich am Ende selbst damit zu schmücken und zu bereichern. Sowohl der Brief als auch Olivia Hyunsin Kim gehen aber noch weiter mit ihrer Kritik:
Kim: Dann muss man auch sehen, dass besonders bei einer marginalisierten Gruppe wie bei Vietnamesisch-Deutschen oder auch im Allgemeinen bei Asiatisch-Deutschen, die so viel mit Unsichtbarmachung als Minderheit zu kämpfen haben in der deutschen Gesellschaft, obwohl sie schon sehr, sehr lange hier wohnen, das ist ein sehr großes Problem und fast eine Reproduktion von diesem Rassismus.
Grampes: Also ein Theaterstück als Reproduktion von Rassismus – das fragen wir die Dramaturgin von "Atlas", Katja Herlemann. Sie sind im Gegensatz zum Inhalt sehr idyllisch jetzt auf einem Balkon, im Hintergrund zwitschern die Vögel. Hallo!
Katja Herlemann: Guten Abend, hallo!
Es kursieren Missverständnisse
Grampes: Dann steigen wir mit der härtesten Frage ein: Reproduzieren Sie Rassismus?
Herlemann: Danke, dass Sie mich da gleich so überfallen. Natürlich reproduzieren wir keinen Rassismus. Ich würde sehr gerne ein paar Dinge erklären, sowohl zur Entstehung des Stückes als auch zur Rezeption, weil es tatsächlich so ist, dass da, glaube ich – und das liegt an der Unkenntnis sowohl des Stückinhalts als auch der Produktionsbedingungen –, dass da ein paar Missverständnisse kursieren, die dann zum Teil zu diesen heftigen Vorwürfen führen.
Grampes: Welche Missverständnisse?
Herlemann: Es ist tatsächlich kein dokumentarisches Stück, und es ist auch insofern ein Missverständnis, als dass da keine Biografien realer Personen Eingang in diesen Text gefunden haben. Also wenn man das Stück von Thomas Köck kennt, dann weiß man, dass er immer sehr intensiv recherchiert für seine Texte, und natürlich gehören zur intensiven Recherche – das wissen Sie als Journalist natürlich am besten – auch immer Gespräche mit Expert*innen, mit Wissenschaftler*innen und in diesem Fall auch mit Zeitzeug*innen.
Es ist aber keinesfalls so, sozusagen, dass da eine Gruppe von Menschen über einen längeren Zeitraum ihre persönlichen biografischen Geschichten zur Verfügung gestellt haben und Thomas Köck sich diese Geschichten angeeignet hat und daraus einen Theaterabend gebaut hat.
Keine vietnamesische, sondern eine deutsch-deutsche Geschichte
Grampes: Aber Moment, die Unsichtbarkeit, die bleibt doch. Also was bedeutet es, wenn die Vietnamesinnen und Vietnamesen bei Ihnen unsichtbar sind? Das passt ja zu den Klischees, von denen zum Beispiel der Kulturwissenschaftler Kjen Li Hak ((phon.)) erzählte, die er zusammenfasst mit: Asiaten sind sehr fleißig und unauffällig, Musterschüler, die keine Probleme haben und auch keine machen. Wer unsichtbar ist, dessen Bild kann man ja auch nicht erweitern. Also wieso diese Unsichtbarmachung, unabhängig ob dokumentarisch oder fiktional?
Herlemann: So eine Unsichtbarmachung würde ich an der Stelle auch nicht unbedingt sprechen. Der Vorgang ist ja erst mal der, dass ein Theater einen renommierten Autor beauftragt, ein Stück zu schreiben und dass sich dann in gemeinsamen Gesprächen ein Themenkomplex herauskristallisiert, und das ist in diesem Fall eine sehr vielschichtige Geschichte zweier Länder. Ich möchte auch noch mal wirklich in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass es keinesfalls eine vietnamesische Geschichte ist, die da erzählt wird, sondern eine Geschichte der deutsch-deutschen Wiedervereinigung.
Das ist eine Geschichte von zwei geteilten und dann wiedervereinigten Ländern. Das ist eine Geschichte von vielfältig miteinander verbundenen, nationalen Historien, eine Migrationsgeschichte, und diesem Themenkomplex hat sich ein Autor angenommen und ein fiktionales Stück darüber geschrieben. Das ist erst mal ein Vorgang, den per se zu kritisieren ich für extrem problematisch halte, weil wir uns im Bereich der Literatur bewegen.
Grampes: Aber was halten Sie denn zum Beispiel von einem Vergleich zu Sanja Mitrović, die an der Berliner Schaubühne unter anderem ein Stück inszeniert hat. Das heißt "Danke Deutschland" mit eben dem Thema unter anderem Rassismus gegen Vietnamesinnen und Vietnamesen, auch in einem größeren Kontext, auch im Kontext BRD, DDR, und da hat sie eben selbige auch miteinbezogen. Die finden sich ja auch auf der Bühne wieder.
Herlemann: Genau. Also ich weiß um diese Produktion. Ich habe sie leider selber nicht sehen können, aber genau das ist ja insofern auch ein Dokumentartheaterabend, ein Abend, der mit zum Teil Laiendarsteller*innen, Expert*innen des Alltags arbeitet, die dann auch ihre ganz authentische Geschichte erzählen, also eine andere Form von Theater. Hier handelt es sich um ein Theaterstück, das ist jetzt auch sozusagen für jedes Theater, für jede Theatergruppe frei zugänglich, das liegt beim Suhrkamp-Verlag.
Jeder kann sich darum bemühen, jeder kann eine eigene Inszenierung dieses Stücks anfertigen. Die Form, für die sich das Schauspiel Leipzig, für die sich der Regisseur Philipp Preuss in dieser Uraufführung entschieden hat, ist die des Schauspiels, und im Schauspiel gibt es die Grundvoraussetzung und die Grundverabredung des Spiels, der Metamorphose und des professionellen Schauspiels, wo sich Spieler in die unterschiedlichsten Rollen und Figuren und Sprechenden hineinversetzen.
Grampes: Fiktionalität schlägt Unsichtbarmachung.
Darf ein Österreicher nur über Nazis und Österreicher schreiben?
Herlemann: Das legen Sie mir jetzt in den Mund, aber das …
Grampes: Ich versuche zu bündeln.
Herlemann: Das eine lässt sich gegen das andere, glaube ich, sehr schwer aufwiegen. Letztlich ist es ja also ein großes Interesse in der Arbeit von Thomas Köck, sich in die Geschichte hinein zu fräsen und neue Strategien des Erzählens und neue Stimmen in seine Stücke hineinzuschreiben. Nur jetzt ist die Frage, darf der als weißer, österreichischer Autor nur über Nazis und Österreicher schreiben? Das fände ich sehr schade.
Grampes: Wobei das der offene Brief ja nicht sagt. Der offene Brief setzt ja da an, dass ein Stück Empathie verlorengeht durch die Nichtbeteiligung Betroffener, die Auskunft geben könnten. Das ist ja eher der Ansatz.
Herlemann: Nein, der offene Brief kritisiert in der fälschlichen Annahme, es wären Geschichten realer Personen in das Stück eingeflossen, und diese realen Personen, die ihre Geschichten zur Verfügung gestellt hätten, wären dann nicht genannt, beziehungsweise entlohnt, worden. Ich glaube, diesen Vorwurf habe ich gerade mit der Beschreibung der Genese dieses Textes auch entkräften können.
Grampes: Aber es gab doch reale Personen, die Sie interviewt haben, die für Rechercheinterviews zur Verfügung standen und die keine Erwähnung finden, so wie es der offene Brief kritisiert.
Herlemann: Also inwieweit ein Autor seine Quellen offenlegt, das muss ihm oder ihr überlassen bleiben. Ich glaube, dass wirklich ein großer Unterschied besteht, ob ich in einer umfassenden Recherchearbeit mit unterschiedlichen Menschen spreche oder ob ich mir zum Ziel setze, die individuellen biografischen Geschichten einzelner Personen zu erzählen. Wenn ich sie dann nicht nennen würde, dann wäre das natürlich ein Skandal. Also da stimme ich Ihnen völlig zu.
Grampes: Was machen Sie jetzt aus dem offenen Brief?
Herlemann: Also wir sind ja sowieso grundsätzlich auch viel im Gespräch mit Menschen, die dieses Stück sehen. Es wird auch in der Produktion eng zusammengearbeitet mit Herrn Doktor Truong, ein hier deutscher Übersetzer, der uns da zur Seite stand und der auch da noch mal ein großes Netzwerk mitbringt und diese Menschen, mit denen wir sowieso schon im Gespräch sind, mit denen geht der Diskurs natürlich auch schon länger, und der geht auch weiter. Für ein Gespräch stehe ich und steht das Team, steht auch der Regisseur Philipp Preuss jederzeit gerne zur Verfügung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.