Drehladen und Findelhäuser
Seit im April 2000 die erste Babyklappe in Deutschland eingerichtet wurde, ist ihre Zahl bis heute auf 80 angewachsen. Diese Nachfolger der Drehladen und Findelhäuser sollen das erreichen, was schon immer das Motiv für ihre Einrichtung war: den Frauen eine sichere Aussetzung der Babys ermöglichen und der Kindstötung entgegen wirken.
Vor 300 Jahren entstand in Hamburg die erste in Deutschland bekannte Drehlade. Am Umgang mit den verstoßenen Kindern und an solchen sichtbaren Indikatoren lässt sich wie mit einem Brennglas – um ein Thema von Johann Gottfried Herder aufzugreifen – das zwiespältige Bemühen um die "Beförderung der Humanität" verfolgen.
"Als Totschläger und Kindermörder geben sich die zu erkennen, die selbst Hand an sie legen und schon den ersten Lebenshauch der Kinder in Rohheit und grässlicher Gefühllosigkeit ersticken und unterdrücken, sowie die, welche sie in einen Fluss oder die Meerestiefe werfen, nachdem sie sie mit einem schweren Gegenstande belastet, damit sie durch dessen Gewicht schneller untersinken.
Andere aber bringen sie in die Wildnis, um sie auszusetzen , wie sie selbst sagen, in der Hoffnung auf deren Erhaltung, in Wirklichkeit aber zum grässlichsten Verderben, denn alle Mensch fressenden Tiere kommen ungehindert an sie heran und tun sich gütlich an den Kindern, das die einzigen Pfleger, die vor allen zur Erhaltung der Kinder Verpflichteten, Vater und Mutter, ihnen vorgesetzt haben."
Der jüdische Theologe Philo beschreibt Verhältnisse um das Jahr Null, die von der Antike bis ins frühe Mittelalter hinein zur Normalität gehörten.
In Griechenland wie in Rom war die Kindstötung und Aussetzung nichts Unrechtes. Im alten Athen bestimmte das Gesetz die Aussetzung missgebildeter Kinder.
Labouvie: "Dass Kinder ausgesetzt oder getötet wurden, ist für uns heute natürlich ganz schwierig zu verstehen."
Geschichtsprofessorin Eva Labouvie von der Universität Magdeburg.
Labouvie: "Ist allerdings, wenn man das von der Antike her sieht, ein Vorgang, der durchaus zu Kulturen, sagen wir mal spartanischer Kultur, griechischer Kultur, zu unserer frühen Kultur durchaus gehört hat. Es gab eine Berechtigung das zu tun und es waren in dieser Zeit auch die Männer, die Väter, die das getan haben, weil sie die Hausgewalt inne hatten."
In Rom wurde dieses Recht durch die "patria potestas", dem Gesetz über die väterliche Gewalt geregelt und. Es war Teil der staatlichen Exekutivgewalt. Diese Rechtsstellung besaß der Hausvater seit dem 3. Jahrhundert vor Christus. Sie unterwarf alle Mitglieder eines Haushaltes der Gewalt des Familienoberhauptes.
Ein Hausvater konnte sogar die Nachkommen seines volljährigen Sohnes töten, aussetzen oder verkaufen. Kinder wurden nach ihrem Nutzen für die Familie betrachtet. Wie in Athen war die Aussetzung missgebildeter Kinder durch die patria potestas vorgeschrieben.
"Tolle Hunde bringen wir um, einen wilden und unbändigen Ochsen hauen wir nieder, ungestalte Geburten schaffen wir aus der Welt, auch Kinder, wenn sie gebrechlich und missgestaltet zur Welt kommen, ersäufen wir. Es ist nicht Zorn, sondern Vernunft, das Unbrauchbare von dem Gesunden abzusondern."
So rechtfertigte es Seneca, ein römischer Zeitgenosse Philos.
Wer ein Neugeborenes fand und aufzog, konnte es behalten und später als Sklaven verkaufen, zur Prostitution erziehen oder verstümmeln, um Mitleid beim Betteln zu erregen.
"Seht jene mit den zerquetschten Füßen. Dieser hat keine Arme, jenem hängen die Schultern formlos herunter, um durch sein groteskes Aussehen Gelächter hervorrufen zu können. Ein Laboratorium für die Erzeugung menschlicher Ruinen, eine Höhle, angefüllt mit Gliedern, die man lebendigen Kindern abgerissen hat."
Labouvie: "Es war natürlich im Recht des Vaters, das zu tun. Es hat natürlich vor allem die Mädchen betroffen. Die Söhne blieben meist davon unbetroffen. Sie waren gern gesehene Nachkommen, die ja natürlich auch ein Erbe weitergaben und auch Positionen in der Gesellschaft einnehmen konnten. Der Überschuss an Mädchen scheint eine Rolle gespielt zu haben. Dort galt auch dieses Recht der Kindsaussetzung oder auch Tötung. Und es waren Geburten, die nicht dem Normalen entsprachen: Zwillingsgeburten, Kinder, die behindert waren oder anders aussahen."
Mädchen verursachten vor allem Kosten. Ab dem zwölften Lebensjahr konnte der Hausvater sie zwar verheiraten, aber dazu war eine erhebliche Mitgift nötig. In der Regel ließ man nur das erste Mädchen am Leben. In den 600 Familien, die im zweiten Jahrhundert in Delphi registriert waren, hatten nur ein Prozent zwei Töchter.
"Das Kind, begabt mit einer unsterblichen Seele, muss bewahrt werden. Denn Gott haucht ihnen Seelen ein um ihres Lebens, nicht um ihres Todes Willen."
So die Forderung des lateinischen Theologen Lactantius während der Ausbreitung des Christentums im 4. Jahrhundert.
"Die Aussetzung ist ebenso sündhaft wie die Tötung."
Nach der christlichen Ethik wurde das Aussetzen und Töten von Neugeborenen zu einer schweren rechtlichen und moralischen Verfehlung.
Mit Einführung des Christentums als Staatsreligion wurden Kindesaussetzung und Tötung im Römischen Reich verboten und mit Strafen wie Blendung oder Hinrichtung geahndet.
Labouvie: "Das war auch einer der schlimmsten Gründe für die Verurteilung, dass man das Kind durch diese Tötung der Heiligen Taufe entzog. Es hatten diese getöteten Kinder ohne Taufe keine Möglichkeit, in den Himmel zu kommen."
Im beginnenden Mittelalter wurden in den größeren Städten an Kirchen Marmorbecken angebracht, in welche man die unerwünschten Kinder ablegen konnte.
"Die Sitte wollte erreichen, dass dann, wenn ein ausgesetztes Kindchen gefunden würde, jemand da sei, der, durch Mitgefühl aufgerufen, das Kind nähme und es ernähre. In einem solchen Fall nähme der Küster das Kind auf und frage in der Bevölkerung, ob einer es zur Ernährung aufnehmen würde und dann als sein Eigenes haben wolle."
Trotz Christianisierung und Strafverfolgung konnte der Kindstötung nicht Einhalt geboten werden. Eine institutionelle Versorgung von Findelkindern gab es noch nicht.
Kaschuba: "Zum Teil beginnen die Vorformen in den Klöstern, die dann so kleine Abteilungen einrichten, in denen dann Kinder aufgezogen und erzogen werden."
Wolfgang Kaschuba, Ethnologieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität.
Kaschuba: "Dass es manchmal ja für Findelkinder, gerade als Mädchen bedeutete, zwar ohne Eltern, vielleicht auch ohne Wärme – falls das die anderen Kinder hatten, wir wissen das ja gar nicht – aber möglicherweise als Findelkind in einer Klosteranlage mit mehr Bildung aufzuwachsen als sie jemals bekommen hätte bei ihren bäuerlichen Eltern."
Um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend geht man in Europa von einem Zahlenverhältnis zwischen Mann und Frau von 160 zu 100 aus. Bei einer Geburtenrate von 10 bis 15 Kindern betraf das Schicksal von Aussetzung und Tötung nach wie vor in erster Linie Mädchen.
Kaschuba: "Kinder waren noch nicht die geliebten Nachwüchse wie wir das heute haben. Kinder waren natürlich auch Not und Esser – und dann Arbeitskräfte. Im Normalfall galt eben, dass die Kinder mit fünf, sechs, sieben Jahren mitzuarbeiten hatten. Wenn ein Kind ausgesetzt worden ist im Mittelalter, hat es zunächst in der Regel eher existenzielle Gründe. Also die Frau oder die Familie hat sich nicht geschämt, weil das Kind unehelich war, sondern es ging darum, es nicht ernähren zu können und auch den eigenen Körper insofern zu schonen, es einfach auszusetzen und nicht beide Leben zu gefährden."
Polygamie war im Mittelalter noch weit verbreitet. Die aus den illegalen Verhältnissen gezeugten Nachkommen wurden den ehelichen Kindern zunächst gleich gestellt, waren aber nicht Bestandteil der Erbfolge.
Labouvie: "Ehe ist ja vorher eher ein Versprechen, wird immer mehr dann zu einem Akt, der offiziell in der Kirche vor einem Geistlichen stattfindet, das heißt also, eine Ehe in unserem heutigen Sinne, in der katholischen Kirche als Sakrament, in der protestantischen Kirche als ein Versprechen gegenüber Gott. Und alles, was nicht Ehe ist hat damit ein schlechteren Stellenwert."
In dem Maße, in dem die Kirche außerehelichen Verkehr verfolgt, werden uneheliche Kinder zu Kindern der Sünde. Mit der drohenden Bestrafung ihrer Mütter steigt die Zahl der Aussetzungen - zusätzlich zu denen, die aus Armut weggelegt werden.
Die Einrichtung des ersten Findelhauses im Jahre 787 von Bischof Dateus erfolgte mit der Absicht:
"Leib und Seele von Kindern aus illegitimen Verbindungen zu retten."
Die Abgabe der Kinder erfolgte nur unter Namensnennung der Mutter. Die Kinder wurden 15 bis 18 Monate lang von Ammen versorgt und konnten bis zum siebten Lebensjahr in der Einrichtung bleiben.
Wenn sie die Säuglingszeit überlebten.
Die erste Drehlade zur Aufnahme von Neugeborenen, im italienischen Torno, wurde um das Jahr 1200 am Römischen Ospedale di Santo Spirito angebracht, einem Hospital des Heilig - Geist Ordens.
Es handelte sich dabei um eine hölzernen Drehteller oder Zylinder mit einer Mulde, in die der Säugling hineingelegt werden konnte. Anschießend wurde die Lade um 180 Grad gedreht. Die Aussetzung des Kindes erfolgte dadurch erstmals kontrolliert und dennoch anonym.
"Die Drehlade unserer Anstalt wird mit dem abendlichen Ave-Maria eröffnet und bei Tagesanbruch geschlossen. Im Innern, neben dem Torno, wacht eine Person, um die Kinder in Empfang zu nehmen. Wird jener Apparat gedreht, lässt er einige Glöcklein erklingen, um der Gefahr zu wehren, dass der "ricoglitore", wenn ein Kind ausgesetzt wird, eingeschlafen sei. Eine besondere Vorrichtung setzt mit dem Drehen des Torno andere Glöcklein in einem Raum in Bewegung, in dem zwei Frauen wachen, um die auf diese Weise aufgenommenen Findlinge sofort zu versorgen."
In den folgenden Jahrhunderten wurden viele Findelhäuser nach dem Vorbild des Heilig - Geist Ordens in Italien und Spanien gegründet.
Der ursprüngliche Zweck von Findelhäusern und Drehlade war die Eindämmung von Aussetzung und Tötung der Neugeborenen. Doch in allen Städten, die solch einen Torno einrichteten, nahm die Zahl der Findelkinder in erschreckendem Maße zu, ohne dass eine Abnahme der Kindermorde nachzuweisen war.
Um der Weglegung größerer Kinder entgegenzuwirken, ließ man Gitterstäbe vor den Öffnungen der Drehladen anbringen, so dass gerade ein Neugeborenes hindurch passte.
Mit der Übernahme christlicher Anschauungen in das weltliche Strafrecht wurde auch die Verfolgung von Kindesmord und Aussetzung intensiviert. Die einzige von kirchlichen und weltlichen Autoritäten anerkannte Lebensform von Sexualität war die Ehe.
Labouvie: "Im Mittelalter können wir an der Gesetzgebung sehen, dass für dieses Delikt die Eltern verurteilt wurden, während ab der Carolina, also der Halsgerichtsordnung Karls V, nur noch die Mutter und zwar die ledige, also die nicht verheiratete Mutter dafür bestraft wird, dass sie ihr nichteheliches Kind tötet."
Nach der Carolina oder auch "Peinlichen Gerichtsordnung" galt die Tötung eines neugeborenen Kindes als eines der schwersten Verbrechen überhaupt und konnte nur durch den Tod gesühnt werden. Voraussetzung für eine Verurteilung war das Geständnis der Angeklagten:
"So soll sie durch verständige Fragen an heimlichen Stätten als zu weiterer Erfahrung dienstlich ist, besichtigt werden. Item wo aber das Kindlein, so kürzlich ertötet worden ist, dass der Mutter die Milch in den Brüsten noch nicht vergangen, die mag an den Brüsten gemolken werden. Welcher dann in den Brüsten vollkommene Milch gefunden wird, die hat deshalb einer starken Vermutung peinlicher Frage halber wider sich."
Gestand eine Frau nicht gleich beim ersten Verhör die Tötung des Kindes, konnte die "peinliche Befragung" angeordnet werden.
Über Elisabeth Wehden berichtet ein Protokoll aus dem Jahr 1728:
"Die Angeklagte sagt, sie hätte nicht vermeinet, dass sie schwanger gewesen, weil sie keine Bewegung bei sich empfunden, worauf sie der Scharfrichter an den Zehen angeseilt. Die spanischen Stiefel sind ihr aufgesetzt worden, die Schrauben auf den Beinen zugeschraubt. Sie hat um das Jüngste Gericht gebeten. Die linke Schraube gewendet. Peinlich Befragte hat gerufen: "Du lieber Herr Christ, komme mir zu Hilfe!" An beiden Beinen die Schrauben höher gesetzt, daran geklopft. Alsbald sie bekennet, sie sei allein im Garten gewesen, ohne eines Menschen Hilfe das Kind geboren und alsbald dem Kinde mit der Hand die Gurgel zugedrücket und um das Leben gebracht."
Die Folter erstreckte sich zum Teil über mehrere Tage, zwischen denen die Knechte Pausen für eine körperliche "Erholung" der Frau einlegten, um dann mit verschärften Mitteln fortzufahren.
Das unter der Folter gemachte Geständnis musste ohne Zwang wiederholt werden. Wurde es widerrufen, begann die Folter von neuem.
Labouvie: "Die verheiratete Frau wird überhaupt nicht in diesem Zusammenhang erwähnt, das heißt, man ging wohl davon aus, dass verheiratete Frauen keinen Grund haben, ihr ehelich geborenes Kind zu töten oder auszusetzen, was natürlich überhaupt nicht der Realität entspricht. Zum Beispiel Italien, wo es schon sehr früh die Möglichkeit gab, Kinder in Findelhäusern abzugeben, wo die Mehrzahl der abgegebenen Kinder eheliche Kinder waren, die aber, weil es so viele Kinder in diesen Familie gab, nicht mehr ernährt werden konnten."
Als Gründe für ihren Kindsmord gab Elisabeth Wehden an:
"Der Kindvater habe gesagt, wenn sie sagt, dass er Vater des Kindes wäre, wollte er sie ermorden, und sie sollte ins Wasser springen. Ihre Eltern hätten sie totschlagen wollen und der Bruder sie totschießen. Auch die Leute bei denen sie in Einbeck gelebt, sie im Hause nicht leiden wollten."
Labouvie: "Also es wurde in jedem Fall mit dem Tod bestraft: Mit Ertränken oder auch mit Pfählen. Also es gab ganz verschiedene Formen sehr grausamer Todesarten für dieses Delikt."
Kaschuba: "Wir müssen nicht nur davon ausgehen, dass da junge Frauen um die Geburt herum und nach der Geburt in Not gekommen sind, sondern dass sie schon Strategien entwickeln mussten während der Schwangerschaft, entweder die Dinge unsichtbar zu halten oder Überlegungen anzustellen, was wird denn damit? Und in aller Regel waren sie ja mit diesen Überlegungen allein."
Labouvie: "Sobald sie das Kind spüren, sollten sie anzeigen oder bis spätestens zum fünften Schwangerschaftsmonat – eine Verpflichtung, das öffentlich zu machen, was natürlich ganz viele Frauen auch zurückschreckte, weil damit klar war, dass sie unzüchtig waren. Diese Verpflichtung war eigentlich dazu da, Kindsmord zu verhindern, dass sie heimlich entbinden und heimlich eben ihre Kinder umbringen. Der Effekt war allerdings doch auch sehr stark umgekehrt, dass gerade durch diese Anzeigepflicht die Frauen dazu gebracht wurden, von Anfang an zu verheimlichen und dann eben ihre Kinder zu töten."
Denn schon allein die Unzucht war strafbar. Wegen unehelichem Geschlechtsverkehr wurde die Betroffene mit Hurenstrafen gedemütigt, wie: Einspannen in den Hurenwagen, Zuchthaus oder Landesverweisung.
Den beteiligten Männern drohte weder Strafe noch Ehrverlust.
Labouvie: "Der Körper war ganz zentral für die Ehrvorstellung des weiblichen Geschlechts. Wem sie diesen Körper gibt oder auch nicht gibt, war ganz entscheidend für das Ehrverständnis von Frauen. Also, Männer haben aus ganz anderen Gründen ihre Ehre verloren: Da ging’s um Kampf, um Trinkfestigkeit, um gute Arbeit. Ein Meister zum Beispiel, also dass er in seiner Zunft anerkannt war, also über ihre Position innerhalb ihres Berufes."
Mit der Differenzierung des Straftatbestandes zum Ende des 18. Jahrhunderts ging eine Milderung der Strafen für den Kindsmord einher. Neben der Tat berücksichtigte man mehr und mehr auch die Umstände der Frau, und die Verfahren endeten mit Zuchthausstrafen.
Ab Mitte des 18. Jahrhunderts schoss fast überall in Europa die Zahl der Aussetzungen in die Höhe. Analog zur Bevölkerungszunahme stieg die Verelendung der Menschen, Massenarmut breitete sich aus.
Um dem Kindsmord vorzubeugen wurden in allen Europäischen Städten Findelhäuser mit Drehladen eingerichtet.
Katharina II. stiftete das kaiserliche Findelhaus für Moskau mit den Worten:
"Sich der Armen und Notleidenden anzunehmen und für die Vermehrung nützlicher Einwohner in dem Staate zu sorgen, sind zwei Hauptpflichten und Tugenden jedes gottseligen Regenten."
Kaiser Joseph II. erklärte zur Einweihung des Findelhauses in Wien:
"Das Mitleiden gegen Unglückliche, denen ihre traurigen Umstände Hilfe und Beistand unentbehrlich, aber die Dürftigkeit dieselben zu verschaffen möglich machen, haben seine Majestät bewogen, diese Stätte einzurichten."
Und in Frankreich schrieb ein Napoleonisches Dekret in jedem Arrondissement ein Findelhaus vor. In den folgenden Jahrzehnten stieg die Zahl der Findelkinder auf jährlich 30.000 an.
Kaschuba: "Dass in diesem 18. Jahrhundert das Findelkindwesen auch so zunimmt, hat sicher mit beiden Seiten zu tun: Zum einen mit dem 18. Jahrhundert als einem Jahrhundert der wachsenden Mobilität. Handwerker, auch die ersten Manufaktur- und Fabrikarbeiter in England werden mobil, die Städte wachsen, es entsteht eine große Nachfrage nach Dienstboten. Also ein Dienstbotenpaar kann im Grunde genommen im 18. Jahrhundert ein Kleinkind kaum aufziehen und versorgen, weil beide ja zehn bis zwölf Stunden Arbeitstag haben. Gleichzeitig nehmen die Bevölkerungszahlen zu, und die Agrarregionen können ihre Menschen kaum mehr ernähren, die wandern dort ab. Also da haben wir ein europäisches Jahrhundert bereits der Mobilität."
Die erste in Deutschland bekannte Drehlade wurde 1709 in Hamburg installiert. Auf dem Schild neben dem Torno war zu lesen:
"Auf dass der Kindermord nicht künftig wird verübet,
Der von tyrannischer Hand der Mutter oft geschieht,
Die gleichsam Molochs Wuth ihr Kindlein übergiebet,
Ist dieser Torno hier auf ewig aufgericht."
Um die Weglegung größerer Kinder zu verhindern, ließ man den Hamburger Torno schon nach 2 Monaten durch das Anbringen von zwei Stangen verkleinern, genau wie 500 Jahre vorher bei der ersten Drehlade in Rom. Trotzdem gab es Anfang des Folgejahres schon über 200 Torno-Kinder. Um den Missbrauch zu unterbinden wurde die Lade nach fünf Jahren entfernt.
Hunnecke: "An allen Orten, in allen großen Städten, in denen es gut eingerichtete Findelhäuser gab und die aussetzenden Eltern die Gewähr haben konnten, dass ihre Kinder in diesen, zum Teil prächtig eingerichteten Anstalten gut aufgehoben sein würden, in den Augen der Eltern, sehr viel besser als bei sich zu Hause, dass man an solchen Orten von dem Angebot der Findelhäuser bereitwillig Gebrauch gemacht hat."
Volker Hunecke, Professor für Geschichte der TU in Berlin.
Hunnecke: "Und das vielleicht schlagendste Beispiel in dieser Hinsicht, ist London um die Mitte des 18 Jahrhunderts, als in einer Stadt, in der es bis dahin, wenigstens seit dem 16. Jahrhundert, überhaupt keine Findelkinderfürsorge mehr gegeben hatte, mit der ganz plötzlichen Einrichtung eines neuen, großen, im übrigen auch noch heute bestehenden Findelhauses, eine ganz neue Situation eintrat und in kürzester Zeit, drei, dreieinhalb Jahren über 10.000 Kinder diesem Findelhaus anvertraut worden sind."
Labouvie: "Wenn es Säuglinge waren, wurde von Staatswegen eine Amme gesucht und dort wurde das Kind hingegeben. Diese Frauen bekamen Geld dafür bis sie ein bestimmtes Alter hatten und dann kamen die Kinder ins Waisenhaus. Aber man kann davon ausgehen, dass der allergrößte Teil dieser Kinder das nicht überlebt hat."
Viele Mütter betrachteten die Aussetzung nicht als endgültige Trennung von ihren Kindern. Sie hatten ganz einfach kein Geld für eine Amme und wollten ihr Kind nach Beendigung der Stillzeit wieder zurück holen. Dass sie zumindest darauf hofften, zeigen die Erkennungszeichen, welche den meisten Kindern in das Findelhaus mitgegeben wurden:
Durchgerissene Papierstücke mit Name und Geburtsdatum, zerschnittene Seidenbänder, durchtrennte Stoffreste oder Teile von Medaillons. Den jeweils abgetrennten Teil behielten die Frauen zu späteren Identifizierung ihres Kindes.
Denn die Zustände in den Findelhäusern konnten den abgebenden Müttern nicht verborgen geblieben sein. Krätze, Unterernährung und Tuberkulose waren an der Tagesordnung. Es gab Misshandlungen und sexuelle Übergriffe durch das Personal, wie ein Bamberger Zeitgenosse die Zustände zusammenfasst:
"Es ist ein drückender Gedanke, unschuldige, der Hilfe so bedürftige Geschöpfe wie Züchtlinge behandelt zu sehen, und sich in Verlegenheit versetzt zu fühlen, ob man das Findel- und Waisenhaus im Zuchthaus oder das Zuchthaus im Waisenhaus aufsuchen soll."
Die extreme Zunahme von Findelkindern wiederholte sich überall dort, wo man den Beispielen von Hamburg, London und Wien nacheiferte. In Kassel und Mainz etwa, die nie ein nachgewiesenes Aussetzungsproblem hatten, gab es plötzlich Hunderte von Findelkindern nachdem die Drehladen eingerichtet wurden.
Und der Direktor des Mailänder Findelhauses klagt:
"Dass fast die Hälfte der Kinder aus der Armenbevölkerung in den Torno geworfen wird."
Für die Mitte des 19. Jahrhunderts geht man bei einer Zahl von knapp 400 Findelhäusern in Europa von 500.000 Findelkindern aus. Im ganzen 19. Jahrhundert schätzt man ihre Menge auf mehrere Million. Findelkinder gab es also dort, wo es Findelhäuser gab. Diese Tatsache spiegelt aber vor allem den enormen Bedarf an Kinderfürsorge wieder, der zur damaligen Zeit nur marginal ausgeprägt war.
Labouvie: "Zum Teil sind die Findelhäuser ja ein Kombination gewesen aus Hebammen-Lehranstalt, Entbindungsanstalt und Findelhaus, wo Frauen eben, sie nichtehelich schwanger sind, die keine andere Möglichkeit haben, die aus der Unterschicht sind, kostenlos entbinden können. Dafür sich aber zur Verfügung stellen als Lehrobjekte für die angehenden Hebammen und vor allem auch für Ärzte."
Wurde ein uneheliches Kind als Schande und die Frau als entehrt stigmatisiert, so war Verheimlichung nicht nur individuelle Strategie, sondern wurde durch die Anonymisierung in den Gebäranstalten zu einer öffentlich probaten Lösung.
Als zeitweise größte Findelanstalt der Welt hatte die Wiener Einrichtung unter Joseph II. ein eigenes Modell entwickelt.
Lehmann: "In dem Wiener Findelhaus ist es so gewesen, das - wenn wir bei dem Gebärhaus bleiben – das war in vier Klassen eingeteilt."
Der Hamburger Professor für Geburtshilfe Volker Lehmann.
Lehmann: "Die 1. Klasse war nicht einsehbar und die dortigen Frauen konnten auch ihren Diener mitbringen. Wobei diese Diskretion das Entscheidenste und das Wichtigste für diese Gebäranstalt war, dass also keiner erfuhr, wer da lag. Und dann gab es 2., 3. Klasse, das waren die, die einen gewissen Beitrag zahlen konnten. Und dann gab es die 4. Klasse in denen die Mittellosen entbunden wurden. Die 4. Klasse musste sich auch bereithalten für Studentenausbildung und Hebammenausbildung. Es ist so gewesen, dass die Frauen, die dort entbunden hatten und ihr Kind abgegeben hatten auch gleichzeitig als Ammen dort weiter bleiben konnten, was für viele wichtig war, weil das auch soziale Versorgung für sie war. Die Frauen haben außer ihren Kindern dann noch andere mitgestillt."
Zur Mitte des 19. Jahrhunderts kam die Hälfte der in Wien geborenen Kinder unehelich zu Welt. In manchen Jahren ging ein Drittel der überhaupt in der Stadt geborenen Kinder den Weg in das Findelhaus.
Überall in Europa erreichten die Aussetzungszahlen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Höchststand und die Finanzierung der Findelhäuser brach unter dem Ansturm der Mütter zusammen. Die Frage nach Alternativen wurde zum vieldiskutierten Thema in der Öffentlichkeit und die Regierungen waren zum Handeln gezwungen.
Die Unzuchtparagraphen, nach denen allein schon der uneheliche Beischlaf strafbar war, wurden aufgehoben. Die Funktion der Drehladen als anonyme Aufnahmestellen entfiel, und man mauerte ihre Öffnungen zu. Mit der Einführung sozialer Reformen bis zum Ende des Jahrhunderts wurden nach und nach die Findelhäuser geschlossen.
Hunnecke: "Eine Alternative wäre, das Kind eben selbst aufzuziehen und um das den Eltern zu erleichtern, sind ja vorher Stillprämien, Stillgelder, also Vorläufer, fernste Vorläufer unseres modernen Kindergeldes, in Italien, in Frankreich, in anderen Ländern eingeführt worden, weil die Verantwortlichen in der Regierung, in der Verwaltung durchaus ein Einsehen dafür hatten, dass Mütter, allein stehende, verheiratete Eltern ihre Kinder nicht einfach aus Jux und Drall aussetzten, sondern durch bitterste, wirtschaftliche, finanzielle Notwendigkeit dazu gezwungen waren, diesen Schritt zu tun."
Kaschuba: "Während am Anfang des 19. Jahrhunderts die Fabrikarbeiterehe eher noch die Ausnahme ist, aus ökonomischen Gründen zum großen Teil, hat sich das am Ende des 19.Jahrhunderts stabilisiert. Es gibt in den Städten Arbeiterwohnungsbau, es gibt die Heiratsfreiheit, die am Anfang des 19. Jahrhunderts ja noch gar nicht überall da ist. Man darf ja nicht beliebig heiraten, man braucht ja in bestimmten Regionen die Zustimmung des Dienstherren oder der Gemeinde, die Armen brauchen das sowieso. Es gibt einen Grundanspruch auf Krankheitsversorgung, es gibt einen Grundanspruch auf Sozialversorgung. Also es ist sicherlich die Grundlage einer modernen Gesellschaft auf sozialpolitischem Fundaments, die am Ende des 19. Jahrhunderts zumindest in Umrissen entsteht."
Seit Beginn des 3. Jahrtausends erlebt die Drehlade in Form der Babyklappe ihre Renaissance, wenn auch vor völlig anderem sozialen und ökonomischen Hintergrund.
Trotzdem steht man vor ähnlichen Problemen wie schon im Mittelalter: Es kommt zu Klappeneinlegungen von Kleinkindern, eine Abnahme der Kindstötungen kann nicht nachgewiesen werden und durch die Babyklappe, sowie der Chance zu anonymer Geburt stellt sich die Frage, ob damit nicht erst ein Bedarf nach Nutzung dieser Möglichkeiten geweckt wird?
"Als Totschläger und Kindermörder geben sich die zu erkennen, die selbst Hand an sie legen und schon den ersten Lebenshauch der Kinder in Rohheit und grässlicher Gefühllosigkeit ersticken und unterdrücken, sowie die, welche sie in einen Fluss oder die Meerestiefe werfen, nachdem sie sie mit einem schweren Gegenstande belastet, damit sie durch dessen Gewicht schneller untersinken.
Andere aber bringen sie in die Wildnis, um sie auszusetzen , wie sie selbst sagen, in der Hoffnung auf deren Erhaltung, in Wirklichkeit aber zum grässlichsten Verderben, denn alle Mensch fressenden Tiere kommen ungehindert an sie heran und tun sich gütlich an den Kindern, das die einzigen Pfleger, die vor allen zur Erhaltung der Kinder Verpflichteten, Vater und Mutter, ihnen vorgesetzt haben."
Der jüdische Theologe Philo beschreibt Verhältnisse um das Jahr Null, die von der Antike bis ins frühe Mittelalter hinein zur Normalität gehörten.
In Griechenland wie in Rom war die Kindstötung und Aussetzung nichts Unrechtes. Im alten Athen bestimmte das Gesetz die Aussetzung missgebildeter Kinder.
Labouvie: "Dass Kinder ausgesetzt oder getötet wurden, ist für uns heute natürlich ganz schwierig zu verstehen."
Geschichtsprofessorin Eva Labouvie von der Universität Magdeburg.
Labouvie: "Ist allerdings, wenn man das von der Antike her sieht, ein Vorgang, der durchaus zu Kulturen, sagen wir mal spartanischer Kultur, griechischer Kultur, zu unserer frühen Kultur durchaus gehört hat. Es gab eine Berechtigung das zu tun und es waren in dieser Zeit auch die Männer, die Väter, die das getan haben, weil sie die Hausgewalt inne hatten."
In Rom wurde dieses Recht durch die "patria potestas", dem Gesetz über die väterliche Gewalt geregelt und. Es war Teil der staatlichen Exekutivgewalt. Diese Rechtsstellung besaß der Hausvater seit dem 3. Jahrhundert vor Christus. Sie unterwarf alle Mitglieder eines Haushaltes der Gewalt des Familienoberhauptes.
Ein Hausvater konnte sogar die Nachkommen seines volljährigen Sohnes töten, aussetzen oder verkaufen. Kinder wurden nach ihrem Nutzen für die Familie betrachtet. Wie in Athen war die Aussetzung missgebildeter Kinder durch die patria potestas vorgeschrieben.
"Tolle Hunde bringen wir um, einen wilden und unbändigen Ochsen hauen wir nieder, ungestalte Geburten schaffen wir aus der Welt, auch Kinder, wenn sie gebrechlich und missgestaltet zur Welt kommen, ersäufen wir. Es ist nicht Zorn, sondern Vernunft, das Unbrauchbare von dem Gesunden abzusondern."
So rechtfertigte es Seneca, ein römischer Zeitgenosse Philos.
Wer ein Neugeborenes fand und aufzog, konnte es behalten und später als Sklaven verkaufen, zur Prostitution erziehen oder verstümmeln, um Mitleid beim Betteln zu erregen.
"Seht jene mit den zerquetschten Füßen. Dieser hat keine Arme, jenem hängen die Schultern formlos herunter, um durch sein groteskes Aussehen Gelächter hervorrufen zu können. Ein Laboratorium für die Erzeugung menschlicher Ruinen, eine Höhle, angefüllt mit Gliedern, die man lebendigen Kindern abgerissen hat."
Labouvie: "Es war natürlich im Recht des Vaters, das zu tun. Es hat natürlich vor allem die Mädchen betroffen. Die Söhne blieben meist davon unbetroffen. Sie waren gern gesehene Nachkommen, die ja natürlich auch ein Erbe weitergaben und auch Positionen in der Gesellschaft einnehmen konnten. Der Überschuss an Mädchen scheint eine Rolle gespielt zu haben. Dort galt auch dieses Recht der Kindsaussetzung oder auch Tötung. Und es waren Geburten, die nicht dem Normalen entsprachen: Zwillingsgeburten, Kinder, die behindert waren oder anders aussahen."
Mädchen verursachten vor allem Kosten. Ab dem zwölften Lebensjahr konnte der Hausvater sie zwar verheiraten, aber dazu war eine erhebliche Mitgift nötig. In der Regel ließ man nur das erste Mädchen am Leben. In den 600 Familien, die im zweiten Jahrhundert in Delphi registriert waren, hatten nur ein Prozent zwei Töchter.
"Das Kind, begabt mit einer unsterblichen Seele, muss bewahrt werden. Denn Gott haucht ihnen Seelen ein um ihres Lebens, nicht um ihres Todes Willen."
So die Forderung des lateinischen Theologen Lactantius während der Ausbreitung des Christentums im 4. Jahrhundert.
"Die Aussetzung ist ebenso sündhaft wie die Tötung."
Nach der christlichen Ethik wurde das Aussetzen und Töten von Neugeborenen zu einer schweren rechtlichen und moralischen Verfehlung.
Mit Einführung des Christentums als Staatsreligion wurden Kindesaussetzung und Tötung im Römischen Reich verboten und mit Strafen wie Blendung oder Hinrichtung geahndet.
Labouvie: "Das war auch einer der schlimmsten Gründe für die Verurteilung, dass man das Kind durch diese Tötung der Heiligen Taufe entzog. Es hatten diese getöteten Kinder ohne Taufe keine Möglichkeit, in den Himmel zu kommen."
Im beginnenden Mittelalter wurden in den größeren Städten an Kirchen Marmorbecken angebracht, in welche man die unerwünschten Kinder ablegen konnte.
"Die Sitte wollte erreichen, dass dann, wenn ein ausgesetztes Kindchen gefunden würde, jemand da sei, der, durch Mitgefühl aufgerufen, das Kind nähme und es ernähre. In einem solchen Fall nähme der Küster das Kind auf und frage in der Bevölkerung, ob einer es zur Ernährung aufnehmen würde und dann als sein Eigenes haben wolle."
Trotz Christianisierung und Strafverfolgung konnte der Kindstötung nicht Einhalt geboten werden. Eine institutionelle Versorgung von Findelkindern gab es noch nicht.
Kaschuba: "Zum Teil beginnen die Vorformen in den Klöstern, die dann so kleine Abteilungen einrichten, in denen dann Kinder aufgezogen und erzogen werden."
Wolfgang Kaschuba, Ethnologieprofessor an der Berliner Humboldt-Universität.
Kaschuba: "Dass es manchmal ja für Findelkinder, gerade als Mädchen bedeutete, zwar ohne Eltern, vielleicht auch ohne Wärme – falls das die anderen Kinder hatten, wir wissen das ja gar nicht – aber möglicherweise als Findelkind in einer Klosteranlage mit mehr Bildung aufzuwachsen als sie jemals bekommen hätte bei ihren bäuerlichen Eltern."
Um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend geht man in Europa von einem Zahlenverhältnis zwischen Mann und Frau von 160 zu 100 aus. Bei einer Geburtenrate von 10 bis 15 Kindern betraf das Schicksal von Aussetzung und Tötung nach wie vor in erster Linie Mädchen.
Kaschuba: "Kinder waren noch nicht die geliebten Nachwüchse wie wir das heute haben. Kinder waren natürlich auch Not und Esser – und dann Arbeitskräfte. Im Normalfall galt eben, dass die Kinder mit fünf, sechs, sieben Jahren mitzuarbeiten hatten. Wenn ein Kind ausgesetzt worden ist im Mittelalter, hat es zunächst in der Regel eher existenzielle Gründe. Also die Frau oder die Familie hat sich nicht geschämt, weil das Kind unehelich war, sondern es ging darum, es nicht ernähren zu können und auch den eigenen Körper insofern zu schonen, es einfach auszusetzen und nicht beide Leben zu gefährden."
Polygamie war im Mittelalter noch weit verbreitet. Die aus den illegalen Verhältnissen gezeugten Nachkommen wurden den ehelichen Kindern zunächst gleich gestellt, waren aber nicht Bestandteil der Erbfolge.
Labouvie: "Ehe ist ja vorher eher ein Versprechen, wird immer mehr dann zu einem Akt, der offiziell in der Kirche vor einem Geistlichen stattfindet, das heißt also, eine Ehe in unserem heutigen Sinne, in der katholischen Kirche als Sakrament, in der protestantischen Kirche als ein Versprechen gegenüber Gott. Und alles, was nicht Ehe ist hat damit ein schlechteren Stellenwert."
In dem Maße, in dem die Kirche außerehelichen Verkehr verfolgt, werden uneheliche Kinder zu Kindern der Sünde. Mit der drohenden Bestrafung ihrer Mütter steigt die Zahl der Aussetzungen - zusätzlich zu denen, die aus Armut weggelegt werden.
Die Einrichtung des ersten Findelhauses im Jahre 787 von Bischof Dateus erfolgte mit der Absicht:
"Leib und Seele von Kindern aus illegitimen Verbindungen zu retten."
Die Abgabe der Kinder erfolgte nur unter Namensnennung der Mutter. Die Kinder wurden 15 bis 18 Monate lang von Ammen versorgt und konnten bis zum siebten Lebensjahr in der Einrichtung bleiben.
Wenn sie die Säuglingszeit überlebten.
Die erste Drehlade zur Aufnahme von Neugeborenen, im italienischen Torno, wurde um das Jahr 1200 am Römischen Ospedale di Santo Spirito angebracht, einem Hospital des Heilig - Geist Ordens.
Es handelte sich dabei um eine hölzernen Drehteller oder Zylinder mit einer Mulde, in die der Säugling hineingelegt werden konnte. Anschießend wurde die Lade um 180 Grad gedreht. Die Aussetzung des Kindes erfolgte dadurch erstmals kontrolliert und dennoch anonym.
"Die Drehlade unserer Anstalt wird mit dem abendlichen Ave-Maria eröffnet und bei Tagesanbruch geschlossen. Im Innern, neben dem Torno, wacht eine Person, um die Kinder in Empfang zu nehmen. Wird jener Apparat gedreht, lässt er einige Glöcklein erklingen, um der Gefahr zu wehren, dass der "ricoglitore", wenn ein Kind ausgesetzt wird, eingeschlafen sei. Eine besondere Vorrichtung setzt mit dem Drehen des Torno andere Glöcklein in einem Raum in Bewegung, in dem zwei Frauen wachen, um die auf diese Weise aufgenommenen Findlinge sofort zu versorgen."
In den folgenden Jahrhunderten wurden viele Findelhäuser nach dem Vorbild des Heilig - Geist Ordens in Italien und Spanien gegründet.
Der ursprüngliche Zweck von Findelhäusern und Drehlade war die Eindämmung von Aussetzung und Tötung der Neugeborenen. Doch in allen Städten, die solch einen Torno einrichteten, nahm die Zahl der Findelkinder in erschreckendem Maße zu, ohne dass eine Abnahme der Kindermorde nachzuweisen war.
Um der Weglegung größerer Kinder entgegenzuwirken, ließ man Gitterstäbe vor den Öffnungen der Drehladen anbringen, so dass gerade ein Neugeborenes hindurch passte.
Mit der Übernahme christlicher Anschauungen in das weltliche Strafrecht wurde auch die Verfolgung von Kindesmord und Aussetzung intensiviert. Die einzige von kirchlichen und weltlichen Autoritäten anerkannte Lebensform von Sexualität war die Ehe.
Labouvie: "Im Mittelalter können wir an der Gesetzgebung sehen, dass für dieses Delikt die Eltern verurteilt wurden, während ab der Carolina, also der Halsgerichtsordnung Karls V, nur noch die Mutter und zwar die ledige, also die nicht verheiratete Mutter dafür bestraft wird, dass sie ihr nichteheliches Kind tötet."
Nach der Carolina oder auch "Peinlichen Gerichtsordnung" galt die Tötung eines neugeborenen Kindes als eines der schwersten Verbrechen überhaupt und konnte nur durch den Tod gesühnt werden. Voraussetzung für eine Verurteilung war das Geständnis der Angeklagten:
"So soll sie durch verständige Fragen an heimlichen Stätten als zu weiterer Erfahrung dienstlich ist, besichtigt werden. Item wo aber das Kindlein, so kürzlich ertötet worden ist, dass der Mutter die Milch in den Brüsten noch nicht vergangen, die mag an den Brüsten gemolken werden. Welcher dann in den Brüsten vollkommene Milch gefunden wird, die hat deshalb einer starken Vermutung peinlicher Frage halber wider sich."
Gestand eine Frau nicht gleich beim ersten Verhör die Tötung des Kindes, konnte die "peinliche Befragung" angeordnet werden.
Über Elisabeth Wehden berichtet ein Protokoll aus dem Jahr 1728:
"Die Angeklagte sagt, sie hätte nicht vermeinet, dass sie schwanger gewesen, weil sie keine Bewegung bei sich empfunden, worauf sie der Scharfrichter an den Zehen angeseilt. Die spanischen Stiefel sind ihr aufgesetzt worden, die Schrauben auf den Beinen zugeschraubt. Sie hat um das Jüngste Gericht gebeten. Die linke Schraube gewendet. Peinlich Befragte hat gerufen: "Du lieber Herr Christ, komme mir zu Hilfe!" An beiden Beinen die Schrauben höher gesetzt, daran geklopft. Alsbald sie bekennet, sie sei allein im Garten gewesen, ohne eines Menschen Hilfe das Kind geboren und alsbald dem Kinde mit der Hand die Gurgel zugedrücket und um das Leben gebracht."
Die Folter erstreckte sich zum Teil über mehrere Tage, zwischen denen die Knechte Pausen für eine körperliche "Erholung" der Frau einlegten, um dann mit verschärften Mitteln fortzufahren.
Das unter der Folter gemachte Geständnis musste ohne Zwang wiederholt werden. Wurde es widerrufen, begann die Folter von neuem.
Labouvie: "Die verheiratete Frau wird überhaupt nicht in diesem Zusammenhang erwähnt, das heißt, man ging wohl davon aus, dass verheiratete Frauen keinen Grund haben, ihr ehelich geborenes Kind zu töten oder auszusetzen, was natürlich überhaupt nicht der Realität entspricht. Zum Beispiel Italien, wo es schon sehr früh die Möglichkeit gab, Kinder in Findelhäusern abzugeben, wo die Mehrzahl der abgegebenen Kinder eheliche Kinder waren, die aber, weil es so viele Kinder in diesen Familie gab, nicht mehr ernährt werden konnten."
Als Gründe für ihren Kindsmord gab Elisabeth Wehden an:
"Der Kindvater habe gesagt, wenn sie sagt, dass er Vater des Kindes wäre, wollte er sie ermorden, und sie sollte ins Wasser springen. Ihre Eltern hätten sie totschlagen wollen und der Bruder sie totschießen. Auch die Leute bei denen sie in Einbeck gelebt, sie im Hause nicht leiden wollten."
Labouvie: "Also es wurde in jedem Fall mit dem Tod bestraft: Mit Ertränken oder auch mit Pfählen. Also es gab ganz verschiedene Formen sehr grausamer Todesarten für dieses Delikt."
Kaschuba: "Wir müssen nicht nur davon ausgehen, dass da junge Frauen um die Geburt herum und nach der Geburt in Not gekommen sind, sondern dass sie schon Strategien entwickeln mussten während der Schwangerschaft, entweder die Dinge unsichtbar zu halten oder Überlegungen anzustellen, was wird denn damit? Und in aller Regel waren sie ja mit diesen Überlegungen allein."
Labouvie: "Sobald sie das Kind spüren, sollten sie anzeigen oder bis spätestens zum fünften Schwangerschaftsmonat – eine Verpflichtung, das öffentlich zu machen, was natürlich ganz viele Frauen auch zurückschreckte, weil damit klar war, dass sie unzüchtig waren. Diese Verpflichtung war eigentlich dazu da, Kindsmord zu verhindern, dass sie heimlich entbinden und heimlich eben ihre Kinder umbringen. Der Effekt war allerdings doch auch sehr stark umgekehrt, dass gerade durch diese Anzeigepflicht die Frauen dazu gebracht wurden, von Anfang an zu verheimlichen und dann eben ihre Kinder zu töten."
Denn schon allein die Unzucht war strafbar. Wegen unehelichem Geschlechtsverkehr wurde die Betroffene mit Hurenstrafen gedemütigt, wie: Einspannen in den Hurenwagen, Zuchthaus oder Landesverweisung.
Den beteiligten Männern drohte weder Strafe noch Ehrverlust.
Labouvie: "Der Körper war ganz zentral für die Ehrvorstellung des weiblichen Geschlechts. Wem sie diesen Körper gibt oder auch nicht gibt, war ganz entscheidend für das Ehrverständnis von Frauen. Also, Männer haben aus ganz anderen Gründen ihre Ehre verloren: Da ging’s um Kampf, um Trinkfestigkeit, um gute Arbeit. Ein Meister zum Beispiel, also dass er in seiner Zunft anerkannt war, also über ihre Position innerhalb ihres Berufes."
Mit der Differenzierung des Straftatbestandes zum Ende des 18. Jahrhunderts ging eine Milderung der Strafen für den Kindsmord einher. Neben der Tat berücksichtigte man mehr und mehr auch die Umstände der Frau, und die Verfahren endeten mit Zuchthausstrafen.
Ab Mitte des 18. Jahrhunderts schoss fast überall in Europa die Zahl der Aussetzungen in die Höhe. Analog zur Bevölkerungszunahme stieg die Verelendung der Menschen, Massenarmut breitete sich aus.
Um dem Kindsmord vorzubeugen wurden in allen Europäischen Städten Findelhäuser mit Drehladen eingerichtet.
Katharina II. stiftete das kaiserliche Findelhaus für Moskau mit den Worten:
"Sich der Armen und Notleidenden anzunehmen und für die Vermehrung nützlicher Einwohner in dem Staate zu sorgen, sind zwei Hauptpflichten und Tugenden jedes gottseligen Regenten."
Kaiser Joseph II. erklärte zur Einweihung des Findelhauses in Wien:
"Das Mitleiden gegen Unglückliche, denen ihre traurigen Umstände Hilfe und Beistand unentbehrlich, aber die Dürftigkeit dieselben zu verschaffen möglich machen, haben seine Majestät bewogen, diese Stätte einzurichten."
Und in Frankreich schrieb ein Napoleonisches Dekret in jedem Arrondissement ein Findelhaus vor. In den folgenden Jahrzehnten stieg die Zahl der Findelkinder auf jährlich 30.000 an.
Kaschuba: "Dass in diesem 18. Jahrhundert das Findelkindwesen auch so zunimmt, hat sicher mit beiden Seiten zu tun: Zum einen mit dem 18. Jahrhundert als einem Jahrhundert der wachsenden Mobilität. Handwerker, auch die ersten Manufaktur- und Fabrikarbeiter in England werden mobil, die Städte wachsen, es entsteht eine große Nachfrage nach Dienstboten. Also ein Dienstbotenpaar kann im Grunde genommen im 18. Jahrhundert ein Kleinkind kaum aufziehen und versorgen, weil beide ja zehn bis zwölf Stunden Arbeitstag haben. Gleichzeitig nehmen die Bevölkerungszahlen zu, und die Agrarregionen können ihre Menschen kaum mehr ernähren, die wandern dort ab. Also da haben wir ein europäisches Jahrhundert bereits der Mobilität."
Die erste in Deutschland bekannte Drehlade wurde 1709 in Hamburg installiert. Auf dem Schild neben dem Torno war zu lesen:
"Auf dass der Kindermord nicht künftig wird verübet,
Der von tyrannischer Hand der Mutter oft geschieht,
Die gleichsam Molochs Wuth ihr Kindlein übergiebet,
Ist dieser Torno hier auf ewig aufgericht."
Um die Weglegung größerer Kinder zu verhindern, ließ man den Hamburger Torno schon nach 2 Monaten durch das Anbringen von zwei Stangen verkleinern, genau wie 500 Jahre vorher bei der ersten Drehlade in Rom. Trotzdem gab es Anfang des Folgejahres schon über 200 Torno-Kinder. Um den Missbrauch zu unterbinden wurde die Lade nach fünf Jahren entfernt.
Hunnecke: "An allen Orten, in allen großen Städten, in denen es gut eingerichtete Findelhäuser gab und die aussetzenden Eltern die Gewähr haben konnten, dass ihre Kinder in diesen, zum Teil prächtig eingerichteten Anstalten gut aufgehoben sein würden, in den Augen der Eltern, sehr viel besser als bei sich zu Hause, dass man an solchen Orten von dem Angebot der Findelhäuser bereitwillig Gebrauch gemacht hat."
Volker Hunecke, Professor für Geschichte der TU in Berlin.
Hunnecke: "Und das vielleicht schlagendste Beispiel in dieser Hinsicht, ist London um die Mitte des 18 Jahrhunderts, als in einer Stadt, in der es bis dahin, wenigstens seit dem 16. Jahrhundert, überhaupt keine Findelkinderfürsorge mehr gegeben hatte, mit der ganz plötzlichen Einrichtung eines neuen, großen, im übrigen auch noch heute bestehenden Findelhauses, eine ganz neue Situation eintrat und in kürzester Zeit, drei, dreieinhalb Jahren über 10.000 Kinder diesem Findelhaus anvertraut worden sind."
Labouvie: "Wenn es Säuglinge waren, wurde von Staatswegen eine Amme gesucht und dort wurde das Kind hingegeben. Diese Frauen bekamen Geld dafür bis sie ein bestimmtes Alter hatten und dann kamen die Kinder ins Waisenhaus. Aber man kann davon ausgehen, dass der allergrößte Teil dieser Kinder das nicht überlebt hat."
Viele Mütter betrachteten die Aussetzung nicht als endgültige Trennung von ihren Kindern. Sie hatten ganz einfach kein Geld für eine Amme und wollten ihr Kind nach Beendigung der Stillzeit wieder zurück holen. Dass sie zumindest darauf hofften, zeigen die Erkennungszeichen, welche den meisten Kindern in das Findelhaus mitgegeben wurden:
Durchgerissene Papierstücke mit Name und Geburtsdatum, zerschnittene Seidenbänder, durchtrennte Stoffreste oder Teile von Medaillons. Den jeweils abgetrennten Teil behielten die Frauen zu späteren Identifizierung ihres Kindes.
Denn die Zustände in den Findelhäusern konnten den abgebenden Müttern nicht verborgen geblieben sein. Krätze, Unterernährung und Tuberkulose waren an der Tagesordnung. Es gab Misshandlungen und sexuelle Übergriffe durch das Personal, wie ein Bamberger Zeitgenosse die Zustände zusammenfasst:
"Es ist ein drückender Gedanke, unschuldige, der Hilfe so bedürftige Geschöpfe wie Züchtlinge behandelt zu sehen, und sich in Verlegenheit versetzt zu fühlen, ob man das Findel- und Waisenhaus im Zuchthaus oder das Zuchthaus im Waisenhaus aufsuchen soll."
Die extreme Zunahme von Findelkindern wiederholte sich überall dort, wo man den Beispielen von Hamburg, London und Wien nacheiferte. In Kassel und Mainz etwa, die nie ein nachgewiesenes Aussetzungsproblem hatten, gab es plötzlich Hunderte von Findelkindern nachdem die Drehladen eingerichtet wurden.
Und der Direktor des Mailänder Findelhauses klagt:
"Dass fast die Hälfte der Kinder aus der Armenbevölkerung in den Torno geworfen wird."
Für die Mitte des 19. Jahrhunderts geht man bei einer Zahl von knapp 400 Findelhäusern in Europa von 500.000 Findelkindern aus. Im ganzen 19. Jahrhundert schätzt man ihre Menge auf mehrere Million. Findelkinder gab es also dort, wo es Findelhäuser gab. Diese Tatsache spiegelt aber vor allem den enormen Bedarf an Kinderfürsorge wieder, der zur damaligen Zeit nur marginal ausgeprägt war.
Labouvie: "Zum Teil sind die Findelhäuser ja ein Kombination gewesen aus Hebammen-Lehranstalt, Entbindungsanstalt und Findelhaus, wo Frauen eben, sie nichtehelich schwanger sind, die keine andere Möglichkeit haben, die aus der Unterschicht sind, kostenlos entbinden können. Dafür sich aber zur Verfügung stellen als Lehrobjekte für die angehenden Hebammen und vor allem auch für Ärzte."
Wurde ein uneheliches Kind als Schande und die Frau als entehrt stigmatisiert, so war Verheimlichung nicht nur individuelle Strategie, sondern wurde durch die Anonymisierung in den Gebäranstalten zu einer öffentlich probaten Lösung.
Als zeitweise größte Findelanstalt der Welt hatte die Wiener Einrichtung unter Joseph II. ein eigenes Modell entwickelt.
Lehmann: "In dem Wiener Findelhaus ist es so gewesen, das - wenn wir bei dem Gebärhaus bleiben – das war in vier Klassen eingeteilt."
Der Hamburger Professor für Geburtshilfe Volker Lehmann.
Lehmann: "Die 1. Klasse war nicht einsehbar und die dortigen Frauen konnten auch ihren Diener mitbringen. Wobei diese Diskretion das Entscheidenste und das Wichtigste für diese Gebäranstalt war, dass also keiner erfuhr, wer da lag. Und dann gab es 2., 3. Klasse, das waren die, die einen gewissen Beitrag zahlen konnten. Und dann gab es die 4. Klasse in denen die Mittellosen entbunden wurden. Die 4. Klasse musste sich auch bereithalten für Studentenausbildung und Hebammenausbildung. Es ist so gewesen, dass die Frauen, die dort entbunden hatten und ihr Kind abgegeben hatten auch gleichzeitig als Ammen dort weiter bleiben konnten, was für viele wichtig war, weil das auch soziale Versorgung für sie war. Die Frauen haben außer ihren Kindern dann noch andere mitgestillt."
Zur Mitte des 19. Jahrhunderts kam die Hälfte der in Wien geborenen Kinder unehelich zu Welt. In manchen Jahren ging ein Drittel der überhaupt in der Stadt geborenen Kinder den Weg in das Findelhaus.
Überall in Europa erreichten die Aussetzungszahlen in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Höchststand und die Finanzierung der Findelhäuser brach unter dem Ansturm der Mütter zusammen. Die Frage nach Alternativen wurde zum vieldiskutierten Thema in der Öffentlichkeit und die Regierungen waren zum Handeln gezwungen.
Die Unzuchtparagraphen, nach denen allein schon der uneheliche Beischlaf strafbar war, wurden aufgehoben. Die Funktion der Drehladen als anonyme Aufnahmestellen entfiel, und man mauerte ihre Öffnungen zu. Mit der Einführung sozialer Reformen bis zum Ende des Jahrhunderts wurden nach und nach die Findelhäuser geschlossen.
Hunnecke: "Eine Alternative wäre, das Kind eben selbst aufzuziehen und um das den Eltern zu erleichtern, sind ja vorher Stillprämien, Stillgelder, also Vorläufer, fernste Vorläufer unseres modernen Kindergeldes, in Italien, in Frankreich, in anderen Ländern eingeführt worden, weil die Verantwortlichen in der Regierung, in der Verwaltung durchaus ein Einsehen dafür hatten, dass Mütter, allein stehende, verheiratete Eltern ihre Kinder nicht einfach aus Jux und Drall aussetzten, sondern durch bitterste, wirtschaftliche, finanzielle Notwendigkeit dazu gezwungen waren, diesen Schritt zu tun."
Kaschuba: "Während am Anfang des 19. Jahrhunderts die Fabrikarbeiterehe eher noch die Ausnahme ist, aus ökonomischen Gründen zum großen Teil, hat sich das am Ende des 19.Jahrhunderts stabilisiert. Es gibt in den Städten Arbeiterwohnungsbau, es gibt die Heiratsfreiheit, die am Anfang des 19. Jahrhunderts ja noch gar nicht überall da ist. Man darf ja nicht beliebig heiraten, man braucht ja in bestimmten Regionen die Zustimmung des Dienstherren oder der Gemeinde, die Armen brauchen das sowieso. Es gibt einen Grundanspruch auf Krankheitsversorgung, es gibt einen Grundanspruch auf Sozialversorgung. Also es ist sicherlich die Grundlage einer modernen Gesellschaft auf sozialpolitischem Fundaments, die am Ende des 19. Jahrhunderts zumindest in Umrissen entsteht."
Seit Beginn des 3. Jahrtausends erlebt die Drehlade in Form der Babyklappe ihre Renaissance, wenn auch vor völlig anderem sozialen und ökonomischen Hintergrund.
Trotzdem steht man vor ähnlichen Problemen wie schon im Mittelalter: Es kommt zu Klappeneinlegungen von Kleinkindern, eine Abnahme der Kindstötungen kann nicht nachgewiesen werden und durch die Babyklappe, sowie der Chance zu anonymer Geburt stellt sich die Frage, ob damit nicht erst ein Bedarf nach Nutzung dieser Möglichkeiten geweckt wird?