Martin Moll und Herbert-Ernst Neusiedler (Hrsg.): "Woher du kommst"
edition a, Wien
256 Seiten, 19,95 Euro
Wenn Kinder ihre Eltern verstehen wollen
In "Neun Monate" beschreibt Roswitha Quadflieg jene Zeit, die dem Sterben ihrer Mutter voranging. Auch in "Woher du kommst" und "Heimat ist das, wovon die anderen reden" spielt das Eltern-Kind-Verhältnis eine Rolle.
Jakob Kellmann, geboren 1895, erzählt der Tochter über seine jungen Jahre, das jüdische Elternhaus in Galizien, den beruflichen Start in Wien, die Erlebnisse als Soldat des ersten Weltkrieges, den Erfolg als Geschäftsmann wiederum in Wien und die Heirat mit Paula.
Sie, 1902 ebenfalls in der heutigen Ukraine geboren, berichtet ergänzend von ihrer Jugend, von mehrfacher Flucht, der Familiengründung in Wien, der Emigration nach Panama 1938 und der Weiterreise nach New York, wo die Tochter Hedwig - mittlerweile 85 Jahre alt - noch heute lebt.
Trostlos, düster und arm, rückständig und fanatisch erlebte Jakob als Junge das chassidische Judentum in der osteuropäischen Provinz und erfüllte sich den Traum vom Leben in der Großstadt.
Paula, aufgewachsen in wohlhabender, bürgerlicher Umgebung, erinnert sich dagegen, dass jüdische Bürger im Frieden mit der Gesellschaft der österreich-ungarischen Monarchie zu sein glaubten. Jäh habe dann der Krieg diese Illusion zerstört.
Im Chaos seien sie zum Sündenbock für alles Elend gemacht worden. Deshalb befanden sich Juden als erste auf der Flucht, hin und her geworfen von der Front, in Angst vor dem Feind, vor alten Nachbarn, vor aufkommendem Nationalismus.
Selbst in der Armee sah sich Jakob, obschon mit der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet, immer wieder diskriminiert. Später in Wien erpresste man ihn, die zuvor aberkannte Staatsangehörigkeit teuer zurückzukaufen – eben seiner Herkunft wegen.
Lange bevor, die Nationalsozialisten herrschten, baute sich jenes antisemitische Klima auf, das sie schließlich zwang, nach Übersee weiterzuwandern. Seither geben sie ihrem Namen einen amerikanischen Akzent.
Rosemarie Bovier hat den Krieg und die Flucht aus dem Banat nicht miterlebt. Erst 1947 geboren, kennt sie die Heimat ihrer Eltern nur vom Hörensagen. 40 donauschwäbische Familien aus dem rumänisch-ungarisch-serbischen Grenzgebiet verschlug es ins hessische Obersuhl nahe der Zonengrenze.
Auf einer Anhöhe über dem Dorf finden sie in umgebauten Behelfsunterkünften ein neues Heim, nicht erwünscht, aber notgedrungen von der Gemeinde aufgenommen. Als Katholische unter Evangelischen schotten sie sich wie in einer Parallelgesellschaft ab, unter sich in Jahreszeiten, Traditionen und Erinnerungen.
Später, als sie das Heimatdorf ihrer Eltern besucht, entdeckt Rosemarie Bovier, dass schon damals die deutschstämmigen Siedlungen kein besseres Verhältnis zu ihren Nachbarn anderer Nationalität oder anderen Glaubens hatten. Man dachte und sprach ähnlich abfällig übereinander.
Allmählich kommt sie dahinter, warum Eltern den Kindern die wahren Gründe ihrer Flucht aus dem jugoslawischen Teil des Banat beharrlich verschwiegen: sie waren bekennende Nationalsozialisten gewesen. Und sie erfährt auch, dass ihr Familienname französischen Ursprungs ist.
Rosemarie Bovier: "Heimat ist das, wovon die anderen reden"
Wallstein Verlag Göttingen, 160 Seiten,
14,90 Euro, auch als ebook erhältlich
Sie war 92 Jahre alt und nannte sich plötzlich "Frau Anders". Denn alles hatte sich verändert, ihre Wahrnehmung sich verrückt. Sie musste es noch vor ihrer Familie erkannt haben, was mit ihr vor sich ging. Und auch später noch kehrte in hellen Momenten der scharfe Blick auf sich und ihre Umgebung zurück.
In den dunklen allerdings plagten sie plötzlich allerlei böse Geister. Dann habe sich die stets beherrschte, aristokratisch wirkende Dame aufgeführt wie ein durchgeknallter Teenager. Roswitha Quadflieg beschreibt jene neun Monate, die dem Sterben ihrer Mutter vorangingen, in denen sie ihre Selbstständigkeit verlor und zum Pflegefall wurde.
Die Tochter versuchte zu akzeptieren und zu verstehen, den Wahn und das rätselhafte Reden zu deuten, darin Bruchstücke früherer Erlebnisse zu entziffern. Sie führte Protokoll, als die Mutter den Nachlass regelte und detailliert die Beerdigung vorbereitete.
Sie vermittelte, wenn es zu Konflikten mit dem Pflegepersonal kam. Und sie hörte die alte Frau, das Ende herbeisehnen, und beobachtete, wie sie gleichwohl nicht loslassen konnte.
Roswitha Quadflieg: "Neun Monate. Über das Sterben meiner Mutter"
Aufbau-Verlag Berlin, 160 Seiten
17,95 Euro, auch als ebook erhältlich