Drei Schüler im Klassenzimmer

Von Sabine Eichhorst |
Im vergangenen Jahr stieg die Schülerzahl um einhundert Prozent: Sven, vierzehn Jahre, bekam eine Schulkameradin - Ann-Kathrin, sieben Jahre. Mit dem Ende der diesjährigen Sommerferien stieg die Schülerzahl nochmals um 50 Prozent, denn da wurde auch Ann-Kathrins Bruder Hendrik eingeschult. Auf Nordstrandischmoor, einer Hallig in der Nordsee, leben achtzehn Einwohner, fünf Familien - und drei Schüler.
Wie auf den Nachbarhalligen werden verschiedene Klassen gemeinsam unterrichtet; wenn es denn verschiedene Klassen gibt. In der Vergangenheit war Sven der wohl am besten betreute Schüler Deutschlands. Nun hat er immerhin zwei Mitstreiter, kann sich ab und zu zurücklehnen, und manchmal wird im Unterricht jetzt auch getuschelt...

Der Himmel ist grau wie Stahl, die Sonne leuchtet rot. Die Hallig ist grün. Und flach. Flach wie ein Frisbee mitten in der Nordsee - und deswegen können Ann-Kathrin und Henrik sehen, dass Sven heute Morgen zu spät kommt.

Im Klassenzimmer sitzt schon der Lehrer. Er trägt ein Schalke-Trikot und trinkt Kaffee. Dann kommt Sven. Hat verschlafen. Hat gestern Fußball geguckt.

Schalke gegen AC Mailand, 2:2. Zwei zu zwei steht’s auch in der Schule: Der Lehrer, Henning Schlüter, ist Schalke-Fan; Ann-Kathrin, acht Jahre, zweite Klasse, ebenfalls. Sven, fünfzehn Jahre, neunte Klasse, ist Bayern-Fan; Henrik, sechs Jahre, erste Klasse, ebenfalls.
Nach den Lockerungsübungen geht’s los:

Lehrer: "So Ann-Kathrin, dann wollen wir mal. Das Gedicht... - Kribbel, Krabbel, Krüße... "

Erste Stunde. Deutsch für Ann-Kathrin. Deutsch auch für Henrik - von der zweiten in die erste Klasse sind es nur ein paar Schritte.

Henrik: " Du ...Da ...Di ... "

Zur gleichen Zeit am Nebentisch:

Sven: "Ein Klassenraum ist sechs Meter breit, zehn Meter lang und drei Meter hoch. Berechne sein Volumen... "
Die neunte Klasse hat Mathe. Und während Sven seinen Taschenrechner sucht, um erst das Volumen und später das Gewicht der Luft im Klassenzimmer zu berechnen, hat Ann-Kathrin ihr Deutschheft ausgepackt.

Lehrer: "Ja, ich komme sofort, Ann-Kathrin... "

Von der neunten in die zweite Klasse sind es nur ein paar Schritte - und während Ann-Kathrin kichernd Quatschwörter vorliest (Maiskäfer Salatmander, Schläferhund), bohrt Henrik in der Nase. Unterricht in Deutschlands kleinster Schule.

Lehrer: "So Henrik, nu geit dat los... (Schritte, Stuhl rücken) "

Draußen zerrt der Wind an den Bäumen und es fängt an zu regnen. Wiesen leuchten grün vor kieselgrauem Himmel, das Meer anthrazitfarben und schwer, Gischt tanzt auf Wellenkämmen - egal aus welchem Fenster man schaut.
Die Luft im Klassenzimmer wiegt übrigens 234.000 Gramm. Hat Sven inzwischen ausgerechnet.

Mutter: "Wenn es hier auf Nordstrandischmoor keine Halligschule geben würde - ich würde mit meinen Kindern wegziehen. Das wäre mir einfach zu früh: mit sechs Jahren, wenn sie eingeschult werden, dann sie schon wegzugeben. Ohne Schulen würde es keine Leute auf den Halligen geben. Zumindest keine Familien, und davon lebt eine Hallig ja auch, denn in den Hallighäusern wird noch in der Großfamilie gelebt. "

Seit 1717 lebt Ruth Hartwig-Kruses Familie auf der Hallig. Sie selbst ist auf der Amalienwarft - Warft heißen die vier kleinen Hügel, auf denen die fünf Häuser von Nordstrandischmoor stehen - zur Schule gegangen. Und nun ihre Kinder, Ann-Kathrin und Henrik. Und der Jüngste, Erik, geht mittwochs in die Vorschule.

Pause. Ann-Kathrin, Henrik und Sven spielen Fußball im Schulflur.

"Ja! Eigentor! "

Henrik ist gerade mal halb so groß wie Sven und hechtet und grätscht wie Michael Ballack. Sven hat’s eher mit Roy Makaay. Ann-Kathrin peest auf Socken zwischen beiden hin und her. Dann kommt Schalke - aus der Lehrerwohnung auf der anderen Seite des Schulflurs, gegenüber vom Klassenzimmer. Mit der Kaffeetasse in der Hand steht Schlüter da, fragt: Wie steht's?
Es gibt keine Pausenglocke, keinen Gong - der Unterricht geht weiter, wenn der Lehrer ausgetrunken hat. Zweite Stunde: Mathe in der ersten und zweiten Klasse.

Lehrer: "Lies doch mal vor, was du aufgeteilt hast. "

Henrik: " Sechs kann man durch drei und drei zählen. - Kann man in drei und drei aufteilen. - Zehn kann man... "

Henrik: "Doof finde ich eigentlich Deutsch und Mathe. Das Rest finde ich gut. "

Sven kämpft am Nebentisch mit deutscher Grammatik.

Sven: "Das ist... - Subjekt?"

Lehrer: "Wie kann man nach 'ausruhen’ fragen? "

Mathe ist sein Lieblingsfach, sagt Sven, und Sport; im Fach unter seinem Schreibtisch liegt ein Championsleague-Heft. Er streicht sich durchs blonde Haar. Verzweifelt an den Finessen adverbialer Bestimmungen. Ann-Kathrin addiert. Henrik zerlegt gerade und ungerade Zahlen. Draußen weiden ein paar Schafe und Regen strömt die Fensterscheiben hinab.

Lehrer: "Das ist der große Nachteil hier an der Schule: Es gibt keinen Vergleich. Der Vergleich mit den anderen muss ja nicht nur etwas Negatives sein. Es spornt ja auch an und weckt Ehrgeiz, wenn ich merke, ich kann was erreichen und kann auch mal als der Beste dastehen. Dieser Ehrgeiz fehlt ja völlig, wenn man der Einzige in der Klasse ist und immer dran ist und sowieso nie ein anderer gefragt wird. "

Mutter: "Es ist sehr familiär, es ist sehr vertraut. Aber es ist nachher eben alles nicht so nett. "

Ruth Hartwig-Kruses ältester Sohn Nommen ist nach der neunten Klasse, mit fünfzehn Jahren, allein aufs Festland gezogen.

Mutter: "Er ist von hier dann nach Dänemark gegangen, auf ein Internat in Tinglev, und diese Schule war für uns wahnsinnig ideal: Es ist eine Rundumbetreuung. Sie lernen Konflikte lösen, sie haben ihre Zimmer, werden versorgt, haben zu essen und zu trinken. Aber sie haben auch Ämter, müssen selbst ihre Wohnung aufräumen, müssen die Flure sauber halten, es ist kein Internat, wo Putzkolonnen rumlaufen, sondern die Kinder müssen es selbst machen. Und zum anderen lernt er dann auch mal Fußball zu spielen nicht zu zweit oder dritt, sondern wirklich mit einer Mannschaft (lacht). Der hat alle Sportarten gelernt, die er vorher nie gelernt hat, höchstens aus dem Fernsehen. In Englisch hatte er Schwierigkeiten, weil mit einem Lehrer und einem Schüler spricht man nicht viel Englisch im Unterricht, wenig Konversation. Also es gab schon eine Menge Schwierigkeiten. "

Pause.

Sven hat Henrik die Michael-Ballack-Grätsche beigebracht.

Lehrer: "Er hat ‘ne Engelsgeduld. Er ist echt ein toller Mensch, schon eine richtige Persönlichkeit. Obwohl ihm, glaube ich, elend langweilig ist! "

Sven: "Ich kenne es nicht anders! "

Dritte Stunde. Kunst für Ann-Kathrin und Henrik: Windlichter bauen für Halloween. Und während Schlüter Papier für Kürbisgesichter zuschneidet - neben sich eine Sport-Bild -, erklärt er Sven die Mendelsche Vererbungslehre.

Ann-Kathrin rennt auf's Klo; es gibt zwei Toiletten, eine für Mädchen, eine für Jungen. Wieder zurück klettert sie auf den Schoß des Lehrers, guckt zu, wie Sven mendelt, geht an ihren Platz. Der Umgang ist vertraut, freundlich, freundschaftlich. Alles scheint sich von allein zu regeln. Gewalt an Schulen, Jacken abziehen - davon liest man hier allenfalls in der Zeitung.

Lehrer: "Wollen wir das mal eben mündlich machen: Also, du hast zwei rosafarbene... "

Ann-Kathrin leiht sich Svens Klebstoff. Bleibt neben seinem Schreibtisch stehen. Hört zu. Lernt, wie man Wunderblumen kreuzt - und andere Dinge, die noch längst nicht auf ihrem Stundenplan stehen.

Ann-Kathrin: "Ja, zum Beispiel: Der Mond wird von die Sonne angestrahlt. (lacht) "

Lehrer: "Vor kurzem in Religion: Da erzählte ich ihr die Geschichte von Jesus, als er als Zwölfjähriger im Tempel gepredigt hat. Da habe ich gesagt: Er hat aus der Bibel vorgelesen. Und dann guckt sie mich an und sagt: Hat er nicht aus der Thora vorgelesen? Ich sage: Ja, woher kennst du den Begriff denn? Ja, den hast du Sven mal erzählt. Das ist die Bibel der Juden. Genau! Da bin ich echt abgeschnallt. "

Lehrer: "Oh Wunder, wir sehen? "

Sven: "Eine rote, zwei rosafarbene und eine weiße. "

Pause. Draußen reißt der Wind an den Blättern und Zweigen der Bäume, der Himmel ist steingrau, das Meer dunkel wie Tintenfischblut. Ein Vogelschwarm hebt ab und der Lehrer geht wieder in seine Wohnung, Kaffee trinken und eine rauchen. Achtzehn Menschen leben auf der Hallig, das Schulhaus ist auch Kirche, außerdem gibt es einen Friedhof und eine Gastwirtschaft; sie gehört Svens Eltern. Raue Winde, Regen, einsame Winter - es gab Zeiten, da galt es als Höchststrafe, auf eines der Nordseeatolle versetzt zu werden. Schlüter kam freiwillig, er war gerade mit dem Referendariat als Grund- und Hauptschullehrer fertig.

Lehrer: "Dann habe ich durch Zufall gelesen, dass hier die Stelle frei ist und hab mich beworben, war der einzige Bewerber und bin auch gleich genommen worden. Natürlich habe ich mir vorher genau angeguckt, wie das hier ist. Und vor allem habe ich versucht, Kontakt zu den Menschen zu kriegen. Denn wenn man sich hier nicht aufeinander verlassen kann, wenn man hier nicht klarkommt, dann ist man, glaub ich, verloren. Als Einzelkämpfer auf der Hallig - das geht gar nicht. Das hat mir die Schulrätin gesagt: Gucken Sie sich das an! Drei Jahre müssten Sie schon erstmal aushalten. Und die sind dann ganz schnell vorbeigegangen. "

Lehrer: "Ich wollte immer gern an der Nordsee unterrichten. Dass es nun in der Nordsee geworden ist, das war natürlich noch schöner. "

Vierte Stunde: Sport. (Nein, nicht Fußball, sondern Fitness.) Drei Schüler und ein Lehrer schieben Tische zur Seite und breiten blaue Matten im Klassenzimmer aus.

Als Nommen fort war, in Dänemark, war Sven ein Jahr lang der einzige Schüler in der Halligschule. Im Sportunterricht trat er allein gegen seinen Lehrer an. Im Herbst 2004 verdoppelte sich die Schülerzahl: Ann-Kathrin wurde eingeschult. Würde sie lieber auf dem Festland zur Schule gehen, in eine Klasse mit vielen gleichaltrigen Kindern? Ann-Kathrin kneift die Augen zusammen, denkt nach:

Ann-Kathrin: "Kann ja auch sein, dass die mich nicht mögen oder ich die nicht. "

Mutter: "Dieses gruppenmäßig sich durchkämpfen müssen, zu sagen: Ich möchte das, ich möchte das nicht - das ist eine Sache, die sie auch lernen müssen. "

Ann-Kathrin: "Man kann ja gar nicht abschreiben - stört mich gaaar nicht! "

Sven: "Wenn man hier einen Lehrer doof findet, da hat man gar keine Chance. Das geht nicht. Und eigentlich sind ja alle Lehrer doof. "

Lehrer: "Eine Autoritätsperson möchte ich gar nicht sein. Ich bin ihr Lehrer und bin aber auch irgendwo ein guter Bekannter. "

Sven: "In der Schule ist er auf jeden Fall ein Lehrer. Außerhalb behandelt man ihn wie einen Nachbarn. "

Heins Olympiade. Erste Übung: Hein Blöd hat sein Schiff verpasst und versucht, es mit einem weiten Sprung noch zu erreichen.

Lehrer: " 125 Zentimeter... "

Draußen gehen Himmel und Meer ineinander über, regennasse Scheiben, ein schiefergrauer Horizont, egal, aus welchem Fenster man schaut. Dreißig bis vierzig mal im Jahr steht die Hallig unter Wasser und nur die Häuser auf den Warften gucken noch aus den Wellen. Bei Landunterfrei gibt's Hausaufgaben. Wenn der Lehrer krank ist, auch.

Ann-Kathrin: "Dann ruft er an, gibt uns was auf. Aber das ist dann viel schöner! Weil man nur zwei Fächer kriegt, und das sind Deutsch und Mathe. "

Lehrer: "Ich muss ja immer meine Fehlstunden ans Schulamt melden. Dann hab ich einmal eingetragen, dass an einem Tag in der Hauptschule der Unterricht stattgefunden hat, aber an der Grundschule alle Stunden ausgefallen sind. Dann wurde nachgefragt, ich sagte: Die Grundschülerin war krank. Da kamen die gar nicht mit klar in Kiel. Dass die Klasse krank ist und der Lehrer da ist - das hat es wohl noch nie gegeben. "

Mutter: "Man macht dann zwar mal einen Elternabend, weil es sich so gehört und gut anhört, aber im Prinzip brauchen wir ihn wirklich nicht. Ich meine, man hat es ja vorher schon besprochen, weil man sich mal hier auf der Straße trifft, mal da, und man bespricht dann Sachen. "

Heins Olympiade, zweite Übung: Hein Blöd liegt gemütlich auf Deck. Möwen kommen. Er verjagt sie, indem er die Beine ausstreckt. Bei dreißig gibt’s die Bestnote.

Lehrer: "31 - das reicht schon! 32-33-34... "

Ich schaff hundert, sagt Henrik. Ann-Kathrin und Sven gucken zu. Es gibt keinen Klassensprecher, keinen Tafeldienst, Klassenfahrten werden mit anderen Halligschulen gemacht und die Zeugniskonferenz erledigt Schlüter am Telefon, mit der einzigen anderen Lehrkraft, Ann-Kathrins Mutter, sie gibt Werkunterricht. Ist ja nicht schlecht, sagt sie, wenn die Kinder einmal in der Woche ein anderes Gesicht sehen.

Im kommenden Sommer wird Sven die Halligschule verlassen. Was will er werden? Weiß ich noch nicht genau, sagt er. Aber ich gehe ans Festland. Es klingt, wie fast immer, wenn Halligbewohner vom Festland sprechen, als rede er über eine andere Welt.

Draußen ist der Himmel weiß, das Meer rauchgrau. Bayern führt weiterhin vor Schalke, Schafe blöken und eines pinkelt vor's Schulhaus. Auf den Wellenkämmen tanzen Schaumkronen und wenn man aus dem Fenster Richtung Osten schaut, schiebt sich am Horizont ein Schiff durchs Bild.