Dritte Wahl in Bulgarien

Eine endlose Hängepartie

22:27 Minuten
Drei hintereinander gereihte bulgarische Flaggen.
Corona, Korruption und Enttäuschung über die Politik bestimmen vor den Wahlen die Atmosphäre im Land. © picture alliance / Zoonar / Butenkov Aleksey
Von Rayna Breuer |
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Zum dritten Mal in diesem Jahr wählen die Bulgaren am 14. November ihr Parlament. Den Parteien der bisherigen Opposition war es nicht gelungen, Mehrheiten zu bilden. Die Bevölkerung ist müde und frustriert, die Hoffnungen von 2020 sind verflogen.
Ein durchdringendes Geräusch, das in den letzten Wochen allzu vertraut geworden ist: In der bulgarischen Hauptstadt Sofia jagen die Krankenwagen von einem Einsatz zum nächsten. 510 Anrufe gehen in einer Zwölfstundenschicht bei der Notrufzentrale ein, bestätigt die Pressesprecherin der Leitstelle, Katya Sungarska, in einer Nachrichtensendung. Das sei im Vergleich zu anderen Zeiten "dramatisch viel".
In der Europäischen Union belegt das Land derzeit den traurigen ersten Platz bei der Mortalitätsrate unter Covid-Patienten. Das John-Hopkins-Institut listet Bulgarien bei der allgemeinen Sterblichkeit auf 100.000 Menschen sogar weltweit auf Platz eins.
Der Arzt für Allgemeinmedizin Georgi Mindov berät einen Patienten am Telefon. Er solle zum nächsten Impfzentrum gehen, dort gebe es bestimmt Biontech-Pfizer-Dosen, er habe diesen Impfstoff nicht vorrätig in der Praxis. Die Lage sei zurzeit kompliziert und schwer.
"Schauen Sie sich die Listen an, diese hier ist von letzter Woche, als wir einen Höhepunkt bei den Infektionen erreicht haben. Jetzt wollen auf einmal alle geimpft werden. Wo waren sie bis jetzt, frage ich mich? Einen Monat lang hatte ich keinen einzigen Patienten, der sich für eine Corona-Impfung anmelden wollte, seit August hatte ich nur einen einzigen Freiwilligen. Jetzt wollen alle, einige wollen sogar die dritte Spritze."

Steigende Coronazahlen steigern den Impfwillen

In die Impfzentren der Hauptstadt kommen inzwischen mehr Impfwillige – die Nachrichten von steigenden Coronazahlen und Krankenhäusern am Limit haben viele zum Nachdenken gebracht. Und dennoch sind nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung ab 12 Jahren in Bulgarien vollständig geimpft. Es ist die niedrigste Impfquote in der gesamten EU, auch hier belegt Bulgarien einen traurigen letzten Platz.
"Das ärmste Land mit dem niedrigsten Lebensstandard, aber mit der größten Ablehnung. Das ist ein selbstmörderisches Verhalten der Menschen hierzulande, die mit ihren Taten die europäischen Werte ablehnen und gegen alles sind, was wir machen, was die anderen EU-Länder machen", sagt Georgi Mindov.
Verschwörungsideologien finden in einem Land mit schwachem Rechtssystem und einer unkritischen Medienlandschaft einen fruchtbaren Nährboden. Die Bulgaren haben ein gestörtes Vertrauen zu Politikern und Institutionen. Hinzu kommt ein desolates Gesundheitssystem, das auf die Covid-Krise nicht vorbereitet war:
"Das größte Problem ist, dass uns das Personal fehlt. Die Krankenhäuser ächzen, niemand will diesen Job machen. Nur etwa fünf bis sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden in das Gesundheitssystem investiert, so wenig bedeutet der Regierung das Leben der Menschen hier. Nichts ist hier europäisch, die Medikamente nicht, die medizinischen Geräte nicht. Deswegen verzeichnen wir diese hohe Sterblichkeit, nicht nur jetzt in Covid-Zeiten, schon vor Corona belegten wir diese Plätze."

Es fehlt an Ärzten und Equipment

Georgi Mindov arbeitet seit über 25 Jahren als Arzt, seit 2000 hat er seine eigene Praxis in einem Außenbezirk von Sofia. In den letzten Jahren hat er viele Kollegen gehen sehen. Nicht nur die jungen Mediziner würden Bulgarien verlassen, sagt er. Selbst in seinem Alter entscheiden sich Ärzte, samt Familien im Ausland ihren Beruf auszuüben. Er hat sich entschieden, hierzubleiben und offen auf die Missstände im Gesundheitswesen aufmerksam zu machen. Derzeit ist er auch Vorsitzender des Zusammenschlusses der Allgemeinärzte in Sofia. In dieser Funktion wird er oft in Fernsehsendungen eingeladen, frühzeitig warnte er vor der vierten Coronawelle und den Folgen für Bulgarien:
"Es war erwartbar. Alle Mathematiker haben gesagt, dass die Lage sich verschlechtert, eigentlich muss man Maßnahmen 14 Tage vor dem absehbaren Peak treffen. Ich war der erste, der vor zwei Wochen in einer Sendung Alarm geschlagen hat, wir bräuchten wieder einen Lockdown."
Menschen demonstrieren auf einer breiten Straße in Bulgariens Hauptstadt Sofia. 
Trotz hoher Covid-Sterblichkeit: Einen Lockdown lehnen viele Bulgaren ab.© imago-images / NurPhoto / Hristo Vladev
Von einem Lockdown ist auf den Straßen Sofias wenig zu spüren. Zwar sind einige Schulen und Uni-Veranstaltungen in den Onlineunterricht gegangen, doch die Cafés sind gut besucht, die Metro voll. In einer Stadt in Zentralbulgarien, in der ein Einkaufszentrum wegen nicht eingehaltener Corona-Maßnahmen schließen musste, demonstrieren sogar Menschen mit patriotischen Flaggen und ohne Masken. "Für ein freies Bulgarien" steht auf den Transparenten der Protestierenden. Die Stimmen gegen einen Lockdown werden immer lauter im Land. Umso zögerlicher reagiert die Politik auf diese Krise. Die Interimsregierung wirbt zwar für eine Impfung, lehnt aber einen breiten Lockdown ab und schiebt wichtige Entscheidungen vor sich her.

Fehlende Pressefreiheit

Doch die Kritik daran in den Medien hält sich in Grenzen. Das hat mit ihrer Rolle zu tun: Auf dem diesjährigen Reporter-ohne-Grenzen-Index für Pressefreiheit liegt Bulgarien auf Platz 112 von 180. Beim EU-Beitritt 2007 lag das Land noch auf Rang 51. Wie kam es zu diesem drastischen Fall? Eine Antwort finde ich am Institut für Medien und Kommunikation an der Neuen Bulgarischen Universität in Sofia.
17 Studenten und Studentinnen lernen drei Wochen lang hier Videodreh und -schnitt. Am heutigen Tag schneiden sie ihr Material. Der Kurs wird von drei erfahrenen und in Bulgarien bekannten Journalisten geleitet. Alle drei arbeiteten für große Medien und moderierten zuschauerstarke Sendungen. Doch sie wurden unbequem, unangepasst, stellten zu viele Fragen, bis ihnen allen gekündigt wurde.
"Das Katz-und-Maus-Spiel hat mehrere Jahre gedauert, es gab nie einen objektiven Grund für meinen Rausschmiss, keine Anmerkungen zu meiner Arbeitsdisziplin oder zu den Reportagen, die ich gemacht habe, aber mit der Zeit engte sich das Spektrum von Themen ein, mit denen ich mich beschäftigen durfte. Dann hat ein neuer Eigentümer den Fernsehkanal übernommen. Schließlich meinte er, ich sei zu teuer, es war ein formaler Grund für meine Entlassung, ich wurde nie gefragt, ob ich vielleicht bereit wäre, für weniger zu arbeiten. Ähnliches passierte mit anderen Kollegen", erklärt die Investigativjournalistin Miroljuba Benatova.

Von der Journalistin zur Taxifahrerin

Seit 28 Jahren ist Benatova im Beruf und zählt zu den bekanntesten in ihrer Branche. Sie leitete mehrere Investigativformate bei zwei der größten Medienhäuser in Bulgarien, doch dann wurde sie abgesetzt. Als ihre Stimme verstummte, entschied sie sich für einen ungewöhnlichen Schritt: Miroljuba Benatova wurde Taxifahrerin.
"Ich mag den Beruf des Taxifahrers, weil er nah an dem eines Reporters ist. Du musst ein sehr guter Zuhörer sein, was ich auch bin. Auf der einen Seite habe ich diese Zeit wie eine Therapie für mich genutzt, auf der anderen wollte ich die Geschichte einer Journalistin erzählen, die eigentlich keinen Grund haben muss, als Taxifahrerin zu arbeiten, es sei denn, etwas läuft ganz schief in diesem Land. Mein Diensttelefon, auf dem ich Bestellungen annahm, endete auf die Nummer 111, das war der Platz, den Bulgarien letztes Jahr, als ich Taxi gefahren bin, bei Reporter ohne Grenzen belegte."
Eine Symbolik, mit der Miroljuba Benatova aufrütteln wollte. Ein Jahr später rutsche Bulgarien dann noch tiefer auf der Rangliste. Und dafür gibt es mehrere Gründe: Reporter ohne Grenzen begründete es damit, dass einige wenige Unternehmer einen Großteil der Medien besitzen und die Redaktionslinie in enger Abstimmung mit führenden Politikern bestimmen würden. In vielen Fällen würden verschlungene Geschäftsmodelle und Mittlerfirmen Klarheit über die Besitzverhältnisse verhindern, so der Bericht.

Die Zensur wirkt unter der Oberfläche

Zudem erkaufe sich die Regierung über staatliche Zuschüsse, finanziert vor allem aus EU-Mitteln, loyale Berichterstattung. Unabhängige Medien wie die Onlineplattform Bivol würden durch Justizschikanen wie Steuerverfahren, Verleumdungsklagen oder horrende Bußgelder drangsaliert, kritische Medienschaffende auch durch Schmutzkampagnen und Gewalt. Das bestätigt die Journalistin Miroljuba Benatova:
"Es ist sehr kompliziert in Bulgarien. Weil hier - Gott sei Dank - kein Journalist ermordet wurde, ist es schwer, die Geschehnisse in der Medienlandschaft für Außenstehende zu erklären und diesen schlechten Rang zu verdeutlichen. Die Gründe liegen unter der Oberfläche. Die Mechanismen der Zensur sind sehr pervers, ein Großteil besteht darin, keine Antworten zu bekommen. Selbst Gerichtsbeschlüsse zum Zugang zu Information werden nicht anerkannt, es gibt Institutionen, die diese Gerichtsbeschlüsse schlicht ignorieren und keine Information liefern.
Dazu kommt, dass wir Absagen zu Interviewanfragen kriegen. Der Journalismus ist ja kein Monolog. Du willst jemandem die Fragen stellen, doch keiner will sie beantworten. Das Fehlen von Antworten und die Missachtung des Zugangs zu Information sind sehr starke Mechanismen der Kontrolle über die Journalisten hierzulande."
Eine Frau im weißen T-Shirt und mit langen blonden Haaren steht an der geöffneten Tür an der Fahrerseite eines gelben Taxis.
Die Journalistin Miroljuba Benatova sattelte um und wurde Taxifahrerin. Mittlerweile arbeitet sie mit anderen gekündigten Journalisten bei einem kleinen TV-Sender und auf Social Media. © privat
Der Hoffnungsträger, die Partei "Es gibt so ein Volk" des Entertainers und Musikers Slawi Trifonow, hat sich selbst ins Abseits manövriert. Nach dem Motto: Entweder es läuft so, wie ich sage, oder gar nicht, präsentierte Slawi Trifonow bereits einen Tag nach den Wahlen im Juli sein komplettes Team für eine Minderheitsregierung. Das kam vor allem bei den beiden kleineren Parteien, die ihn eigentlich unterstützen sollten, nicht gut an. "Demokratisches Bulgarien" und "Steh auf, Bulgarien. Wir kommen!" rückten von Trifonow ab. Nun droht dem ehemaligen Spitzenreiter "Es gibt so ein Volk" ein bitterer Absturz bei den kommenden Wahlen, die der bulgarische Präsident für den 14. November anberaumt hat.
Nun ist ein neuer Hoffnungsträger am politischen Horizont aufgetaucht: Die Partei "Wir setzen den Wandel fort", geführt vom sogenannten Harvard-Duo Assen Wassilev und Kiril Petkov. Die beiden Absolventen der Prestige-Uni gehörten einige Zeit der Übergangsregierung an und erzielten einige Erfolge. Petkov hat als Wirtschaftsminister Missstände bei der staatlichen Entwicklungsbank aufgedeckt, Wassilev forderte als Finanzminister bei großen Konzernen, die bisher unter dem Schutz der Regierung standen, ausstehende Steuern ein. Das machte sie in der Bevölkerung populär, also entschieden sie sich, eine Partei zu gründen und bei der dritten Wahl mitzumischen.

Eine Chance für Veränderungen

Der Rechtswissenschaftler und Analyst Ivan Bregov sieht darin und in den anderen kleinen Parteien, die sich nach den Massenprotesten im vergangenen Jahr gebildet haben, eine Chance für Veränderung in Bulgarien. Sie alle versprechen in Bulgarien einen radikalen Bruch mit dem korrupten System. Das sei notwendig, so Bregov. Sein Urteil über die langjährige Herrschaft von Boyko Borissov und seiner GERB-Partei fällt hart aus:
"Die Korruption in Bulgarien der 90er und die von heute sind zwei verschiedene Sachen. Die Regierung der GERB-Partei hat es geschafft, die Korruption zu zentralisieren – jeder noch so kleine Beamte in der Provinz war von dem Minister abhängig. GERB hat die Korruption zu einem Parallelstaat ausgebaut. Wenn Sie etwas in Bulgarien erreichen wollen und Sie sind kein ausländischer Investor, dann klappt es nicht so einfach. Das ist das Erbe der letzten zehn Jahre, eine mit den Jahren entstandene Praxis."
Seit dem EU-Beitritt des Landes legt die EU-Kommission in regelmäßigen Abständen Berichte über die Entwicklungen bei der Justizreform und der Korruptionsbekämpfung vor. Die Empfehlungen werden dankend angenommen und meist stillschweigend umgangen. Der Rechtswissenschaftler am unabhängigen Institut für Marktwirtschaft in Sofia, Ivan Bregov, sieht aber auch die EU in der Verantwortung: Sie habe die langjährige Regierung von Boyko Borissow unterstützt – dessen Kontakte zur Europäischen Volkspartei hätten ihm dabei geholfen, aber auch das Stillschweigen der deutschen Regierung.

Das Rechtssystem schützt die Politiker

Auf die EU sei kein Verlass, es müssen strukturelle Reformen her, vor allem des Rechtssystems, speziell das Amt des Generalstaatsanwalts müsse radikal verändert werden: "Über mir ist nur Gott", pflegte ein ehemaliger Generalstaatsanwalt zu sagen. Daran erkenne man, wie intransparent und hierarchisch dieses Amt ist, das in der Bevölkerung als Schutzschild für Politiker und nicht als eine Instanz zur Aufsicht des Rechts wahrgenommen wird.
"Der Fehler liegt im System, weil die bulgarische Generalstaatsanwaltschaft in all den Jahren nicht reformiert wurde. Der Posten ist ein Überbleibsel aus der kommunistischen Zeit. Früher war die Generalstaatsanwaltschaft Teil der Gerichte – das war eine Garantie, dass die Rechtsstaatlichkeit gewahrt bleibt. Aktuell verhindert die Generalstaatsanwaltschaft, dass gegen Korruption vorgegangen wird, im Gegenteil, sie fördert sie."
Die Proteste im vergangenen Jahr richteten sich unter anderem gegen die Einstellung Ivan Geschews als neuen Generalstaatsanwalt, dem vorgeworfen wird, zugunsten von Boyko Borissow und von Oligarchen zu handeln. Die Forderungen der Demonstranten wurden nicht berücksichtigt und so sitzt Geschew heute immer noch im Amt. Viele Hoffnungen richten sich daher auf das Harvard-Duo und die anderen kleineren Parteien, die die Demonstranten im vergangenen Jahr offen unterstützt haben. Sie alle versprechen nun einen Neuanfang. Doch auch Boyko Borissow ist 2009 angetreten, die alte Ordnung umzukrempeln und die Korruption zu besiegen.
Die Ansage in der Metro nennt die nächste Haltestelle: die Europäische Union. Das Land feiert kommendes Jahr 15 Jahre EU-Mitgliedschaft. Ob die Wahlen mit den neuen Kräften tatsächlich einen Wandel bewirken können, bleibt offen. Erstmal gilt es, in diesem Jahr überhaupt eine Regierung zu bilden – und Corona in den Griff zu bekommen.
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