Dritter Tempel von Jerusalem
Die Vorstellung von der Rückkehr der Juden ins Heilige Land war stets mit der Sehnsucht nach der Wiedererrichtung des einstigen Tempels verbunden. Immer mehr nationalreligiöse Israelis träumen von der Rückeroberung des Tempelbergs in Jerusalem.
Zehn Männer stehen im Kreis, singen und tanzen. Sie tragen gehäkelte Käppis, das untrügliche Zeichen ihrer Herkunft. Sie sind nationalreligiöse Israelis – Nationalisten und fromme Juden zugleich. Daran wäre eigentlich nichts weiter spektakulär, wenn sich diese Szene nicht auf dem Haram Al-Scharif, auf dem Tempelberg in Jerusalem, abspielen würde. Der Besuch der Männer mit den gehäkelten Käppis ist eine Provokation für Muslime in aller Welt – und für die palästinensischen Muslime, die den tanzenden Israelis an diesem Mittwoch Morgen zusehen. Die stehen unter dem Schutz ihrer, der israelischen Polizei.
Die Spannung zwischen Juden und Muslimen, zwischen Israelis und Arabern, ja zwischen Okzident und Orient, ist an keinem Ort so deutlich spürbar wie hier. Denn der "Haram Al-Scharif", das "edle Heiligtum" der Muslime, der Felsendom mit seiner goldenen Kuppel und die Al-Aqsa-Moschee, befinden sich seit 1300 Jahren genau dort, wo bis zum Jahr 70 nach Christus der israelitische Tempel stand.
In den vergangenen zehn Jahren hat die Zahl jüdisch-israelischer Besucher auf dem Tempelberg zugenommen. Die frommen Nationalisten drängen mittlerweile täglich auf den Berg, in kleinen Gruppen. Sie umrunden die Al Aqsa-Moschee und den Felsendom und reklamieren damit den jüdischen Anspruch auf das Heiligtum.
Der Staat Israel respektiert heute die Souveränität der Muslime über den Tempelberg. Im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberten die israelischen Truppen Ost-Jerusalem, damit auch die Altstadt und das Heiligtum. Aber Stunden später überließ die Armeeführung die drittheiligste Stätte des Islam wieder den Muslimen. Den Juden blieb die sogenannte "Klagemauer", die in Israel "Westmauer" heißt, die westliche Außenmauer des Tempels. 60 Meter der beigefarbenen Kalksteinwand sind für jeden zugänglich zum Gebet. Schmuel Rabinowitz, der Rabbiner der Westmauer, nennt diesen Ort "die größte Synagoge des jüdischen Volkes":
"Salomo sagt: Gott wird auch das Gebet des Nichtjuden hören, der aus einem fernen Land kommt und nicht im Land Israel lebt und der an diesen Ort kommt. Und Gott antwortete ihm: Ich habe Dein Gebet erhört, dass meine Augen offen sein sollen hin zu diesem Ort Tag und Nacht. Hier höre ich, hier höre ich zu. Und meine Augen und mein Herz sollen sich jeden Tag öffnen, ob der Tempel steht oder zerstört ist. Und deshalb ist dieser Ort die größte Synagoge des jüdischen Volkes, der Ort, von dem unsere Väter träumten – und es ist uns gelungen, hier zu sein."
488 Meter misst die Westmauer. Sie ist den Juden besonders heilig, weil sie dem Allerheiligsten des früheren Tempels am nächsten ist. Seit 1996 können Touristen an der ganzen Westmauer entlang laufen, an den gewaltigen, meterhohen Steinquadern – durch einen Tunnel. Die Steinblöcke zeugen von einem der größten Bauprojekte der Antike. Herodes, König der römischen Provinz Judäa, ließ den Tempel zu Jesu Lebzeiten errichten.
Der Archäologe Dieter Vieweger, Direktor des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaften in Jerusalem über das gigantische Werk des Herodes und seiner Untertanen:
"Er muss einen großen, in der römischen Welt auch sichtbaren und – ach – tollen Tempel einfach bauen. Und den baut er zu seinen Lebzeiten, und der war natürlich voller Glanz und Gloria. Dafür wird das ganze Tempel-Umfeld noch mal besser gegründet, das Tempel-Areal wird höher gesetzt. Die Mauern, die man heute noch sieht, die haben durch die zwei Jahrtausende unbeschadet jedes Erdbeben überlebt. Es war also ein Prunk- und Protzbau, wie man ihn sich nicht besser vorstellen kann, und eine Riesen-Ingenieurs- und technische Leistung, so etwas überhaupt auf dieses unebene Gelände in Jerusalem zu setzen – ein toller Tempel. Und der wird im Jahre 70 zerstört."
Diesen Tempel des Herodes, den die Römer zerstörten, wollen nationalreligiöse Gruppen wieder aufbauen. Sie nennen sich "Bewegung für die Errichtung des Heiligtums", "Freunde des Tempels", "Krone der Priester", "die priesterlichen Wachen" und ähnlich. Einige von ihnen unterhalten Talmudschulen und Synagogen im jüdischen Viertel der Altstadt von Jerusalem. Etwa 20 Organisationen verfolgen dasselbe Ziel. Für sie ist die zionistische Mission mit der Rückkehr der Juden ins Land Israel nicht erfüllt, sondern erst dann, wenn der Tempel wieder steht.
Die bekannteste und größte dieser Gruppierungen ist die "Bewegung der Getreuen des Tempelbergs". Ihr Gründer und Führer ist Gerschon Salomon, ein 69-jähriger hagerer Mann mit grauem Schnurrbart. Kurz vor dem Sechs-Tage-Krieg wurde er als Soldat an der Grenze zu Syrien verletzt. Seither geht er an einer Krücke. Dennoch war Salomon dabei, als die israelische Armee am 7. Juni 1967 den Tempelberg eroberte. Für Gerschon Salomon war das ein religiöses Erlebnis:
"Ich bin mit dem Jeep auf den Tempelberg gefahren, über das Löwentor im Norden des Tempelbergs. Und ich stehe dort am Tag der Befreiung mit Tränen in den Augen. Nicht nur ich – ich denke, dass das ganze Volk Israel geweint hat, dass wir auf den Tempelberg zurückgekehrt sind und als es den Befehlshaber Motta Gur gehört hat – im Radio, damals gab es noch kein Fernsehen: ‘Der Tempelberg ist wieder in unserer Hand’."
Mit seinem religiösen Pathos hat Gerschon Salomon nicht nur unter nationalreligiösen Israelis Erfolg. Auch evangelikale Christen sind von seiner Botschaft fasziniert. Sie deuten den Bau des dritten Tempels als Zeichen der Wiederkunft Christi. So reist Salomon jedes Jahr in die Vereinigten Staaten und sammelt Spenden – bei Juden und Christen. Er bittet um Unterstützung für "unsere heilige göttliche Kampagne und die Schlacht um die Befreiung des Tempelbergs", so heißt es auf Salomons Internetseite. Am Jerusalem-Tag im Frühjahr und an den großen jüdischen Festen demonstrieren die "Getreuen des Tempelbergs" für ihr Vorhaben, und mehrfach haben sie versucht, auf dem heutigen Haram Al-Scharif den Grundstein für den dritten Tempel zu legen. Vorläufig haben Salomon und seine Getreuen einen Fünf-Tonnen-Stein vor den Toren der Altstadt von Jerusalem ablegen müssen und daneben eine Gedenktafel angebracht. Zuletzt versuchten sie im Mai 2009, einen 13 Tonnen schweren Steinblock als Eckstein auf den Tempelberg zu bringen. Die israelische Polizei verhinderte auch diesen Versuch.
Gerschon Salomon: "Leider gibt es unter uns noch Juden, Israelis, die blind sind, die Stimme Gottes zu sehen und zu hören, was er heute am Volk Israel tut. Was denken sie denn? Dass Gott das Volk Israel zurückgebracht hat nach Jerusalem, auf den Tempelberg, um dort mal einen Besuch abzustatten, wie Touristen? Und dann nach Hause zu gehen, so wie es heute ist? Er hat es dorthin zurückgebracht, damit es den Tempel erbaut. Aber nicht nur für das Volk Israel, sondern er hat sie ins Land Israel zurückgebracht, in einen jüdischen Staat und zum Gebäude des Tempels, damit das Volk Israel seine Sendung für die ganze Welt erfüllt."
Wer den Geist der israelischen Nationalreligiösen kennenlernen will, kann sich im Programm des privaten Radiosenders "Arutz Scheva", "Kanal sieben", orientieren oder seine Internetseite ansehen. Hier findet man alle Informationen der Tempel-Freunde – über Demonstrationen unter dem Motto "Der Tempelberg gehört den Juden", über Besuche rechtsgerichteter Politiker und einer Gruppe von 43 Rabbinern auf dem Tempelberg. Filme, die auf "Arutz Scheva" im Internet zu sehen sind, beginnen mit Werbung:
"Besuchen Sie Israel? Lernen Sie schießen mit israelischen Top-Anti-Terror-Experten. Wir bieten ein Action-Paket mit einer zweistündigen Praxis-Übung für Gruppen, Familien und Einzelreisende."
Für das nationalreligiöse Milieu der Siedler im Westjordanland ist solche Werbung etwas ganz Gewöhnliches – genau wie die feste Überzeugung, dass der dritte Tempel noch zu den Lebzeiten ihrer Generation stehen wird. Levi Chazan gehört zu diesem Milieu. Er hat im Jahr 2002 die "Akademie für den dritten Tempel" mitgegründet. Chazan, ein Mann Anfang 40, wurde in den USA geboren und wanderte nach Israel ein. Er trägt einen blonden Bart und eine braune Häkel-Kippah auf dem Kopf. Als Treffpunkt hat Chazan eine Talmudschule im Orthodoxen-Viertel von Jerusalem, in Mea Shearim, vorgeschlagen. Die Schule wurde von dem israelischen Rechtsextremisten Meir Kahane gegründet.
Levi Chazan: "Heute war ich auf dem Tempelberg. Wenn Sie vor zehn Jahren mit mir dorthin gekommen wären – wieviele Juden sind damals auf den Tempelberg gegangen? Wie groß war das Interesse im Volk Israel? Nicht der Rede wert. Zwei oder drei sind gekommen. Heute sind es hunderte, sogar tausende Juden im Monat, die auf den Tempelberg gehen. Nicht an die Klagemauer, sondern wirklich oben auf den Tempelberg. Es geht ganz langsam, aber nach und nach wacht das Volk Israel auf. Und wenn das Volk Israel erst die Kraft hat, etwas zu tun, dann kann man es nicht aufhalten."
Die "Akademie für den dritten Tempel" soll mitten in der Judäischen Wüste entstehen, im besetzten palästinensischen Westjordanland. An diesem Ort sollen die künftigen Priester und Leviten ihr Handwerk lernen.
Gehen wir noch einmal auf den Haram Al-Scharif, das edle Heiligtum der Muslime, in eines der Seitengebäude. Dort sitzt Yussuf Natsche, ein Mann im weißen Polohemd, der zugleich freundlich und skeptisch auf den Besucher blickt. Natsche ist Leiter der Abteilung Archäologie und Tourismus beim Waqf, der muslimischen Behörde für die Heiligen Stätten in Jerusalem:
"Die Rechtsregierung unterstützt das rechte Lager faktisch. Das hat sie [zu Besuchen auf dem Haram] ermutigt. Überlegen Sie mal, wie rechte Organisationen schon den Wiederaufbau des dritten Tempels vorbereiten. All das beunruhigt die muslimischen Behörden und verängstigt die normalen palästinensischen Leute. Sie fürchten, dass das nicht eine kleine Gruppe ist, sondern eine wirksame Gruppe. Und wir benutzen diese Gelegenheit, um auf diese Tendenz hinzuweisen."
Yussuf Natsche hat einen Anstieg der Besuche nationalistischer Israelis auf dem Tempelberg in den vergangenen zwei Jahren beobachtet. Genaue Zahlen kann er dazu nicht präsentieren.
Im jüdischen Viertel der Altstadt von Jerusalem, etwa 300 Meter entfernt vom Felsendom, wird sichtbar, wie ernst die nationalreligiösen Gruppen es mit ihren Wiederaufbau-Plänen meinen. In einem Kellergeschoss befindet sich das sogenannte "Tempel-Institut". Es bereitet den Tempeldienst bis ins Detail vor. Eine Gruppe von 20 Christen aus Puerto Rico ist zu Gast und lauscht einer Museumsführerin. Sie deutet auf ein Ölgemälde, das den großen Brandopferaltar im künftigen Tempel zeigt:
"Auf dem Altar wurden alle Opfer dargebracht. Im Hebräischen ist das Wort ‚Opfer’ von dem Wort für ‚Nähe’ abgeleitet. Das heißt, das Opfer ist etwas, was uns Gott näher bringt."
In den Vitrinen sind die neu gewebten Gewänder des künftigen Hohenpriesters zu sehen, sein mit zwölf Edelsteinen verzierter Brustschild, das kupferne Waschbecken, in dem er sich reinigt, Gefäße für das Trankopfer, der Becher zum Auffangen des Blutes des Opfertiers und Becher und Löffel für Weihrauch. Auch die Musikinstrumente für die Leviten sind längst fertig und in diesem Institut zu sehen, die silbernen Trompeten, die hölzernen Harfen und das Schofar aus Widderhorn.
Arabische Kinder in einer Gasse von Jerusalem, auf dem Weg von der Schule nach Hause. Der fröhliche Gassenlärm, nur wenige Meter vom Tempelberg entfernt, kann für ein paar Minuten hinwegtäuschen über die scheinbar unauflösliche Spannung im Kern der Stadt. Wenn es den Nationalreligiösen in Israel gelingen sollte, eines Tages eine Mehrheit für den Tempel-Wiederaufbau zu gewinnen, dann droht dem Land, dann droht der Region Krieg. Noch wird dieser Krieg nur mit Worten geführt. Levi Chazan von der "Akademie für den dritten Tempel" rechtfertigt seine regelmäßigen Besuche auf dem Tempelberg:
"Natürlich mögen die Araber das nicht. Touristen […] stören sie nicht, aber religiöse Juden schon. Sie passen jetzt wahnsinnig auf, dass ein religiöser Jude dort nicht mal den Mund zum Gebet öffnet. Sie lassen Juden dort nicht beten, weil sie die Macht des Gebetes kennen. Ein betender Jude kann viele Türen im Himmel öffnen. Das stört sie natürlich. Aber das ist in Ordnung. Soll es sie ruhig stören. Sollen sie doch ihre Koffer packen und dahin gehen, wo sie hingehören. Sie haben viele Länder, die Araber."
Die Spannung zwischen Juden und Muslimen, zwischen Israelis und Arabern, ja zwischen Okzident und Orient, ist an keinem Ort so deutlich spürbar wie hier. Denn der "Haram Al-Scharif", das "edle Heiligtum" der Muslime, der Felsendom mit seiner goldenen Kuppel und die Al-Aqsa-Moschee, befinden sich seit 1300 Jahren genau dort, wo bis zum Jahr 70 nach Christus der israelitische Tempel stand.
In den vergangenen zehn Jahren hat die Zahl jüdisch-israelischer Besucher auf dem Tempelberg zugenommen. Die frommen Nationalisten drängen mittlerweile täglich auf den Berg, in kleinen Gruppen. Sie umrunden die Al Aqsa-Moschee und den Felsendom und reklamieren damit den jüdischen Anspruch auf das Heiligtum.
Der Staat Israel respektiert heute die Souveränität der Muslime über den Tempelberg. Im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberten die israelischen Truppen Ost-Jerusalem, damit auch die Altstadt und das Heiligtum. Aber Stunden später überließ die Armeeführung die drittheiligste Stätte des Islam wieder den Muslimen. Den Juden blieb die sogenannte "Klagemauer", die in Israel "Westmauer" heißt, die westliche Außenmauer des Tempels. 60 Meter der beigefarbenen Kalksteinwand sind für jeden zugänglich zum Gebet. Schmuel Rabinowitz, der Rabbiner der Westmauer, nennt diesen Ort "die größte Synagoge des jüdischen Volkes":
"Salomo sagt: Gott wird auch das Gebet des Nichtjuden hören, der aus einem fernen Land kommt und nicht im Land Israel lebt und der an diesen Ort kommt. Und Gott antwortete ihm: Ich habe Dein Gebet erhört, dass meine Augen offen sein sollen hin zu diesem Ort Tag und Nacht. Hier höre ich, hier höre ich zu. Und meine Augen und mein Herz sollen sich jeden Tag öffnen, ob der Tempel steht oder zerstört ist. Und deshalb ist dieser Ort die größte Synagoge des jüdischen Volkes, der Ort, von dem unsere Väter träumten – und es ist uns gelungen, hier zu sein."
488 Meter misst die Westmauer. Sie ist den Juden besonders heilig, weil sie dem Allerheiligsten des früheren Tempels am nächsten ist. Seit 1996 können Touristen an der ganzen Westmauer entlang laufen, an den gewaltigen, meterhohen Steinquadern – durch einen Tunnel. Die Steinblöcke zeugen von einem der größten Bauprojekte der Antike. Herodes, König der römischen Provinz Judäa, ließ den Tempel zu Jesu Lebzeiten errichten.
Der Archäologe Dieter Vieweger, Direktor des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaften in Jerusalem über das gigantische Werk des Herodes und seiner Untertanen:
"Er muss einen großen, in der römischen Welt auch sichtbaren und – ach – tollen Tempel einfach bauen. Und den baut er zu seinen Lebzeiten, und der war natürlich voller Glanz und Gloria. Dafür wird das ganze Tempel-Umfeld noch mal besser gegründet, das Tempel-Areal wird höher gesetzt. Die Mauern, die man heute noch sieht, die haben durch die zwei Jahrtausende unbeschadet jedes Erdbeben überlebt. Es war also ein Prunk- und Protzbau, wie man ihn sich nicht besser vorstellen kann, und eine Riesen-Ingenieurs- und technische Leistung, so etwas überhaupt auf dieses unebene Gelände in Jerusalem zu setzen – ein toller Tempel. Und der wird im Jahre 70 zerstört."
Diesen Tempel des Herodes, den die Römer zerstörten, wollen nationalreligiöse Gruppen wieder aufbauen. Sie nennen sich "Bewegung für die Errichtung des Heiligtums", "Freunde des Tempels", "Krone der Priester", "die priesterlichen Wachen" und ähnlich. Einige von ihnen unterhalten Talmudschulen und Synagogen im jüdischen Viertel der Altstadt von Jerusalem. Etwa 20 Organisationen verfolgen dasselbe Ziel. Für sie ist die zionistische Mission mit der Rückkehr der Juden ins Land Israel nicht erfüllt, sondern erst dann, wenn der Tempel wieder steht.
Die bekannteste und größte dieser Gruppierungen ist die "Bewegung der Getreuen des Tempelbergs". Ihr Gründer und Führer ist Gerschon Salomon, ein 69-jähriger hagerer Mann mit grauem Schnurrbart. Kurz vor dem Sechs-Tage-Krieg wurde er als Soldat an der Grenze zu Syrien verletzt. Seither geht er an einer Krücke. Dennoch war Salomon dabei, als die israelische Armee am 7. Juni 1967 den Tempelberg eroberte. Für Gerschon Salomon war das ein religiöses Erlebnis:
"Ich bin mit dem Jeep auf den Tempelberg gefahren, über das Löwentor im Norden des Tempelbergs. Und ich stehe dort am Tag der Befreiung mit Tränen in den Augen. Nicht nur ich – ich denke, dass das ganze Volk Israel geweint hat, dass wir auf den Tempelberg zurückgekehrt sind und als es den Befehlshaber Motta Gur gehört hat – im Radio, damals gab es noch kein Fernsehen: ‘Der Tempelberg ist wieder in unserer Hand’."
Mit seinem religiösen Pathos hat Gerschon Salomon nicht nur unter nationalreligiösen Israelis Erfolg. Auch evangelikale Christen sind von seiner Botschaft fasziniert. Sie deuten den Bau des dritten Tempels als Zeichen der Wiederkunft Christi. So reist Salomon jedes Jahr in die Vereinigten Staaten und sammelt Spenden – bei Juden und Christen. Er bittet um Unterstützung für "unsere heilige göttliche Kampagne und die Schlacht um die Befreiung des Tempelbergs", so heißt es auf Salomons Internetseite. Am Jerusalem-Tag im Frühjahr und an den großen jüdischen Festen demonstrieren die "Getreuen des Tempelbergs" für ihr Vorhaben, und mehrfach haben sie versucht, auf dem heutigen Haram Al-Scharif den Grundstein für den dritten Tempel zu legen. Vorläufig haben Salomon und seine Getreuen einen Fünf-Tonnen-Stein vor den Toren der Altstadt von Jerusalem ablegen müssen und daneben eine Gedenktafel angebracht. Zuletzt versuchten sie im Mai 2009, einen 13 Tonnen schweren Steinblock als Eckstein auf den Tempelberg zu bringen. Die israelische Polizei verhinderte auch diesen Versuch.
Gerschon Salomon: "Leider gibt es unter uns noch Juden, Israelis, die blind sind, die Stimme Gottes zu sehen und zu hören, was er heute am Volk Israel tut. Was denken sie denn? Dass Gott das Volk Israel zurückgebracht hat nach Jerusalem, auf den Tempelberg, um dort mal einen Besuch abzustatten, wie Touristen? Und dann nach Hause zu gehen, so wie es heute ist? Er hat es dorthin zurückgebracht, damit es den Tempel erbaut. Aber nicht nur für das Volk Israel, sondern er hat sie ins Land Israel zurückgebracht, in einen jüdischen Staat und zum Gebäude des Tempels, damit das Volk Israel seine Sendung für die ganze Welt erfüllt."
Wer den Geist der israelischen Nationalreligiösen kennenlernen will, kann sich im Programm des privaten Radiosenders "Arutz Scheva", "Kanal sieben", orientieren oder seine Internetseite ansehen. Hier findet man alle Informationen der Tempel-Freunde – über Demonstrationen unter dem Motto "Der Tempelberg gehört den Juden", über Besuche rechtsgerichteter Politiker und einer Gruppe von 43 Rabbinern auf dem Tempelberg. Filme, die auf "Arutz Scheva" im Internet zu sehen sind, beginnen mit Werbung:
"Besuchen Sie Israel? Lernen Sie schießen mit israelischen Top-Anti-Terror-Experten. Wir bieten ein Action-Paket mit einer zweistündigen Praxis-Übung für Gruppen, Familien und Einzelreisende."
Für das nationalreligiöse Milieu der Siedler im Westjordanland ist solche Werbung etwas ganz Gewöhnliches – genau wie die feste Überzeugung, dass der dritte Tempel noch zu den Lebzeiten ihrer Generation stehen wird. Levi Chazan gehört zu diesem Milieu. Er hat im Jahr 2002 die "Akademie für den dritten Tempel" mitgegründet. Chazan, ein Mann Anfang 40, wurde in den USA geboren und wanderte nach Israel ein. Er trägt einen blonden Bart und eine braune Häkel-Kippah auf dem Kopf. Als Treffpunkt hat Chazan eine Talmudschule im Orthodoxen-Viertel von Jerusalem, in Mea Shearim, vorgeschlagen. Die Schule wurde von dem israelischen Rechtsextremisten Meir Kahane gegründet.
Levi Chazan: "Heute war ich auf dem Tempelberg. Wenn Sie vor zehn Jahren mit mir dorthin gekommen wären – wieviele Juden sind damals auf den Tempelberg gegangen? Wie groß war das Interesse im Volk Israel? Nicht der Rede wert. Zwei oder drei sind gekommen. Heute sind es hunderte, sogar tausende Juden im Monat, die auf den Tempelberg gehen. Nicht an die Klagemauer, sondern wirklich oben auf den Tempelberg. Es geht ganz langsam, aber nach und nach wacht das Volk Israel auf. Und wenn das Volk Israel erst die Kraft hat, etwas zu tun, dann kann man es nicht aufhalten."
Die "Akademie für den dritten Tempel" soll mitten in der Judäischen Wüste entstehen, im besetzten palästinensischen Westjordanland. An diesem Ort sollen die künftigen Priester und Leviten ihr Handwerk lernen.
Gehen wir noch einmal auf den Haram Al-Scharif, das edle Heiligtum der Muslime, in eines der Seitengebäude. Dort sitzt Yussuf Natsche, ein Mann im weißen Polohemd, der zugleich freundlich und skeptisch auf den Besucher blickt. Natsche ist Leiter der Abteilung Archäologie und Tourismus beim Waqf, der muslimischen Behörde für die Heiligen Stätten in Jerusalem:
"Die Rechtsregierung unterstützt das rechte Lager faktisch. Das hat sie [zu Besuchen auf dem Haram] ermutigt. Überlegen Sie mal, wie rechte Organisationen schon den Wiederaufbau des dritten Tempels vorbereiten. All das beunruhigt die muslimischen Behörden und verängstigt die normalen palästinensischen Leute. Sie fürchten, dass das nicht eine kleine Gruppe ist, sondern eine wirksame Gruppe. Und wir benutzen diese Gelegenheit, um auf diese Tendenz hinzuweisen."
Yussuf Natsche hat einen Anstieg der Besuche nationalistischer Israelis auf dem Tempelberg in den vergangenen zwei Jahren beobachtet. Genaue Zahlen kann er dazu nicht präsentieren.
Im jüdischen Viertel der Altstadt von Jerusalem, etwa 300 Meter entfernt vom Felsendom, wird sichtbar, wie ernst die nationalreligiösen Gruppen es mit ihren Wiederaufbau-Plänen meinen. In einem Kellergeschoss befindet sich das sogenannte "Tempel-Institut". Es bereitet den Tempeldienst bis ins Detail vor. Eine Gruppe von 20 Christen aus Puerto Rico ist zu Gast und lauscht einer Museumsführerin. Sie deutet auf ein Ölgemälde, das den großen Brandopferaltar im künftigen Tempel zeigt:
"Auf dem Altar wurden alle Opfer dargebracht. Im Hebräischen ist das Wort ‚Opfer’ von dem Wort für ‚Nähe’ abgeleitet. Das heißt, das Opfer ist etwas, was uns Gott näher bringt."
In den Vitrinen sind die neu gewebten Gewänder des künftigen Hohenpriesters zu sehen, sein mit zwölf Edelsteinen verzierter Brustschild, das kupferne Waschbecken, in dem er sich reinigt, Gefäße für das Trankopfer, der Becher zum Auffangen des Blutes des Opfertiers und Becher und Löffel für Weihrauch. Auch die Musikinstrumente für die Leviten sind längst fertig und in diesem Institut zu sehen, die silbernen Trompeten, die hölzernen Harfen und das Schofar aus Widderhorn.
Arabische Kinder in einer Gasse von Jerusalem, auf dem Weg von der Schule nach Hause. Der fröhliche Gassenlärm, nur wenige Meter vom Tempelberg entfernt, kann für ein paar Minuten hinwegtäuschen über die scheinbar unauflösliche Spannung im Kern der Stadt. Wenn es den Nationalreligiösen in Israel gelingen sollte, eines Tages eine Mehrheit für den Tempel-Wiederaufbau zu gewinnen, dann droht dem Land, dann droht der Region Krieg. Noch wird dieser Krieg nur mit Worten geführt. Levi Chazan von der "Akademie für den dritten Tempel" rechtfertigt seine regelmäßigen Besuche auf dem Tempelberg:
"Natürlich mögen die Araber das nicht. Touristen […] stören sie nicht, aber religiöse Juden schon. Sie passen jetzt wahnsinnig auf, dass ein religiöser Jude dort nicht mal den Mund zum Gebet öffnet. Sie lassen Juden dort nicht beten, weil sie die Macht des Gebetes kennen. Ein betender Jude kann viele Türen im Himmel öffnen. Das stört sie natürlich. Aber das ist in Ordnung. Soll es sie ruhig stören. Sollen sie doch ihre Koffer packen und dahin gehen, wo sie hingehören. Sie haben viele Länder, die Araber."