DRK zu Verschickungskindern

"Wir sehen uns in der Verantwortung, Licht ins Dunkel zu bringen"

09:12 Minuten
Symbolbild Kinderverschickung. Verschickung von Flüchtlingskindern aus Berlin zu einem Ferienaufenthalt nach Westdeutschland. Ein kleiner Junge wartet auf dem Flugfeld des Flughafens Tempelhof, 17. August 1953.
Wo Kinder gepflegt werden sollten, haben sie oft auch Misshandlungen erlebt. Erst jetzt, Jahrzehnte später, wird den Betroffenen zugehört. (Symbolbild) © akg-images
Anette Langner im Gespräch mit Nicole Dittmer |
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Auch in Kinderheimen des Deutschen Roten Kreuzes sind Kinder misshandelt und gedemütigt worden. Anette Langner, Vorstand des DRK-Landesverbands Schleswig-Holstein, sagt eine systematische Aufarbeitung zu.
Sogenannte Verschickungskinder wurden vor allem in den 1950er-, 60er- und 70er-Jahren aber auch noch später systematisch gequält, gedemütigt und misshandelt. Bundesweit sind rund acht Millionen Kinder wegen gesundheitlicher Probleme in Kindererholungsheime verschickt worden. Mit Erholung hatte der Alltag dort allerdings wenig zu tun. SPD und CDU, Wissenschaft und Kirchen sprechen sich für eine bundesweite Aufarbeitung aus.
Bundesweit gab es wohl 1000 Heime, in unterschiedlicher Trägerschaft. Die Kinder wurden an die Nordsee, in den Harz oder den Schwarzwald geschickt, weil sie zum Beispiel krank waren oder auch Gewichtprobleme hatten. Doch dort erfuhren Sie massive Misshandlungen. Christa Schneider, die wegen ihres Asthmas zur Kur kam, war damals neun Jahre alt. Sie erinnert sich:
"Und dann gaben sie mir Haferschleim. Ich konnte es einfach nicht essen, und ich musste es natürlich essen, und dann habe ich erbrochen - in den Teller rein. Und dann haben sie mir die Nase zugehalten und den Mund aufgesperrt, und ich musste das Erbrochene essen."

Permanente Demütigungen

Trinkverbot bei Bettnässen, Duschen im Keller mit dem Gesicht zur Wand, während kochend heißes Wasser aufgedreht wurde. Schläge oder nächtliches Strafsitzen im kalten Flur. Es gibt drei dokumentierte Todesfälle. Nach aktuellen Schätzungen wurden etwa zwölf Millionen Kinder in diese sogenannten Erholungsheime verschickt.
Die Journalistin Hilke Lorenz hat Anfang des Jahres ein Buch veröffentlicht: "Die Akte Verschickungskinder. Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden". Darin beschreibt sie, wie das Phänomen strukturell geheim gehalten werden konnte. Unter anderem durch Besuchsverbot für Eltern oder durch zensierte Briefe nach Hause:
"Das war von der Konzeption so, dass man sich für sechs Wochen oder manchmal länger in ein geschlossenes System begeben hat. Es gibt ja auch die Berichte von Nachbarn von Kurheimen, die heute Kurkindern, die dort auf Recherche unterwegs sind, sagen: Wir haben euch immer 'die kleinen Sträflinge' genannt."
Erst seit Kurzem, seit 2019 gibt es den Verein "Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickung e.V". Die Vorsitzende Anja Röhl sagte uns dazu [AUDIO] :
"Wir haben insgesamt jetzt seit einem Jahr 5000 Betroffenenberichte in Fragebögen, dieses Material kann man bisher nur grob, quantitativ auswerten. Und wir haben 2000 öffentliche Zeugnisse, auf unserer Seite www.verschickungsheime.de, das ist die Bundesseite"
Auch das Deutsche Rote Kreuz war Träger von sogenannten Verschickungsheimen. Im Jahr 2012 habe man zum ersten Mal Kontakt zu einem Betroffenen gehabt, der über die Beratungsstelle "Fonds Heimerziehung" an das DRK weiterverwiesen wurde, sagt Anette Langner, Vorstand des DRK-Landesverbands Schleswig-Holstein.
In den vergangenen ein, zwei Jahren habe man immer wieder Kontakt zu Betroffenen gehabt, die ähnliche Schicksale erlebt hätten. Es mache sie "zutiefst betroffen", was in diesen sogenannten Erholungsheimen passiert sei, so Langner.

Missstände sollen aufgearbeitet werden

Um zu klären, warum diese Zustände überhaupt möglich waren, müsse eine wissenschaftliche Aufarbeitung erfolgen, meint Langner. Auf diese Weise könne man auch genauer analysieren, welche Themen konkret auf welche Personen zurückzuführen seien, die vielleicht auch mit einer bestimmten "Denk- und Erziehungskultur des Nationalsozialismus" verbunden gewesen seien. Oder man könne dadurch erfahren, ob auch strukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen solche Vorgänge begünstigt hätten. Daher sei der Initiative sehr zu danken, dass sie die Missstände in den damaligen Kindererholungsheimen in den Fokus rücke.
Als Träger in Schleswig-Holstein habe der DRK-Landesverbands sich entschieden, eine wissenschaftliche Aufarbeitung in Auftrag zu geben. Damit man mehr über die Zustände damals erfahren könne. Sie bedaure es sehr, dass die Kindererholungsheime bisher nicht im Fokus der Aufarbeitung der Jugend- und Heimerziehung gestanden hätten, so Langner.
In Schleswig-Holstein habe es eine breite Debatte und einen Runden Tisch zum Thema Heimerziehung gegeben. Und auch auf Bundesebene habe es den Fonds zur Entschädigung von Betroffenen aus der Heimerziehung gegeben. Dass die Kindererholungsheime nicht beachtet worden seien, könne sie sich nur damit erklären, dass man sich "überhaupt nicht hätte vorstellen können", dass gerade dort, wo Kinder sich erholen sollten, ihnen Unheil zugefügt worden sei.
Neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung in Schleswig-Holstein gebe es nun auch eine extra eingerichtete Stelle beim DRK Generalsekretariat, die für die Aufarbeitung mit verantwortlich sein soll. Man wolle die Menschen ernstnehmen und Licht ins Dunkel bringen, sagt Anette Langner.

(Boussa Thiam/jde)
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