Die Sendung wurde erstmals am 22. Februar 2022 ausgestrahlt.
Kriminalität in Mexiko
Sieht so friedlich aus. Aber für ihre Sicherheit müssen sich die Menschen in der Stadt Cherán täglich engagieren. © Deutschlandradio / Paul Welch Guerra
Wie eine kleine Stadt die Drogenmafia besiegt
22:36 Minuten
Die indigene Gemeinde Cherán war bis vor zehn Jahren Hotspot der Gewalt: Drogenanbau, illegaler Holzhandel, erpresserische Avocado-Geschäfte. Die Mafia hatte das Sagen. Aber dann nahm Cherán seine Geschicke selbst in die Hand.
Dass Cherán keine gewöhnliche Kleinstadt ist, merken Besucherinnen schon am Ortseingang. Kleine Betonhügel zwingen die ankommenden Autos das Tempo zu reduzieren. Zwei Häuschen, Schranken und eine Stahlkonstruktion erinnern an einen Grenzübergang. Ein Schild am Straßenrand richtet sich an die Besucher.
„Die Indigene Gemeinde von San Francisco Cherán heißt dich willkommen. Hier richten wir uns nach Bräuchen und Traditionen. Wir fordern Respekt, Sicherheit, Gerechtigkeit und die Wiederherstellung unseres Territoriums."
Ein Klima der Angst beherrscht das Leben
Wenige Meter dahinter stehen vier maskierte und schwer bewaffnete Männer. Sie mustern alle aufmerksam und stoppen jedes Auto, das sie nicht kennen. Wo wollen Sie hin, wo kommen Sie her? Die Kontrolleure in dunkelblauen Uniformen sind Teil der Ronda Comunitaria, einer indigenen Selbstverteidigungseinheit, die in Cherán für Sicherheit sorgt.
Die Mehrheit der Bevölkerung in Cherán gehört zum indigenen Volk der Purépecha. Seit rund zehn Jahren bewachen die dorfeigenen Einheiten Tag und Nacht die Barrikaden – so nennen die Menschen aus Cherán die Kontrollposten.
Es war der 15. April 2011, der alles verändert hat. An diesem Tag hat sich Cherán erhoben, um Drogenkartelle, illegale Holzfäller und die korrupten politischen Parteien aus ihrer Stadt zu werfen – und sich selbst zu finden. Heute wird auf dem Dorfplatz wieder ausgelassen gefeiert.
Der Tequila fließt, die Blaskapelle spielt und Dutzende Jugendliche in blau-weißen Trachten tanzen einen Stepptanz. An so viel Freude und Sicherheit war in Cherán jahrelang nicht zu denken. Doña Chepa, eine Bäuerin mit einem kleinen Laden in der Nachbarschaft, erinnert sich.
„Sie kamen täglich bewaffnet mit ihren Pick-ups hier an. Und das auch noch mit einer Selbstverständlichkeit, als würden sie ihr eigenes Haus betreten. Uns blieb nichts anderes übrig, als die Köpfe gesenkt zu halten.“
Wie viele hier in Cherán, denkt die 70-Jährige nur ungern an die Zeit zwischen 2008 und 2011. Immer mehr illegale Holzfäller kommen in diesen Jahren aus der Umgebung, um die Wälder in und um Cherán zu fällen. Beschützt werden sie dabei vom berüchtigten Drogenkartell La Familia Michoacána.
In drei Jahren verliert die Gemeinde so über 7000 Hektar Wald – und ihre Sicherheit: Entführungen, Morde und Schutzgelderpressung sorgen für ein ständiges Klima der Angst. Der Lehrer Juan Manuel Rojas, Anfang 60, wohnt mit seiner Familie unweit der Kirche.
„Mit der Zeit haben sich die Kriminellen hier immer freier bewegt und das Dorf vollständig dominiert. Hundert, zweihundert, bis zu dreihundert Pick-ups täglich, alle mit Holz beladen. Wir waren wie gelähmt und wussten überhaupt nicht, was wir dem entgegensetzen konnten.“
Mit Böllern und Kirchenglocken gegen die Mafia
Politisch war Cherán zwar seit jeher gespalten, aber der gemeinsame Feind schweißt zusammen. Alle sind entsetzt über die Korruption auf allen staatlichen Ebenen, die sich nun zeigt, erklärt Juán Rojas.
„Wir haben den Behörden, die ja eigentlich für unser Wohl verantwortlich waren, nicht mehr vertraut. Es wurde so viel Holz geraubt, dass ihre Untätigkeit immer mehr Fragen aufwarf. Es gab einen Pakt und viel sprach dafür, dass kriminelle Gruppen und Regierung inzwischen ein und dieselben waren.“
Die Ausbreitung der Drogenkartelle, die alltägliche Gewalt, die ungebremste Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Korruption – bis heute sind unzählige ländliche und indigene Gemeinden in Mexiko in der gleichen Situation wie Cherán damals, und ganz besonders im Bundesstaat Michoacán in Zentralmexiko. Aber Cherán macht den Unterschied. Denn Cherán hat sich erfolgreich gewehrt.
Mitte April 2011 will Doña Chepa nicht mehr länger dem Niedergang ihrer Gemeinde zusehen. Als es heißt, die Holzfäller hätten inzwischen eine für die Indigenen sakrale Wasserquelle im Wald erreicht, entscheidet sie sich zu handeln. Mit anderen Frauen aus der Nachbarschaft verabredet sie sich früh morgens vor der Kirche, um die kleine Straße zu blockieren, die zur Quelle führt.
„Dann mussten wir nur noch die Kirchenglocken läuten und Böller abschießen, dann waren alle wach.“
Dann, erzählt sie, geht alles ganz schnell. Immer mehr Nachbarinnen und Jugendliche schließen sich dem spontanen Aufstand an. Fünf Holzfäller werden entwaffnet, verprügelt und in der kleinen Kirche eingesperrt. Ein Versuch des Kartells in Zusammenarbeit mit der Polizei, die gefangenen Holzfäller zu befreien, kann wie durch ein Wunder mit Böllern und Steinen verhindert werden. Es gibt Tote und Verletzte.
In Rage setzen die Bewohner mehrere der Holztransporter in Brand – kurz darauf flieht der korrumpierte Gemeindepräsident. Aus Angst vor Racheakten bauen die Bewohnerinnen an allen Ortseingängen Barrikaden. Die gibt es bis heute. Überall in der Stadt werden Feuerstellen errichtet, an denen Tag und Nacht gekocht, geredet und koordiniert wird. Es beginnt ein fast einjähriger Belagerungszustand.
Basisdemokratie am Lagerfeuer
Die Feuerstellen haben inzwischen eine wichtige Bedeutung für die Verwaltung der Gemeinde. Jede entsenden eine Vertreterin in die wöchentlichen Stadtteilversammlungen. Unter einem kleinen Holzverschlag neben der Straße sitzen mehrere Nachbarinnen um eine dieser Feuerstellen, unter ihnen Erwachsene, mehrere Jugendliche und ein Kleinkind. Maistortillas werden mit Käse gefüllt und auf einem Rost erhitzt. Einer von ihnen, Francisco Rosas, 41, erklärt, wie das funktioniert mit den Feuerstellen.
„Auf dieser Seite ist das Lagerfeuer 37, auf der Seite die 38. Wir sind das Feuer 37 ½. Die Lagerfeuer sind in der Nacht vom 15. April 2011 entstanden, um uns zu schützen. Da es nie eine Strategie gegeben hat, haben wir uns hier ausgetauscht wie es in Zukunft weitergehen soll mit der Gemeinde.“
Knapp 200 Feuerstellen entstehen in der Stadt. Man kocht gemeinsam, lernt sich kennen und trifft basisdemokratische Entscheidungen. Und die Entscheidungen, die Cherán im Ausnahmezustand treffen wird, sind radikal: Alle Parteien, Wahlen und Behörden werden aus der Stadt verbannt. Außerdem wird eine Selbstverteidigungseinheit eingerichtet und mit großer Mehrheit dafür gestimmt, eine neue Regierungsform basierend auf Bräuchen der Purépecha-Kultur einzuführen.
Diese Option auf Selbstbestimmung sieht die mexikanische Verfassung vor, sofern eine Gemeinde mehrheitlich indigen ist. Nach jahrelangen Prozessen gewinnt Cherán im Mai 2014 vor dem Verfassungsgericht. Die erste offiziell anerkannte, selbstbestimmte indigene Gemeindeverwaltung Mexikos war geboren. Ein Meilenstein.
Avocado-Anbau ist inzwischen verboten
Auf dem Rathausplatz ist Markt. Händlerinnen aus der ganzen Region verkaufen Kleidung, Käse und Gemüse aller Art. Doch Avocados aus Cherán sucht man hier vergeblich. Dabei liegt Cherán eigentlich mitten im wichtigsten Avocado-Anbaugebiet Mexikos. Rund 30 Prozent der weltweit produzierten Avocados stammen aus der Region.
Ein handgemalter Aushang am Eingang des Rathauses erklärt:
„An die gesamte Gemeinde: Denkt daran, dass sich alle vier Viertel darauf geeinigt haben, dass der Anbau von Avocados in Cherán verboten ist. Helft uns unsere Gemeinde frei von Problemen zu halten.“
„An die gesamte Gemeinde: Denkt daran, dass sich alle vier Viertel darauf geeinigt haben, dass der Anbau von Avocados in Cherán verboten ist. Helft uns unsere Gemeinde frei von Problemen zu halten.“
Gleich mehrere Drogenkartelle kämpfen mit Übernahmen von Plantagen und Schutzgelderpressungen um die Vorherrschaft im Avocado-Markt. Umweltschützer, die auf die verheerenden gesundheitlichen und ökologischen Folgen des Avocado-Anbaus hinweisen, droht der Tod, genauso wie Händlern und Bauern, die nicht kooperieren wollen.
Das Avocado-Geschäft boomt, sowohl in den USA, also auch in Europa.
Das Avocado-Geschäft boomt, sowohl in den USA, also auch in Europa.
Doch für neue Plantagen braucht es Flächen. So entsteht eine fatale Kreislaufwirtschaft, erklärt die Anthropologin Veronica Velazquez. Sie kommt selbst aus der Region und hat lange in Cherán gelebt und geforscht.
„Die Kartelle wollen das Territorium ja nicht nur wegen des Drogenhandels kontrollieren, sondern auch für die Produktion. Du rodest die Flächen, verbrennst den Boden und pflanzt Avocado. Und schon ist die Fläche Teil einer vom Staat geförderten, legalen Ökonomie. Und in den Plantagen werden dann Laboratorien für den Anbau chemischer Drogen angelegt.“
Cherán will da nicht mitmachen. Und deshalb gibt es keine Avocados mehr, es sei denn, sie kommen aus dem heimischen Garten.
Ein Zurück zu den Parteien ist undenkbar
Im kleinen Rathaus von Cherán ist reger Betrieb. In der Eingangshalle thront ein großes Wandbild von Emilio Zapata, dem Anführer der Landlosen während der mexikanischen Revolution in den 1910er-Jahren. Das Haus beherbergt viele der Räte, die das neue Regierungssystem der Gemeinde ausmachen: einen Jugendrat, einen Rat für Gerechtigkeit, ein Rat für Gemeingüter sowie den Rat der Stadtteile.
Gerade tagt der Ältestenrat. Mariano Ramos Rojas, einer der insgesamt zwölf Mitglieder des Ältestenrats, erklärt: "Niemand von uns ist Politiker, wir wurden darauf nicht vorbereitet. Wir sind hier, weil uns die Menschen vertrauen. Meine Kollegin ist Verkäuferin, die andere ist Hausfrau, ich bin ein pensionierter Lehrer, der Kollege ist Maurer, der andere Bauer.“
Für drei Jahre übernehmen sie Regierungsverantwortung. Wie die Mitglieder aller anderen Räte wurden sie einzeln an ihren jeweiligen Feuerstellen nominiert und anschließend per Handzeichen auf Stadtteilversammlungen gewählt. Das direktdemokratische System sieht vor, dass die Räte sich konstant auf den Stadtteilversammlungen rückversichern müssen, ob sie im Sinne der Gemeinde handeln.
Eine neue Regierungsform war notwendig
Jede Feuerstelle entsendet eine Koordinatorin zu den Versammlungen und berichtet anschließend am Lagerfeuer den Nachbarn. María de la Luz Estrada Velázquez, ebenfalls Rätin, erinnert sich:
"Wir waren dazu gezwungen, über eine eigene Regierungsform nachzudenken, weil die Parteien unsere verzweifelten Hilferufe ignoriert haben. Dann haben wir gesagt, es reicht, und begonnen, uns neu zu organisieren. Jetzt machen auch mehr Frauen mit, in dieser Legislaturperiode sind wir Gott sei Dank sogar sieben Frauen im Rat.“
In nun knapp elf Jahren hat die Gemeinde gelernt, sich selbst zu regieren, ein Zurück zu Parteien scheint undenkbar. Doch ganz ohne staatliche Hilfe geht es auch nicht, sagt María de la Luz:
„Wir wollen, dass der Staat uns weiterhin unterstützt, die Wälder zu schützen. Mit Trauer sehen wir, wie unsere Nachbarorte die Wälder vernachlässigen und überall Avocado-Plantagen pflanzen. Sie sehen nicht, was uns das für Probleme bringen wird.“
Waldwächter fahren täglich Patrouille
Die Waldwächter von Cherán fahren mit ihrem Pick-up im Schritttempo durch bergiges Terrain. Täglich patrouilliert die Einheit bis tief in die Nacht, um die Gemeinde und den Wald zu schützen. Vier maskierte Männer mit Maschinengewehren stehen auf der Ladefläche und mustern konzentriert die kleine Siedlung, die am rechten Rand der Schotterpiste auftaucht: La Mojonera.
La Mojonera ist eines der vielen Dörfer rund um Cherán, die nicht aufgehört haben, Holz zu fällen. Und die Waldwächter von Cherán versuchen zu verhindern, dass die illegalen Holzfäller dabei die Grenze zu ihrem Territorium überschreiten.
Immer wieder erwischen sie welche auf frischer Tat und konfiszieren ihre Motorsägen. Einer der Waldwächter zeigt auf sein Maschinengewehr und erklärt: „Wir müssen dies mit uns tragen, weil wir nie wissen, ob sie uns auflauern.
Erst vor etwa 15 Tagen haben wir im Morgengrauen welchen die Lasttiere weggenommen, dann haben sie begonnen, auf uns zu schießen. Sie sind wütend auf uns, weil wir sie nicht fällen lassen. Sie sagen, wir haben Hunger, deshalb fällen wir die Bäume. Wir sagen ihnen dann, sie sollen sich eine andere Arbeit suchen.“
Holzfällen, das war vor 2011 auch unter den Bewohnern Cheráns eine weitverbreitete und akzeptierte Arbeit. Große, staatlich subventionierte Sägewerke boten Arbeitsplätze für Hunderte. Gerade für viele arme Familien konnte der Verkauf von selbstgefällten Pinien eine illegale, aber willkommene Alternative zu den unterbezahlten Jobs der Landwirtschaft sein. Doch nach dem Aufstand kam es in der Purépecha-Gemeinde zu einer Rückbesinnung, meint Anthropologin Veronica Velazquez.
„Für die mesoamerikanischen Indigenen hat das Territorium eine symbolische Schlüsselfunktion, um mit den Vorfahren in Verbindung zu sein. Es schafft Zugehörigkeit. Das war in Cherán aber weitgehend verloren gegangen. Nach dem Aufstand hat die Gemeinde versucht, dieses spirituelle Verhältnis zur Natur wieder zu beleben."
Heute ist Holzfällen nur noch für den Privatkonsum und mit Erlaubnis der Behörden gestattet. Eine schwerwiegende Entscheidung, denn in Cherán haben viele Menschen vom Holzverkauf gelebt. Gleichzeitig pflanzt der Rat für Gemeingüter jährlich Tausende neue Bäume, um den Wald wieder aufzuforsten.
Fehlt der Wald, dann fehlt auch das Wasser
Unmittelbar neben dem Weg, der die Grenze zwischen Cherán und La Mojonera markiert, zerschneiden zwei Männer einen großen Baum mit Motorsägen. Die Waldwächter fahren ohne zu grüßen vorbei. Hinter der Siedlung sieht man die Folgen der Abholzung am Horizont.
Avocado-Plantagen prägen inzwischen ein Großteil der Landschaft rund um Cherán. Mit verheerenden Folgen für Mensch und Natur. Lokale Medien berichten über einen Anstieg an Fehlgeburten und anderen gesundheitlichen Schäden bei Erntearbeiterinnen und Anwohnerinnen – ausgelöst durch Pestizide, von denen viele in Europa verboten sind. Der hohe Wasserbedarf greift die Grundwasserbestände an.
„Hier oben haben sie schon kein Wasser mehr, alles trocknet aus. Bei uns in Cherán gibt es noch genug Wasser, weil wir nicht zulassen, dass der Wald gefällt wird. Nun kommen sie mit Pumpen hier her, um Wasser zu holen.“
Wenn Tere Guardian durch die Innenstadt läuft, kommt sie mit dem Grüßen von Bekannten kaum hinterher. Die 56-jährige Familientherapeutin und Aktivistin ist in Cherán eine bekannte Persönlichkeit. Auf dem Rathausplatz nähert sie sich einer Seniorin, die, in einem traditionellen schwarzblauen Stofftuch gekleidet, Heilkräuter verkauft.
Neben den Frauen steht eine große Gedenktafel, die an diejenigen erinnert, die im Zuge des Aufstandes getötet oder verschleppt wurden.
„Vielen von uns bricht noch immer die Stimme, wenn wir davon sprechen, was an diesem Tag passiert ist. Was ist mit all den Verschwundenen passiert, für die wir noch immer keine Gerechtigkeit bekommen haben? Es gibt immer noch keine Institution, weder vom Bundesstaat noch vom Zentralstaat, die sich für unsere Toten und Verschwundenen interessiert hätte. Der Staat hat hier weder für Gerechtigkeit noch für Sicherheit gesorgt. Für Sicherheit mussten wir selbst sorgen.“
„Wer darf bei uns Recht sprechen?“
Cherán ist es nach 2011 gelungen Morde, Entführungen und andere schwere Verbrechen auf ein Minimum zu reduzieren, und gilt als eine der sichersten Städte Mexikos. Doch eine Frage ist noch ungelöst: Wer darf in der selbstverwalteten Gemeinde Recht sprechen? In den ersten Tagen des Aufstandes gelingt es nur knapp zu verhindern, dass sich die über Jahre aufgestaute Wut in Lynchmorden an den gefangen genommenen Holzfällern entlädt. Aber Selbstjustiz darf es nicht geben.
Für Juan Manuel Rojas, der selbst drei Jahre im Ältestenrat war, ist die Frage von Recht und Gerechtigkeit eine der größten Herausforderungen für die Gemeinde.
„Alle Familien hier kennen sich. Es ist deshalb schwierig, Gerechtigkeit walten zu lassen, ohne dass bei Menschen Ressentiments entstehen. Und wenn man dann irgendwann nicht mehr an der Macht ist, dann kann das Konsequenzen haben. Kleinere Delikte können wir meistens durch Vermittlung lösen, doch bei Kapitalverbrechen wie einem Mord müssen wir uns an externe Institutionen wenden.“
Auch die Sicherheitsfrage scheint keineswegs langfristig gelöst. Das Kartell Jalisco Nueva Generacion, inzwischen das mächtigste Kartell Mexikos, gewinnt immer mehr Land im Bundesstaat Michoacán. Überall dort, wo andere Kartelle sich ihnen entgegenstellen, kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. In manchen Orten bilden sich Selbstverteidigungseinheiten, die die Lage noch unübersichtlicher machen.
Andere Dörfer werden zu sogenannten Geisterdörfern, aus denen alle Menschen fliehen. Könnte Cherán einem neuen Angriff etwas entgegensetzen? Tere Guardian zweifelt nicht: „Ich bin mir sehr sicher, wenn es heißt, sie bedrohen uns wieder oder versuchen in unser Dorf einzudringen, zögert Cherán keine Sekunde. Wir wären sofort wieder auf den Plätzen.“
Die Jugendlichen tragen ein schweres Erbe
Wie jeden Mittwochabend treffen sich die Abgeordneten der Lagerfeuer und Interessierten zur Stadtteilversammlung. Drei Jugendliche stehen sichtbar aufgeregt auf der Bühne. Sie haben für den frisch gewählten Rat für zivile Angelegenheiten einen Aktionsplan erarbeitet, um die Freizeit- und Kulturangebote für Jugendliche auszubauen. Gefördert werden sollen u.a. Tanz- und Volleyballkurse. Die vorwiegend älteren Männer im Publikum nutzen die Feedbackrunde für Kritik und eindringliche Appelle. Mit Purépecha-Kultur hätten die Vorschläge wenig zu tun.
„Als junge Menschen habt ihr eine sehr wichtige Aufgabe. Aber dabei solltet ihr unseren Bräuchen und Traditionen folgen. Die Einzigen, die heute noch unsere Sprache bewahren, sind unsere Großeltern. Wenn wir die schon nicht retten können, so müssen wir wenigstens unsere Identität bewahren, sie ist auch die Voraussetzung für unsere Rechte als Indigene.“
Denn sollte Cherán eines Tages nicht mehr als indigene Purépecha-Gemeinde anerkannt sein, dann verliert sie womöglich ihr Recht auf Selbstbestimmung. Rosa Maria, 22, ist vor zwei Monaten in den Rat der Jugendlichen gewählt worden. Erst wurde sie von ihrer Feuerstellen-Gruppe nominiert und dann durch ihre Stadtteilversammlung bestätigt. Sie kennt den Generationenkonflikt nur allzu gut.
"Es gab schon mal eine Kontroverse um einen Club für modernen Tanz, den wir vorgeschlagen haben. So was ist hier in der Gesellschaft noch nicht akzeptiert, weil es andere Bewegungen sind als unsere normalen Tänze. Wir versuchen, neue Sachen deshalb nur Schritt für Schritt einzuführen, ohne die Werte der Gemeinde zu verlieren.“
Rätin im Jugendrat zu sein ist für Rosa Maria eine große Ehre, aber auch viel Arbeit. Sechs Tage die Woche ist sie im Dienst, oft dauern die Versammlungen bis spät in die Nacht. Nebenbei ein Kind, ein Job oder ein Studium zu haben, ist während der dreijährigen Legislaturperiode undenkbar. Der Jugendrat hat große Pläne.
„Wir wollen eine Schule für politische Bildung für Jugendliche aufbauen. Wo ihre Positionen gehört werden und sie sich beteiligen können. Viele, die nach 2012 geboren sind, wissen gar nichts von dem Aufstand, den es hier gab.“
Während Cherán aktiv um die eigene Weiterentwicklung ringt, sind längst andere indigene Gemeinden in der Region inspiriert, es Cherán gleich zu tun. Am 20. Dezember 2021 berichtet die Tageszeitung La Jornada, dass die Regierung von Michoacán die Autonomie von 15 indigenen Gemeinden anerkennen und ihnen Waffen zur Selbstverteidigung liefern will. 50 weitere haben bereits eigene Sicherheitskräfte gebildet. Im Kampf gegen die Kartelle bleibt ihnen nichts anderes übrig.
Musik: Pablo Melotta
Mitarbeit: Luz Estrello
Mitarbeit: Luz Estrello