Sucht im Alter
Der neue Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung blickt auch auf Medikamenten- und Alkoholsucht im höheren Alter. Eine Berliner Suchtklinik setzt bei ihrer Arbeit mit abhängigen Senioren sowohl medizinische als auch soziale Schwerpunkte.
Zehn Männer und Frauen stehen an diesem Morgen in der Turnhalle des St. Joseph Krankenhauses in Berlin Weißensee. Auch Erich Mühlbach. Er ist 73 Jahre alt, Vater von zwei Kindern, Opa, wohlhabend, Rentner - und Alkoholiker. Deshalb lebt Erich seit acht Wochen in der Klinik des Alexianer Ordens. Er will seinen richtigen Namen nicht öffentlich machen, so wie alle Patienten hier.
Bei der morgendlichen Sportgymnastik hüpft der 73-Jährige hin und her, lässt Hüfte, Ellenbogen und Kopf kreisen. Bewegungen, die vor ein paar Wochen für ihn noch undenkbar waren. Er hatte sich eingeigelt, wie er sagt. Er hatte keine Kraft und keine Energie mehr, blieb meistens allein Zuhause. Dass er Alkoholiker ist, kann Erich manchmal selbst nicht glauben: "Exzessiv habe ich nicht getrunken, Vollrausch nicht, aber dass man gerade noch so nach Hause gekommen ist und sich hinlegen konnte. Ich trink keinen schlechten Schnaps, auch keinen schlechten Alkohol, hab ich nie getrunken - natürlich Cognac und dann ein Bier dazu. Ein Viertelliter wird das schon immer sein. Und dann noch Bier dazu. Zuletzt war das schon schlimm."
Erst die Gewöhnung, dann der Verlust der Kontrolle
Erich ist ein typischer Alkoholiker im Seniorenalter: Jahrzehntelang an reichlich Wein, Bier und Schnaps gewöhnt, dann ein Schicksalsschlag – bei Erich der Tod seiner Frau - Trauer, eine große, persönliche Veränderung, mit der man nicht umgehen kann und der Konsum gerät außer Kontrolle. Ungewöhnlich bei Erich ist nur, dass er offen über seine Sucht redet: "Das muss man der Allgemeinheit mitteilen, sonst versuchen die Leute immer wieder, einen dazu zu verleiten. Warum soll ich das verheimlichen? Lügen liegen mir nicht, bin ein ehrlicher Mensch und deshalb sage ich: 'Ich trinke keinen Alkohol, weil ich Alkoholiker bin oder Alkoholiker war.' Warum sollte ich das nicht zugeben?"
Einen Stock über der Turnhalle, in der Erich gerade schwitzt, sitzt Frank Godemann in seinem Büro, schreibt e-mails. Godemann ist im St. Joseph-Krankenhaus Chefarzt der Klinik für Seelische Gesundheit im Alter und Verhaltensmedizin. Er hat in den letzten Wochen viele Gespräche mit Erich geführt, weiß, dass Sucht bei einem alten Menschen wie ihm anders behandelt werden muss als bei jüngeren: "Suchtbehandlung ist immer in der Klinik eine Behandlung im Sozialen Umfeld und das ist bei älteren Menschen ein anderes. Das heißt, es kann sein, dass wir gucken, dass wir Kontakt zu einer Gruppe, wo es auch um Trauer und um den verlorenen Angehörigen geht, dass das etwas Bedeutsames ist."
Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen haben 26,9 Prozent der Männer über 60 einen riskanten Alkoholkonsum und je nach Schätzung sind 1,4 bis 1,9 Millionen Senioren medikamentensüchtig. Ein Likörchen zum Kaffee, das Verdauungsschnäpschen nach dem Mittagessen, die Schlaftablette am Abend helfen und erleichtern sofort. Ab wann aus dieser Erleichterung eine problematische Abhängigkeit wird, ist manchmal schwer zu erkennen: "Sucht ist immer ganz stark mit Scham verbunden und so gesehen ist es auch für ältere Menschen nicht einfach, dass für sich selber zu sagen, sich selber das einzugestehen, das offen anzugehen. Im Alter gibt es noch eine weitere Schwierigkeit, die es so in jungen Jahren nicht gibt. Die Übergänge zwischen sinnvollem Gebrauch, Missbrauch und Abhängigkeit sind bei einzelnen Substanzen deutlich fließender."
Die Unterstützung des Partner - die haben im Alter nicht alle
Friedrich zum Beispiel hat 20 Jahre gebraucht, bis er merkte, dass mit seinem Schlaftablettenkonsum etwas nicht stimmte. Der 83-Jährige hat im Moment Therapiepause, sitzt deshalb draußen vor der Klinik in der Sonne: "Ich habe ein Schlafmittel genommen, was im Normalfalle mit einer halben oder einer Tablette zu bewältigen ist, auch mit anderthalb noch mit zweien gerade so und ich habe dann zum Schluss drei genommen. Und das hat zu Beziehungsstörungen zwischen meiner Frau und mir geführt, die leider nicht ohne ein paar Handgreiflichkeiten abgingen."
Drei Schlaftabletten am Tag – diese Menge verschreibt in Deutschland kein einzelner Arzt. Das weiß auch Friedrich und er trickst: "Ne ne, die gab es nicht frei zu kaufen. Ich habe, ich hab sie auf regulärem Wege bekommen und es gab eine Zeit, da hat mich auch meine Frau darin unterstützt, ohne dass sie die Folgen ahnen konnte."
Die Unterstützung seiner Frau besteht darin, dass auch sie sich vom Hausarzt ein Rezept für Schlaftabletten verschreiben lässt, die dann Friedrich einnimmt. Eine Schummelei mit schweren Folgen. Durch die jahrelange Überdosis wird Friedrich immer verwirrter, nimmt seine Umgebung irgendwann nur noch schemenhaft war, greift schließlich im Streit sogar seine Frau an. Die zieht die Notbremse und organisiert für ihren Mann einen Entzug in der Klinik. Neulich war er für ein Wochenende Zuhause. Geschlafen hat er gut, mit nur einer halben Tablette.