Dror Mishani: "Fenster ohne Aussicht"

Die Härte des Schlags anerkennen

06:21 Minuten
Cover des Buches "Fenster ohne Aussicht. Tagebuch aus Tel Aviv" von Dror Mishani
© Diogenes

Mishani, Dror

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke

Fenster ohne Aussicht. Tagebuch aus Tel AvivDiogenes, Zürich 2024

214 Seiten

26,00 Euro

Von Carsten Hueck |
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Nach dem 7. Oktober 2023 steht Dror Mishani unter Schock. Der Autor und Dozent für Kriminalliteratur schreibt ein Tagebuch, das eindrücklich dokumentiert, wie das Massaker der Hamas und der folgende Krieg im Gazastreifen Israel verändern.
„Schock und Mobilisierung“ heißt das erste Kapitel im Tagebuch, „Verwirrung und Furcht“, „Flucht und Fantasien“ sind weitere übertitelt. Ein halbes Jahr lang zeichnet Dror Mishani seine Gedanken und Gefühle, Alltagsbeobachtungen und Gespräche auf.
Er beginnt am 7. Oktober 2023, am Tag des Überfalls der Hamas auf Israel und der Ermordung von über tausend Menschen. Mishani, Gast eines Krimifestivals, sitzt morgens in einem Hotelzimmer in Frankreich, als er Nachrichten seiner Frau erhält. Stunde um Stunde verdichten sich die Meldungen über das, was im Süden Israels passiert. Er will sofort zu seiner Familie fliegen, aber es gibt schon keine Flüge mehr. In den Augen der Festivalmitarbeiter liest der Autor die Dimension des Geschehens. Er spürt seine Angst und fühlt sich an Pogrome und die Shoah erinnert.

Die Fortschreibung des Leids

Schließlich doch auf dem Rückflug, entwirft er einen Artikel, in dem er das, was kommen wird, infrage stellt. „Vielleicht sollten wir Gaza nicht ausradieren. Vielleicht sollten wir die Härte des Schlags, den wir erlitten haben, anerkennen, das Ausmaß des Schmerzes, sollten die Niederlage eingestehen und nicht versuchen, sie umgehend durch einen vorgeblichen Sieg zu tilgen, der in Wahrheit nur eine Fortschreibung des Leids wäre.“
Diese Haltung, die Mishani noch quasi unter Schock einnimmt, wird sein Denken auch in den folgenden Monaten bestimmen. Er stellt sich damit in Gegensatz zu seinem Bruder, einem Soldaten, seiner Mutter und seiner Tochter. In Gegensatz auch zum Selbstverständnis Israels.

Verstellte Aussicht

Mishanis Tagebuchaufzeichnungen sind intime Selbstbefragungen und die Suche nach einer Perspektive für Israel. Wie wenig Zuversicht darin Platz findet, versinnbildlicht der Blick des Autors durch sein Bürofenster – er sieht eine schwarze Wand, die Rückseite des historischen Gebäudes, in dem 1948 David Ben Gurion den Staat Israel proklamierte. Es soll zwar umgebaut werden, ist derzeit aber eine verlassene Ruine. Darin erkennt Mishani eine Metapher für den Zustand seines Landes. Aus Träumen erschaffen, ist es nun vor allem traumatisiert. Und ohne Aussicht auf Frieden.
Sehr genau analysiert Mishani die Folgen von Massaker und Krieg auf die israelische Gesellschaft. Er selbst verweigert sich einfacher Kriegslogik und hinterfragt das eigene Tun, ist sich nicht sicher, ob Schreiben in dieser Situation überhaupt noch einen Sinn hat. Beim Vorlesen an der Uni bricht er vor seinen Studenten in Tränen aus.
Und doch gibt ihm Literatur eine Art Halt. „Ich brauche Worte, die die Giftsätze, die ich den ganzen Tag gehört und gelesen habe, erträglicher machen.“ Immer wieder greift er zur Ilias und dem Buch Ezechiel. Ein Gegengift zur nationalistischen Rhetorik der Politiker und der Medien, deren Einfluss er sich ganz bewusst entzieht.

Mit Feingefühl und Zweifeln

Mishani ist ein Mahner und ruhiger Beobachter, ein Analytiker mit psychologischem und politischem Feingefühl. Seine Bestandsaufnahme der israelischen Gesellschaft und auch der eigenen Psyche setzt sich aus vielen kleinen Bildern zu aussagekräftigen Miniaturen zusammen.
„Fenster ohne Aussicht“ ermöglicht, den Autor beim Nachdenken zu begleiten. Direkt, anschaulich, persönlich offenbart es Ängste und Zweifel, aber auch die Kraft eigenständigen Denkens. Dieses Tagebuch ist ein Journal persönlicher Verstörung und ein Dokument der Zeitgeschichte.
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