"Du hast keine Chance, aber nutze sie!"

Von Uwe Bork |
Sie erinnern sich? So lange ist es ja auch noch gar nicht her, dass viele Deutsche ernsthaft mit dem Gedanken zu spielen schienen, ihren Kanarienvogel unter Quarantäne zu stellen und eine eigene Seuchensperre anzulegen. So ganz privat und etwa zwischen Küche und Korridor. Oder Bett und Bad. Nur mit derart drastischen Maßnahmen, so befürchteten sie, könnte dem unheimlichen Angriff der tödlichen Vogelgrippe überhaupt noch Einhalt geboten werden. Wenn denn nicht ohnehin schon alles zu spät wäre.
Angesichts eines Szenarios, in dem das bis dato ungebräuchliche Tätigkeitswort 'käulen' kurz davor stand, neben 'Papa', 'Mama' und 'Auto' in den Grundwortschatz von Kleinstkindern aufgenommen zu werden, in dem die Nachrichtenbilder von der Insel Rügen eine morbide Ausstrahlung entwickelten, wie sie vorher allenfalls der Berichterstattung über Bomben und Bürgerkriege in fernen Wüstenstaaten vorbehalten gewesen war, und in dem die Blattmacher der Boulevardpresse nur allzu offensichtlich meinten, mit jeder ihrer Schlagzeilen die apokalyptische Wucht mancher Bibelverse noch übertreffen zu müssen, in dieser beängstigenden Situation wirkte alles wie unentschlossenes Herumkurieren an unbedeutenden Symptomen, was nicht mindestens Millionen Tote miteinkalkulierte. Menschen oder wenigstens doch Vögel.

Und heute? Nun gut, die Hitze der vergangenen Wochen hat anscheinend mit hohen UV-Werten und außergewöhnlicher Trockenheit verhindert, dass die Vogelgrippe-Viren einen für sie günstigen Nährboden fanden. Seit dem 12. Mai ist jedenfalls in Deutschland kein Vogel mehr an Vogelgrippe verendet. Indes: Den auch für Menschen gefährlichen H5N1-Virus gibt es noch immer, und Vögel sterben auch noch, wenn auch derzeit nicht mehr direkt vor unserer Haustür. Entwarnung, so sagen die Experten, könne derzeit jedenfalls noch nicht gegeben werden.

Uns scheint diese Gefahr allerdings nicht mehr zu beunruhigen. Aus den Augen, aus dem Sinn, genauso wie andere einst dräuende Katastrophen, bei denen mehr oder minder berufene Propheten das jeweilige Ende unserer Zivilisation an die Wände von Redaktionsstuben und Wohnzimmern pinselten.

"Wir stehen vor einem ökologischen Hiroshima", prognostizierte etwa schon 1983 das Nachrichtenmagazin "Spiegel" und meinte damit das Waldsterben. Heute siechen unsere Bäume zwar immer noch dahin und besonders manche Bergkuppen sind bereits kahl, andererseits sind unsere Wälder unter anderem wegen des erhöhten Stickstoffeintrags aus der Luft und wegen der klimatisch bedingten Verlängerung der Vegetationsperiode aber auch stärker gewachsen als üblich.

Die Liste der ausgebliebenen Apokalypsen ist schier endlos. Sie erinnern sich noch an den 'sauren Regen'? Noch vor Ende der achtziger Jahre, so eine weitere Print-Prophezeihung von 1983, würde sich Mitteleuropa in eine Säuresteppe verwandeln. Der Rinderwahnsinn? Myriaden debiler Deutsche durch fortgesetzten Steak-Genuss? Auch hier ist es wieder anders gekommen als gedacht. Und vorhergesagt.

Natürlich ist es naiv und kurzsichtig, die Gefahren schlicht nicht wahrnehmen zu wollen, die diesem Globus immer wieder drohen. Er mag in der Tat die beste aller möglichen Welten sein, eine Garantie dafür, dass er in dieser trotzdem geradezu erbärmlichen Bestform aber auch auf ewig so weiter besteht, ist das freilich nicht. Ohne entschiedene Gegenmaßnahmen hätte die Vogelgrippe vielleicht wirklich weit mehr Opfer gefordert als nur 343 Wildvögel, drei Katzen und einen Steinmarder. Und ohne aktives Eingreifen von Förstern, Forstwissenschaftlern und Politikern würde eventuell tatsächlich eine deutsche Steppe statt eines deutschen Waldes unsere Fluren bedecken.

Solche Gegenmaßnahmen wären aber vermutlich unterblieben, wenn die Akteure sich von den schlechten Aussichten und der vermeintlichen Unabwendbarkeit ihres Schicksals hätten lähmen lassen. "Du hast keine Chance, aber nutze sie!" forderte bereits vor Jahren der deutsche Schriftsteller, Regisseur und Maler Herbert Achternbusch. Und er hat Recht.

Das menschliche Gehirn, wiewohl in seiner Leistungsfähigkeit noch immer nicht ausgelotet, hat dennoch unbezweifelbar Grenzen seiner Kapazität. Wenn wir es ausschließlich damit beschäftigen, Weltuntergänge zu prognostizieren, aus einem GAU einen Super-GAU zu machen und das Negative nur noch schwärzer einzufärben, wird uns das um so weniger Potential dafür übrig lassen, nach den schlüssigen Lösungen für globale wie lokale Probleme zu suchen und daran zu arbeiten, die menschlichen Lebensverhältnisse zu verbessern.

Ein Optimismus, der nicht in einer Veränderung der Realität mündet, macht sich lächerlich. Eine Veränderung der Realität, die nicht von Optimismus geleitet wird, verliert die Orientierung. Vielleicht ist es deshalb für unser Überleben auf diesem Planeten notwendig, seine Untergänge hinter uns zu lassen. Stattgefunden haben sie ja ohnehin nicht.


Uwe Bork, geboren 1951 im niedersächsischen Verden (Aller), studierte an der Universität Göttingen Sozialwissenschaften. Nach dem Studium arbeitete Bork zunächst als freier Journalist für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und ARD-Anstalten. Seit 1998 leitet er die Fernsehredaktion 'Religion, Kirche und Gesellschaft' des Südwestrundfunks in Stuttgart. Für seine Arbeiten wurde er unter anderem mit dem Caritas-Journalistenpreis sowie zweimal mit dem Deutschen Journalistenpreis Entwicklungspolitik ausgezeichnet. Bork ist Autor zahlreicher Glossen und mehrerer Bücher, in denen er sich humorvoll-ironisch mit zwischenmenschlichen Problemen auseinandersetzt.