"Du sollst keine Zinsen geben"
Die jüdische Religion ist nach den Worten von Elisa Klapheck gut mit modernem Wirtschaftsdenken vereinbar. Schulden seien im Judentum kein Tabu, weil es im Judentum nicht darum gehe, grundsätzlich frei von Schuld zu werden.
Dieter Kassel: Schulden – das Thema beherrscht in Zeiten von Finanzkrise und drohenden Staatsbankrotten die Schlagzeilen wie kaum ein anderes. Wie aber bewerten der Islam, das Juden- und das Christentum Schuld und Schulden? Was sagen die drei abrahamitischen Religionen zu finanzieller und zu moralischer Schuld, was sagen sie über Schuldenerlass, Zins und Zinseszins? Wie wird jeweils das Streben nach persönlichem Reichtum bewertet? Ab heute klären wir das in Gesprächen im Vertreterinnen und Vertretern der jeweiligen Religion, und beginnen wollen wir heute mit Elisa Klapheck. Sie ist Rabbinerin in Frankfurt am Main und Gründerin eines Vereins zur Förderung jüdischer Wirtschaftsethik. Schönen guten Tag, Frau Klapheck!
Elisa Klapheck: Ja, guten Tag!
Kassel: Bleiben wir doch mal bei dieser jüdischen Wirtschaftsethik ganz grundsätzlich: Lässt die denn das Schuldenmachen überhaupt zu oder ist das ein Tabu?
Klapheck: Es ist kein Tabu, weil es im Judentum nicht darum geht, grundsätzlich frei von Schuld zu werden. Die Schuld ist ja entstanden dadurch, dass wir ein Schuldgefühl haben. Und das Schuldgefühl ist, glaube ich, im Judentum nicht so negativ gesehen wie im Christentum. Das Schuldgefühl, das Schuldenmachen, ist etwas Positives, das bindet uns ja aneinander. Eine Gemeinschaft mit großen Zielen, also sozialer Gerechtigkeit, wäre gar nicht möglich, wenn wir nicht ein Schuldgefühl hätten füreinander. Der eine schuldet dem anderen was, zum Beispiel die Solidarität, und dann natürlich müssen wir irgendwie Geld versammeln, um größere – zum Beispiel soziale – Projekte zu finanzieren. Und dafür macht man Schulden.
Kassel: Das heißt im Umkehrschluss aber auch, das Ideal eines Lebens ohne Schulden und etwas übertragen auch ohne Schuld – dieses Ideal gibt es im Judentum gar nicht?
Klapheck: Es geht darum, schuldfähig zu werden, nicht schuldfrei, sondern schuldfähig, mit der Schuld umgehen zu können, konstruktiv, konkret, zu etwas Positivem.
Kassel: Wenn wir beim Thema Geld und Geldverleihen bleiben, dann ist es doch so, wenn ich Ihre erste Antwort richtig verstanden habe, dass man dazu regelrecht verpflichtet ist, um eben auch Menschen, Teilen der Gesellschaft, die Geld benötigen, zu helfen. Heißt das aber auch, man darf damit etwas verdienen, sprich, man darf Zinsen nehmen?
Klapheck: Tatsächlich steht in der Tora ein Zinsverbot. Wenn man das aber genau liest und auch sieht, wie im Talmud darüber weiter diskutiert worden ist, geht es nicht um ein absolutes Zinsverbot, sondern ein relatives Zinsverbot. Dreimal steht in der Tora – also in der hebräischen Bibel – im Alten Testament dieses Zinsverbot, und dreimal sieht man, es geht eigentlich um eine Einschränkung. Man soll dem Bruder, der in Not geraten ist, den soll man nicht zusätzlich bedrücken mit Zinsen, dem soll man ein zinsfreies Darlehen geben. Daran sieht man, es geht nicht grundsätzlich um ein Zinsverbot, sondern in dieser speziellen Notsituation.
Das andere Mal ist davon die Rede, man soll die anderen aus der Gemeinschaft nicht übervorteilen. Da wird ein Unterschied gemacht zwischen Zins und Wucher. Und tatsächlich, im Talmud wird ausgearbeitet, bis wohin ein Preis noch ein fairer Preis ist, und ab wann es umschlägt in Wucher, und vor einem Rabbinatsgericht eingeklagt werden kann. Und das dritte Mal ist davon die Rede, nicht, dass man Zinsen nehmen soll, sondern Zinsen geben soll: Du sollst keine Zinsen geben.
Da wird das verglichen, auch im Talmud, mit Vergünstigungen einem anderen geben, also der Fall Wulff ist da vielleicht passend. Man soll nicht bestechen, man soll sich nicht einschleimen, man soll nicht Zinsen geben. Das ist da auch eine Metapher. Wenn ich nun diese drei Beispiele mir genau ansehe, und auch, wie das im rabbinischen Judentum weiter gesehen wird, geht es nicht um ein absolutes Zinsverbot, es geht um ein relatives Zinsverbot, was die Zinsen einschränkt.
Kassel: Nun haben Sie mit Wulff angefangen. So, wie ich Sie aber verstehen, wäre, wenn wir dem Bundespräsidenten glauben, was er bisher gesagt hat, ja das, was da passiert ist, in Ordnung. Denn wenn es eben ein reicher Freund war, der ihm Geld geliehen hat, dann – da folge ich jetzt Ihnen – ist es doch in Ordnung und sogar verpflichtend, keine oder maximal niedrige Zinsen zu nehmen?
Klapheck: Also Wulff ist kein Mensch in Not, und eben das dritte Zinsverbot – nämlich man soll keine Zinsen geben, keine versteckten Zinsen auch, nicht? Die sind da mit einbegriffen –, dann haben die Freunde von Wulff ihm Zinsen gegeben. Also hier greift das Zinsverbot.
Kassel: Das bedeutet aber das, was Sie gerade gesagt haben – jetzt gehen wir wieder weg von Wulff, ganz allgemein –, einfach für die Arbeit von Banken? Es gibt ja nun große jüdische Geldhäuser, jüdische Banken – so wie Sie das beschrieben haben –, darf man dann überhaupt als Banker tätig sein?
Klapheck: Selbstverständlich darf man als Banker tätig sein, denn die Art und Weise, wie das Zinsverbot in der hebräischen Bibel formuliert ist, ist ja nur ein relatives Zinsverbot, gerade wenn man Projekte finanzieren will. Und die jüdischen Banker haben also viel getan, um die Moderne zu finanzieren: Die Opernhäuser – es gibt viele jüdische Mäzene, nicht, die sich beteiligt haben dort. Also der Beruf des Bankers ist von der jüdischen Tradition her möglich, denn um größere Sachen zu finanzieren, braucht man auch größere Summen von Geld, und Geld zu leihen ist immer damit verbunden, dass man eine zusätzliche Summe auf das Geld zahlen muss. Das sind die Zinsen.
Kassel: Was darf ich denn mit geliehenem Geld strenggenommen alles finanzieren? Sie haben ja schon davon gesprochen, wenn jemand in Not gerät, dann ist das gar keine Frage, dann muss ihm geholfen werden, dann darf er sich auch was leihen. Aber darf ich mir was leihen, weil ich einfach nur einen besonders luxuriösen Lebensstandard haben möchte, den ich mir eigentlich nicht leisten kann?
Klapheck: Also, Sie sagen das nicht leisten Können, das ist ja sozusagen der Mensch, der dann in Not gerät, weil er sich verschuldet, nicht, mit Krediten und Geldleihen, das ist verboten.
Kassel: Kann man das übertragen auf die EU sagen, da ist was Verbotenes passiert? Weil deshalb habe ich ja gefragt. Man hatte den Eindruck, da sind jetzt Länder überschuldet, weil sie sich Dinge geleistet haben, die sie sich nicht leisten können.
Klapheck: Ja, sie haben etwas Verbotenes gemacht. Sie haben sich Dinge geleistet, die sie sich nicht leisten konnten. Auf der anderen Seite sind wir eine Gemeinschaft. Also wenn ich jetzt die Prinzipien der jüdischen Gemeinschaft mal übertrage auf die europäische Gemeinschaft, ist es so, dass alle füreinander bürgen. Es gibt ja diesen berühmten Satz: Jeder Jude bürgt für den anderen. Auch wir bürgen für die anderen mit, wir sind eine Gemeinschaft. Und insofern müssen wir jetzt überlegen, wie wir Griechenland aus dem Schlamassel helfen können.
Kassel: Die EU-Verträge sagen natürlich was anderes, die sagen ja: Diese Art von Gemeinschaft sind wir eben gerade nicht.
Klapheck: Ja, Sie fragen mich aber nach einer religiösen Tradition, und ich sehe es so, dass Wirtschaft und Religion neu sich in ein Verhältnis zueinander stellen sollten. Und das Interessante ist, was die religiösen Traditionen für ein bestimmtes Wirtschaftsdenken zu bieten haben.
Kassel: Das finde ich auch, und dabei möchte ich in einem Punkt noch bleiben: Gibt es eigentlich Vorgaben von der religiösen Seite aus, was einen Schuldenerlass angeht? Denn das wird natürlich nicht nur in der EU, sondern auch in anderen weltlichen Zusammenhängen immer wieder mit Pros und Kontras diskutiert. Gibt es da Vorgaben?
Klapheck: Die Tora formuliert einen kleinen Schuldenerlass alle sieben Jahre, und den ganz großen Schuldenerlass alle 50 Jahre. Es hat sich aber herausgestellt, dass dieser Schuldenerlass zwar einer gerechten Idee entstammt, die aber Ungerechtigkeit erzeugte. Denn immer kurz vor dem sogenannten siebten Jahr, dem Schabbatjahr, wo die Schulden erlassen wurden, war es dann so, dass die Leute den anderen kein Geld mehr leihen wollten, weil man Angst hatte, dass die Schulden verfallen und der Schuldner einem das Geld nicht mehr zurückzahlt.
Also das hat zu etwas Ungerechtem geführt, es hat zu Stillstand in der Wirtschaft geführt, und damals war ja das Wichtigste, dass gerade die Bauern ihre Felder bewirtschafteten und es genügend zu Essen gab. Dies führte auch zu Hungersnöten, dieses Prinzip des Schuldenerlasses. Die Bauern mussten ihre Ernten vorfinanzieren, mussten sich dafür Geld leihen, und dafür musste es Geldgeber geben, die ihnen auch vertrauten, dass sie das Geld zurückzahlen würden, auch über das Erlassjahr hinaus. Und wegen dieses Problems wurde der Schuldenerlass eigentlich abgeschafft.
Kassel: Ich habe oft im Christentum bedingt, soweit meine Kenntnisse da reichen, auch im Islam das Gefühl, das sind Religionen, wo man immer so versuchen muss, wenn man über Wirtschaftskriterien redet, da die sozusagen reale Welt von der religiösen Welt zu trennen. Ich habe jetzt gerade bei dem, was sie erzählt haben, das Gefühl, das ist in der jüdischen Welt nicht so nötig. Jetzt mal etwas vielleicht zu plakativ formuliert: Mir scheint die jüdische Religion doch mit modernem Wirtschaftsdenken sehr leicht vereinbar zu sein. Täuscht dieser Eindruck?
Klapheck: Nein, der täuscht nicht, das haben Sie genau richtig gesehen, und ich habe den Eindruck, dass das Judentum über bestimmte säkulare Traditionen eigentlich in Europa wieder gegriffen hat, denn das Christentum hat eine Trennung verursacht im Denken: Wirtschaft, Gewinnstreben, all diese Dinge in der säkularen Welt, das wird alles eher negativ gesehen und demgegenüber gibt es die religiöse Welt, wo die Schuld überwunden werden muss, wo man für die Sünden büßen muss, damit man frei ist davon am Ende, aber das ist dann doch etwas sehr jenseitiges. Im Judentum kann beides zusammen gehen, Wirtschaft und Religion, beides kann sich aufeinander beziehen, und in bestimmten Traditionen, Wirtschaftstraditionen, wo es um Gerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit – sagen wir mal soziale Marktwirtschaft – geht, kommt sehr viel Jüdisches zum Tragen.
Kassel: Aber besteht da nicht auch die Möglichkeit der Missinterpretation bis hin zum Vorurteil, wie weit ist der Weg? Wir hören ja heute – das kann ich grundsätzlich verstehen – auch viele, die sagen: Wir wollen eigentlich keinen Kapitalismus mehr. Gerade angesichts dieser Krise, die ja nicht nur eine EU-Krise ist, sondern eigentlich eine weltweite, werden ja antikapitalistische Theoretiker wieder aktuell. Und manchmal habe ich den Eindruck, der Weg vom Antikapitalismus zum Antisemitismus ist gar nicht so weit.
Klapheck: Ja, und zwischen dem Antikapitalismus und dem Antisemitismus ist natürlich eine bestimmte utopische Illusion. Und ich rede lieber über die Illusion als über den Antisemitismus – das ist so ein negatives Thema. Ich würde lieber mit Leute, die an einen verblendeten Antikapitalismus glauben, lieber mit denen darüber reden, dass es illusionär ist, und dass sie vielleicht eine noch ungerechtere Gesellschaft bewirken, als es mit den Mitteln des Kapitalismus, aber eines regulierten Kapitalismus geschieht. Und ich glaube, heute sind wir an einem Punkt, wo man, wenn man über Wirtschaft und Judentum redet, nicht sofort befürchten muss, dass man jetzt antisemitische Vorurteile bedient, sondern in die Einzelheiten gehen kann.
Ich glaube, die Gesellschaft von heute ist bereit, sich das Judentum differenzierter anzusehen als sofort wieder in die alten Vorurteile einzuhaken. Das muss aber auch gegenüber dem Christentum passieren. Ein Vorurteil gegenüber dem Christentum ist, dass es eigentlich von Wirtschaft keine Ahnung hat, weil es ja immer sozusagen die reine Lehre will, die Schuld überwinden will, und auch da meine ich, dass man genauer sich das angucken muss: Was hat das Christentum, was hat das Judentum, was hat der Islam zu diesen Themen Wirtschaft und Ethik zu bieten? Und teilweise müssen die Religionen auch Neues formulieren, denn wir sind in einer neuen Situation, was die Kirchenväter oder die Rabbiner vor 2.000 Jahren gesagt haben, das ist natürlich heute nicht ausreichend.
Kassel: Das war fast schon, Frau Klapheck, die Ankündigung dessen, was wir morgen und übermorgen machen. Morgen werden wir nämlich genau diesen Fragen nachgehen im Zusammenhang mit dem katholischen Christentum und übermorgen dann im Zusammenhang mit dem Islam. Heute haben wir den Auftakt unserer kleinen Reihe gerade hier gehabt mit Elisa Klapheck. Sie ist Rabbinerin in Frankfurt am Main und sie ist auch Gründerin eines Vereins zur Förderung jüdischer Wirtschaftsethik. Frau Klapheck, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!
Klapheck: Bitte schön, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Elisa Klapheck: Ja, guten Tag!
Kassel: Bleiben wir doch mal bei dieser jüdischen Wirtschaftsethik ganz grundsätzlich: Lässt die denn das Schuldenmachen überhaupt zu oder ist das ein Tabu?
Klapheck: Es ist kein Tabu, weil es im Judentum nicht darum geht, grundsätzlich frei von Schuld zu werden. Die Schuld ist ja entstanden dadurch, dass wir ein Schuldgefühl haben. Und das Schuldgefühl ist, glaube ich, im Judentum nicht so negativ gesehen wie im Christentum. Das Schuldgefühl, das Schuldenmachen, ist etwas Positives, das bindet uns ja aneinander. Eine Gemeinschaft mit großen Zielen, also sozialer Gerechtigkeit, wäre gar nicht möglich, wenn wir nicht ein Schuldgefühl hätten füreinander. Der eine schuldet dem anderen was, zum Beispiel die Solidarität, und dann natürlich müssen wir irgendwie Geld versammeln, um größere – zum Beispiel soziale – Projekte zu finanzieren. Und dafür macht man Schulden.
Kassel: Das heißt im Umkehrschluss aber auch, das Ideal eines Lebens ohne Schulden und etwas übertragen auch ohne Schuld – dieses Ideal gibt es im Judentum gar nicht?
Klapheck: Es geht darum, schuldfähig zu werden, nicht schuldfrei, sondern schuldfähig, mit der Schuld umgehen zu können, konstruktiv, konkret, zu etwas Positivem.
Kassel: Wenn wir beim Thema Geld und Geldverleihen bleiben, dann ist es doch so, wenn ich Ihre erste Antwort richtig verstanden habe, dass man dazu regelrecht verpflichtet ist, um eben auch Menschen, Teilen der Gesellschaft, die Geld benötigen, zu helfen. Heißt das aber auch, man darf damit etwas verdienen, sprich, man darf Zinsen nehmen?
Klapheck: Tatsächlich steht in der Tora ein Zinsverbot. Wenn man das aber genau liest und auch sieht, wie im Talmud darüber weiter diskutiert worden ist, geht es nicht um ein absolutes Zinsverbot, sondern ein relatives Zinsverbot. Dreimal steht in der Tora – also in der hebräischen Bibel – im Alten Testament dieses Zinsverbot, und dreimal sieht man, es geht eigentlich um eine Einschränkung. Man soll dem Bruder, der in Not geraten ist, den soll man nicht zusätzlich bedrücken mit Zinsen, dem soll man ein zinsfreies Darlehen geben. Daran sieht man, es geht nicht grundsätzlich um ein Zinsverbot, sondern in dieser speziellen Notsituation.
Das andere Mal ist davon die Rede, man soll die anderen aus der Gemeinschaft nicht übervorteilen. Da wird ein Unterschied gemacht zwischen Zins und Wucher. Und tatsächlich, im Talmud wird ausgearbeitet, bis wohin ein Preis noch ein fairer Preis ist, und ab wann es umschlägt in Wucher, und vor einem Rabbinatsgericht eingeklagt werden kann. Und das dritte Mal ist davon die Rede, nicht, dass man Zinsen nehmen soll, sondern Zinsen geben soll: Du sollst keine Zinsen geben.
Da wird das verglichen, auch im Talmud, mit Vergünstigungen einem anderen geben, also der Fall Wulff ist da vielleicht passend. Man soll nicht bestechen, man soll sich nicht einschleimen, man soll nicht Zinsen geben. Das ist da auch eine Metapher. Wenn ich nun diese drei Beispiele mir genau ansehe, und auch, wie das im rabbinischen Judentum weiter gesehen wird, geht es nicht um ein absolutes Zinsverbot, es geht um ein relatives Zinsverbot, was die Zinsen einschränkt.
Kassel: Nun haben Sie mit Wulff angefangen. So, wie ich Sie aber verstehen, wäre, wenn wir dem Bundespräsidenten glauben, was er bisher gesagt hat, ja das, was da passiert ist, in Ordnung. Denn wenn es eben ein reicher Freund war, der ihm Geld geliehen hat, dann – da folge ich jetzt Ihnen – ist es doch in Ordnung und sogar verpflichtend, keine oder maximal niedrige Zinsen zu nehmen?
Klapheck: Also Wulff ist kein Mensch in Not, und eben das dritte Zinsverbot – nämlich man soll keine Zinsen geben, keine versteckten Zinsen auch, nicht? Die sind da mit einbegriffen –, dann haben die Freunde von Wulff ihm Zinsen gegeben. Also hier greift das Zinsverbot.
Kassel: Das bedeutet aber das, was Sie gerade gesagt haben – jetzt gehen wir wieder weg von Wulff, ganz allgemein –, einfach für die Arbeit von Banken? Es gibt ja nun große jüdische Geldhäuser, jüdische Banken – so wie Sie das beschrieben haben –, darf man dann überhaupt als Banker tätig sein?
Klapheck: Selbstverständlich darf man als Banker tätig sein, denn die Art und Weise, wie das Zinsverbot in der hebräischen Bibel formuliert ist, ist ja nur ein relatives Zinsverbot, gerade wenn man Projekte finanzieren will. Und die jüdischen Banker haben also viel getan, um die Moderne zu finanzieren: Die Opernhäuser – es gibt viele jüdische Mäzene, nicht, die sich beteiligt haben dort. Also der Beruf des Bankers ist von der jüdischen Tradition her möglich, denn um größere Sachen zu finanzieren, braucht man auch größere Summen von Geld, und Geld zu leihen ist immer damit verbunden, dass man eine zusätzliche Summe auf das Geld zahlen muss. Das sind die Zinsen.
Kassel: Was darf ich denn mit geliehenem Geld strenggenommen alles finanzieren? Sie haben ja schon davon gesprochen, wenn jemand in Not gerät, dann ist das gar keine Frage, dann muss ihm geholfen werden, dann darf er sich auch was leihen. Aber darf ich mir was leihen, weil ich einfach nur einen besonders luxuriösen Lebensstandard haben möchte, den ich mir eigentlich nicht leisten kann?
Klapheck: Also, Sie sagen das nicht leisten Können, das ist ja sozusagen der Mensch, der dann in Not gerät, weil er sich verschuldet, nicht, mit Krediten und Geldleihen, das ist verboten.
Kassel: Kann man das übertragen auf die EU sagen, da ist was Verbotenes passiert? Weil deshalb habe ich ja gefragt. Man hatte den Eindruck, da sind jetzt Länder überschuldet, weil sie sich Dinge geleistet haben, die sie sich nicht leisten können.
Klapheck: Ja, sie haben etwas Verbotenes gemacht. Sie haben sich Dinge geleistet, die sie sich nicht leisten konnten. Auf der anderen Seite sind wir eine Gemeinschaft. Also wenn ich jetzt die Prinzipien der jüdischen Gemeinschaft mal übertrage auf die europäische Gemeinschaft, ist es so, dass alle füreinander bürgen. Es gibt ja diesen berühmten Satz: Jeder Jude bürgt für den anderen. Auch wir bürgen für die anderen mit, wir sind eine Gemeinschaft. Und insofern müssen wir jetzt überlegen, wie wir Griechenland aus dem Schlamassel helfen können.
Kassel: Die EU-Verträge sagen natürlich was anderes, die sagen ja: Diese Art von Gemeinschaft sind wir eben gerade nicht.
Klapheck: Ja, Sie fragen mich aber nach einer religiösen Tradition, und ich sehe es so, dass Wirtschaft und Religion neu sich in ein Verhältnis zueinander stellen sollten. Und das Interessante ist, was die religiösen Traditionen für ein bestimmtes Wirtschaftsdenken zu bieten haben.
Kassel: Das finde ich auch, und dabei möchte ich in einem Punkt noch bleiben: Gibt es eigentlich Vorgaben von der religiösen Seite aus, was einen Schuldenerlass angeht? Denn das wird natürlich nicht nur in der EU, sondern auch in anderen weltlichen Zusammenhängen immer wieder mit Pros und Kontras diskutiert. Gibt es da Vorgaben?
Klapheck: Die Tora formuliert einen kleinen Schuldenerlass alle sieben Jahre, und den ganz großen Schuldenerlass alle 50 Jahre. Es hat sich aber herausgestellt, dass dieser Schuldenerlass zwar einer gerechten Idee entstammt, die aber Ungerechtigkeit erzeugte. Denn immer kurz vor dem sogenannten siebten Jahr, dem Schabbatjahr, wo die Schulden erlassen wurden, war es dann so, dass die Leute den anderen kein Geld mehr leihen wollten, weil man Angst hatte, dass die Schulden verfallen und der Schuldner einem das Geld nicht mehr zurückzahlt.
Also das hat zu etwas Ungerechtem geführt, es hat zu Stillstand in der Wirtschaft geführt, und damals war ja das Wichtigste, dass gerade die Bauern ihre Felder bewirtschafteten und es genügend zu Essen gab. Dies führte auch zu Hungersnöten, dieses Prinzip des Schuldenerlasses. Die Bauern mussten ihre Ernten vorfinanzieren, mussten sich dafür Geld leihen, und dafür musste es Geldgeber geben, die ihnen auch vertrauten, dass sie das Geld zurückzahlen würden, auch über das Erlassjahr hinaus. Und wegen dieses Problems wurde der Schuldenerlass eigentlich abgeschafft.
Kassel: Ich habe oft im Christentum bedingt, soweit meine Kenntnisse da reichen, auch im Islam das Gefühl, das sind Religionen, wo man immer so versuchen muss, wenn man über Wirtschaftskriterien redet, da die sozusagen reale Welt von der religiösen Welt zu trennen. Ich habe jetzt gerade bei dem, was sie erzählt haben, das Gefühl, das ist in der jüdischen Welt nicht so nötig. Jetzt mal etwas vielleicht zu plakativ formuliert: Mir scheint die jüdische Religion doch mit modernem Wirtschaftsdenken sehr leicht vereinbar zu sein. Täuscht dieser Eindruck?
Klapheck: Nein, der täuscht nicht, das haben Sie genau richtig gesehen, und ich habe den Eindruck, dass das Judentum über bestimmte säkulare Traditionen eigentlich in Europa wieder gegriffen hat, denn das Christentum hat eine Trennung verursacht im Denken: Wirtschaft, Gewinnstreben, all diese Dinge in der säkularen Welt, das wird alles eher negativ gesehen und demgegenüber gibt es die religiöse Welt, wo die Schuld überwunden werden muss, wo man für die Sünden büßen muss, damit man frei ist davon am Ende, aber das ist dann doch etwas sehr jenseitiges. Im Judentum kann beides zusammen gehen, Wirtschaft und Religion, beides kann sich aufeinander beziehen, und in bestimmten Traditionen, Wirtschaftstraditionen, wo es um Gerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit – sagen wir mal soziale Marktwirtschaft – geht, kommt sehr viel Jüdisches zum Tragen.
Kassel: Aber besteht da nicht auch die Möglichkeit der Missinterpretation bis hin zum Vorurteil, wie weit ist der Weg? Wir hören ja heute – das kann ich grundsätzlich verstehen – auch viele, die sagen: Wir wollen eigentlich keinen Kapitalismus mehr. Gerade angesichts dieser Krise, die ja nicht nur eine EU-Krise ist, sondern eigentlich eine weltweite, werden ja antikapitalistische Theoretiker wieder aktuell. Und manchmal habe ich den Eindruck, der Weg vom Antikapitalismus zum Antisemitismus ist gar nicht so weit.
Klapheck: Ja, und zwischen dem Antikapitalismus und dem Antisemitismus ist natürlich eine bestimmte utopische Illusion. Und ich rede lieber über die Illusion als über den Antisemitismus – das ist so ein negatives Thema. Ich würde lieber mit Leute, die an einen verblendeten Antikapitalismus glauben, lieber mit denen darüber reden, dass es illusionär ist, und dass sie vielleicht eine noch ungerechtere Gesellschaft bewirken, als es mit den Mitteln des Kapitalismus, aber eines regulierten Kapitalismus geschieht. Und ich glaube, heute sind wir an einem Punkt, wo man, wenn man über Wirtschaft und Judentum redet, nicht sofort befürchten muss, dass man jetzt antisemitische Vorurteile bedient, sondern in die Einzelheiten gehen kann.
Ich glaube, die Gesellschaft von heute ist bereit, sich das Judentum differenzierter anzusehen als sofort wieder in die alten Vorurteile einzuhaken. Das muss aber auch gegenüber dem Christentum passieren. Ein Vorurteil gegenüber dem Christentum ist, dass es eigentlich von Wirtschaft keine Ahnung hat, weil es ja immer sozusagen die reine Lehre will, die Schuld überwinden will, und auch da meine ich, dass man genauer sich das angucken muss: Was hat das Christentum, was hat das Judentum, was hat der Islam zu diesen Themen Wirtschaft und Ethik zu bieten? Und teilweise müssen die Religionen auch Neues formulieren, denn wir sind in einer neuen Situation, was die Kirchenväter oder die Rabbiner vor 2.000 Jahren gesagt haben, das ist natürlich heute nicht ausreichend.
Kassel: Das war fast schon, Frau Klapheck, die Ankündigung dessen, was wir morgen und übermorgen machen. Morgen werden wir nämlich genau diesen Fragen nachgehen im Zusammenhang mit dem katholischen Christentum und übermorgen dann im Zusammenhang mit dem Islam. Heute haben wir den Auftakt unserer kleinen Reihe gerade hier gehabt mit Elisa Klapheck. Sie ist Rabbinerin in Frankfurt am Main und sie ist auch Gründerin eines Vereins zur Förderung jüdischer Wirtschaftsethik. Frau Klapheck, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!
Klapheck: Bitte schön, gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.