Düsteres am Horizont

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 10.04.2006
Wir verstehen allmählich, warum die zwischen 1965 und 1975 Geborenen süchtig sind nach Generationsbüchern. Weil sie sich selbst in ihrer "unerbittlichen Ziellosigkeit" - so eine schöne Formulierung des Romans "Die Habenichtse" von Katharina Hacker - schrecklich undeutlich und konturenlos vorkommen. Eine interessante Diagnose, aber will man 300 Seiten von solchen wandelnden Fragezeichen lesen?
Denn sie wissen nicht, was sie wollen. Das ist schon das Eindeutigste, was sich über die unschlüssigen Figuren Katharina Hackers sagen lässt. Damit überhaupt so etwas wie Handlung in Gang kommt, muss die Zeitgeschichte anschieben helfen. Jakob, ein Berliner Jurist von bald vierzig Jahren, hat einen Kollegen bei den Anschlägen vom 11. September 2001 verloren, der für eine Stelle in London vorgesehen war. Nun macht sich Jakob zum Umzug bereit. Ihn begleitet Isabelle, die bisher in einem kleinen Berliner Grafikbüro arbeitete.

Eine Liebesgeschichte, romantisch angelegt. Denn romantisch ist das Wiedersehen von zwei Menschen, die sich einmal viel bedeuteten und sich dann aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn verloren haben. Und die ihr Wiedertreffen (auf einer Party am 11. September) als großen Glücksfall betrachten - Jakob hatte für die Party die Reise zu einem New Yorker Investor verlegt. Dass dieser unglückliche Mann im WTC residierte, versteht sich fast von selbst.

Umso mehr wundert sich der Leser, welch lauen Verlauf die Geschichte von Jakob und Isabelle im Folgenden nimmt. Zwar sind sie ein paar Monate später verheiratet. Aber was hält die beiden eigentlich zusammen? Eine Freundin fragt nach den Gründen für die Eheschließung. "Es ist so passend, antwortete Isabelle zögernd." Derart sind die meisten ihrer Antworten beschaffen. Der Leser möchte dem "unschlüssigen, verwirrten Mädchen" gelegentlich einen Schubs geben: Nun mach mal hin. Auch Jakob gelingt es, Karriere und Entscheidungsschwäche zu verbinden: "Er lag nackt unter der Decke, ohne sich zu bewegen, als könnte er so seinen Körper überreden preiszugeben, was er tun sollte." Er fragt sich, ob es richtig war, nach London zu gehen: "Es kommt mir so vor, als würde mir dort etwas entgleiten, ich weiß nur nicht, was."

Wir verstehen allmählich, warum die zwischen 1965 und 1975 geborene Generation süchtig ist nach Generationsbüchern. Weil sie sich selbst in ihrer "unerbittlichen Ziellosigkeit" - so eine schöne Formulierung des Romans - schrecklich undeutlich und konturenlos vorkommt. Sie haben fast alles und sind doch "Habenichtse": Zeitgenossen mit lauem Lebensgefühl, denen es an existentiellem, ethischem Gewicht fehlt und die sich höchstens in die Entscheidung gestellt sehen, wenn sie Schuhe kaufen. Darin mag eine interessante Diagnose über die Enddreißiger liegen (Hacker selbst ist Jahrgang 1967), aber will man 300 Seiten von solchen wandelnden Fragezeichen lesen? Der Roman kommt klug und kunstvoll daher, aber die Gefahr besteht, dass auch der Leser von jener Lähmung befallen wird, die den Charakteren zu schaffen macht.
Hackers größte Kunstfertigkeit liegt in der Aufladung der Beschreibungen mit einer schleichenden Beängstigung. Unaufhörlich, aber niemals aufdringlich winkt der Roman mit Unheilssignalen: Polizeisirenen, ein wirrer Prediger, ein verwahrloster Garten, ein zertretener Blumenstrauß, eine Frau mit einer hässlichen Narbe im Gesicht. Anders als das Berliner Jungakademikermilieu setzt London der empfindlichen Psyche zu. Der Irakkrieg schürt die Terrorangst, an jeder Ecke muss Isabelle über Obdachlose hinwegsteigen, auf Plakaten wird nach Zeugen von Verbrechen gesucht, allerorten Drogenhandel, ein Dealer in der unmittelbaren Nachbarschaft. Nach einem Theaterbesuch wird das Paar Opfer eines nächtlichen Überfalls in der Nähe des Bahnhofs King’s Cross. Und dann sind da diese unheimlichen Stimmen hinter der Wand zum Nebenhaus. Eine verwahrloste Familie lebt dort im lautstarken Dauerstreit. Hier gelingen Hacker atmosphärisch starke Großstadtszenen mit paranoidem Sog.

Jakobs Kanzlei hat sich auf die Restitution von Immobilien spezialisiert, die während der Nazizeit unrechtmäßig enteignet wurden. In London ist er bald mehr von seinem Chef als von seiner Frau fasziniert: Mr. Bentham, ein alter Herr von einsamer Eleganz, ein homosexueller Haltungsmensch und Überlebender des Holocaust. Isabelle wiederum findet sich in den hantelgestählten Armen von Dealer Jim wieder. Kriminalität wirkt viril - und manche Frauen werden gegen ihren eigenen genderkritischen Anspruch von gewaltbereiten Männern in den Bann gezogen. Ganz plausibel will einem diese unverhoffte Wendung trotzdem nicht erscheinen. Denn obwohl der Roman der Kontrastwelt des Dealers regelmäßige Kapitel widmet, bleibt Jim eine Chargenfigur.
Blieb Hackers Stil im Debütroman "Der Bademeister", der durch thematische wie formale Geschlossenheit überzeugte, noch knapp und spröde, so schreibt sie jetzt in langen Satzperioden - eine reizvolle Suada, die in multiperspektivischer Erzählweise den Bewusstseinsbewegungen der Figuren folgt und zugleich die Außenwelt genau spiegelt. Diese Technik wird streckenweise virtuos gehandhabt, geschult am Vorbild Virginia Woolfes, deren Roman "Jacob’s Room" Hacker an einer Stelle Reverenz erweist. Mit dem Judith-Hermann-Ton, der bei jungen Schriftstellerinnen zur Masche geworden ist, hat ihr elaborierter Prosastil nichts zu tun.

So viele Bedrohungssignale - aber wohin führen sie, wie sollen sich die Zeichen erfüllen? Am Ende liest man von einer mutwillig getöteten Katze und einem geschundenen kleinen Mädchen. Eine Moral zeichnet sich ab: Sie denken in globalen Betroffenheiten, aber sie versagen, wenn es um das misshandelte Kind nebenan geht. Kommendes Unheil scheint in diesem Buch einen dunklen Schatten auf die Gegenwart zu werfen. Auch dies kennzeichnet die Generation Hackers: Dass sie zwar wie kaum eine zuvor in Wohlstand und Frieden aufgewachsen ist, aber doch vor einem chronisch düsteren Horizont der Katastrophenszenarien. Dieses höchst ambivalente Lebensgefühl literarisch eingefangen zu haben, ist - ungeachtet mancher Schwerfälligkeit der Lektüre - eine Leistung von Katharina Hackers Roman.


Katharina Hacker: Die Habenichtse
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 307 Seiten