Mehr Mut zum Eigengeruch
Angst, Freude, Glück: Gefühle kann man riechen, meint die Duftforscherin Sissel Tolaas. Sie archiviert die Gerüche der Welt in Flakons und plädiert dafür, auch mal ohne Deo in die U-Bahn zu steigen.
Es ist einer dieser Hochsommertage, der einen schon früh morgens den Schweiß aus allen Poren treibt. Und damit die Sorge nährt, diesen Tag wohl wieder mal nicht geruchsneutral hinter sich zu bringen. Auch Sissel Tolaas, die mich in ihrem Berliner Atelier in einem weitem toga-artigem Kleid empfängt, macht die Hitze offensichtlich zu schaffen. Von Angst vor dem eigenen Körpergeruch allerdings keine Spur:
"Generell habe ich nie Parfums und Deos benutzt und ich habe das auch nie verstanden, warum man das machen soll. Der Geruch ist eine Art der unsichtbaren Kommunikation, die mir wichtig war: Sei, wer du bist. Und nicht nur wie du aussiehst, sondern auch, wie du riechst."
Gerüche - jederzeit synthetisch reproduzierbar
Wie die Künstlerin und Geruchsforscherin Sissel Tolaas riecht, kann ich in ihrem Atelier allerdings nicht ausmachen. Zu überwältigend ist der Mischmasch aus unterschiedlichsten Düften, der hier in der Luft liegt. In den vielen, ineinander verschachtelten Regalen hat Tolaas in Tausenden Flakons Gerüche dieser Welt archiviert. Sie hat sie gewissermaßen abgesaugt von Straßen, Stränden, Kriegsschauplätzen und auch von Menschen.
"Das ist hier ein mobiles Gerät. Mit diesem Gerät arbeite ich viel auf Reisen. Das kann man gut mitnehmen. Eine Glastube, die wird auf den Schlauch aufgesetzt, und die Moleküle, die von der Geruchsquelle freigesetzt werden, die werden in die Glashülle aufgesaugt und das wird nach Amerika geschickt, die machen die Analysen und zurück krieg ich diese Art von Scans."
Scans mit langen Zahlen und Buchstabenreihen, die die Moleküle aufschlüsseln, die Tolaas' eingesammelte Gerüche ausmachen. Einmal entschlüsselt, kann die Forscherin diese wieder und wieder synthetisch reproduzieren.
Zum Beispiel den Duft von Guy Number 26: "Sehr vornehm." – "Und Guy Number 5?" – "Ich meine, dass man Essen durchriecht in diesem Fall." – "Kann sein, muss nicht sein."
"Man kann alles riechen: Happiness, Excitement"
Auffällig ist, dass keine von Tolaas' Körpergeruchsproben wirklich unangenehm riecht. Kein Hauch von Achsel-, Fuß- oder Mundgeruch. Weil das mit Körpergeruch im eigentlichen Sinn auch nichts zu tun hat, erklärt Tolaas.
"Das ist eine Fermentierung von Bakterien. Mehr als Eigengeruch per se. Wenn ich Körpergeruch aufnehme, dann versuche ich das auf Teilen des Körpers, die am meisten neutral sind, hier am Bauch hinter den Knien, im Nacken."
Die Düfte aus der Guy Reihe stammen von Menschen, die unter Ängsten leiden. Die man – wenn man sie denn zu entschlüsseln versteht – auch riechen kann.
"Man kann alles riechen: Happiness, Excitement. Wir wissen nur nicht, wie man die Nase einsetzen muss und soll. Wir laufen nicht rum in der Stadt und riechen, sondern wir gucken und hören vielleicht auch mal was. Wir können nicht nur immer nur anschauen und das beurteilen. Wir müssen das auch emotional verarbeiten, und Geruch ist da essenziell, um ein Gefühl zu triggern."
Das beweist die Geschichte des chinesischen Bankvorstandes, der sich von Tolaas die Wände seines Chefzimmers mit seinem Körpergeruch hat bestäuben lassen. Seine Mitarbeiter wurden zum Schnuppern eingeladen. Ob sie dabei auch einen Hauch Megalomanie wahrgenommen haben, ist nicht übermittelt. Aber "die Leute konnten sich auf der Wand äußern, was sie denken. Das war unglaublich. Das wurde ein emotionaler Raum. Er hat sich geändert. Er war immer sehr rational und pragmatisch. Und als er gesehen hat wie die Umwelt reagiert, hat das wiederum Einfluss auf seine Wahrnehmung gehabt."
"Wenn sie sich erinnern möchte, riecht sie daran"
Dass Gerüche Erinnerungen transportieren, ist auch der Grund, warum Tolaas' ihrer Tochter seit Geburt jährlich eine Körpergeruchsprobe entnimmt für ihr persönliches Geruchsarchiv.
Für eine andere junge Frau hat sie letztens den Duft ihres verstorbenen Bruders synthetisiert. Tolaas hat ihn abgesaugt aus den Kleidungsstücken, die dieser nach seinem Tod an einer Überdosis Heroin hinterlassen hatte.
"Ich konnte das ganze Heroin riechen, viel Schweiß. Er hat auch unter unglaublich schlechten Bedingungen gelebt. Das Mädchen: Sie reist damit. Und wenn sie sich erinnern möchte, riecht sie daran und sagt: Es ist unglaublich."
Wir sind am Ende des Interviews angelangt. Ich bin durchgeschwitzt. Und ich rieche. Aber wie? Ein bisschen nach Bodylotion, säuerlich vielleicht auch. Nach Hafer, Meer, Zwiebeln? Geht auf jeden Fall in Richtung wild.