War der Giftgasangriff inszeniert?
Im April dieses Jahres fand mutmaßlich ein Giftgasangriff auf die syrische Stadt Duma statt. Das Assad-Regime und Russland leugnen bis heute das Verbrechen. Unser Reporter sucht in Duma nach Zeugen - doch zu Gesicht bekam er nur ausgewählte.
"Seit dem Beginn des Krieges vor acht Jahren gibt es diese verrückte Desinformationskampagne. Falschinformationen, die gegen die Souveränität und die Führung Syriens gerichtet sind. In Wirklichkeit verhält es sich so: Die syrische Regierung hat stets ihr Staatsgebiet verteidigt, sie hat die Syrer und ihre Menschenwürde verteidigt. Und das tut sie noch immer."
So reagiert Ayman Sousan, der stellvertretende syrische Außenminister auf die Frage, ob die syrische Armee jemals Giftgas gegen Zivilisten eingesetzt hat. Aber nachdem er alle derartigen Berichte als Lügen zurückgewiesen hat, macht er eine Einschränkung, die in der Diplomatensprache doch wieder einiges offen lässt:
"Natürlich sind Kriege immer schlecht. In allen Kriegen passieren Fehler. Aber wenn Ihrem Land ein Krieg aufgezwungen wird, dann können Sie als Regierung doch nur eines tun: Ihr Land verteidigen, es verteidigen bis zum Letzten und die Bürger dadurch zu schützen."
Einer der Orte, in denen die syrische Armee nach Angaben von Aufständischen zuletzt tödliche Mengen an Giftgas eingesetzt haben soll, ist Duma, etwa eine Stunde Fahrtzeit von Damaskus.
Eskortiert vom Geheimdienst
Wie sieht es dort aus? Nachdem ich mehrmals bei der syrischen Armee vorstellig geworden bin, darf ich schließlich hinfahren. Eskortiert von einem Leutnant des Armeegeheimdienstes und einem Begleiter vom Presseamt in Damaskus. Am ersten Checkpoint hinter Damaskus dauert es nicht lange, bis das wartende Auto von einer Menschentraube umgeben ist. Hauptsächlich ältere Männer und Frauen in schwarzen körperlangen Gewändern. Die meisten tragen schwere Taschen oder Rucksäcke. In ihrer Begleitung: viele Kinder, viele Jugendliche. Sie wollen alle durch diesen Checkpoint.
"Ich will wieder nach Duma", sagt eine etwa Vierzigjährige. Vor vier Jahren sei sie der Kämpfe wegen aus der Stadt geflohen. Eine andere Frau im gleichen Alter versucht heute ebenfalls, zum ersten Mal in die Stadt zu kommen, nach über sechs Jahren. Sie will zu ihrer Tochter.
"Die ist die ganze Zeit über in Duma geblieben", sagt sie. Alle fünfzehn bis zwanzig Tage habe man sie telefonisch erreichen können, um zu erfahren, wie es ihr geht. Sie selber hat in der Stadt auch noch ein eigenes Haus und möchte wissen, wie es darum steht. Heute lebt sie in Damaskus, zurückziehen will nicht.
Die Stadt liegt in Trümmern
"Da sind Hunderte, Tausende von Zivilisten. Sie alle warten, sie alle wollen herausfinden, ob ihre Häuser noch stehen oder ob sie in Schutt und Asche liegen."
Das sagt Nihad vom syrischen Presseamt, ein schnauzbärtiger, stets korrekt gekleideter Endfünfziger. Nihad soll dafür sorgen, dass alle Beobachtungen und Eindrücke so interpretiert werden, wie es der offiziellen Sichtweise entspricht. Und die lautet etwa so:
"Ganz Duma stand unter Kontrolle der Aufständischen und die ganze Gegend links und rechts. Es gab hier schwere Kämpfe zwischen dem Staat und den bewaffneten Gruppen. Die Aufständischen benutzten die Gebäude als Verstecke, um ihre Stellungen einzurichten. Sie hatten die höchsten Stockwerke mit Scharfschützen besetzt, von den unteren aus schossen sie mit Panzerfäusten. Deshalb blieb der Regierung keine andere Wahl, als gegen sie vorzugehen. So kam es zu diesen schweren Zerstörungen, die Sie hier sehen."
Häuserblock um Häuserblock ist dem Erdboden gleichgemacht. Eine Trümmerlandschaft. Was syrische und russischen Kampfflugzeuge hier hinterlassen haben, wirkt nicht so, als hätten sie vorrangig militärische Ziele im Visier gehabt.
Welche Ziele verfolgt Assad?
"Diese Bombenangriffe haben überhaupt nichts gebracht. Die Aufständischen hielten sich in den Kellern oder in den unteren Stockwerken auf. Auch wenn Sie sämtliche Gebäude dem Erdboden gleichmachen, heißt das nicht, dass Sie die Aufständischen auch treffen."
Die Version der Opposition geht so: Mit dem Flächenbombardement wollte das Assad-Regime nicht nur den militärischen Widerstand vernichten, sondern perspektivisch die Bevölkerung austauschen. Anstelle seiner Feinde will Assad in Duma und anderswo lieber regimefreundliche Bevölkerungsgruppen ansiedeln. Fest steht: Nach einem Waffenstillstand mit der Regierung zogen die Dschihadisten mit einem Teil der Zivilisten Anfang April 2018 aus Duma ab. Andere sind in Duma geblieben.
Sie wohnen heute teilweise immer noch in ausgebauten Kellern. Einige sind schon dabei, kleine Geschäfte notdürftig wieder instand zu setzen. Auch in den Ruinen rund um die ausgebrannte Hauptmoschee regt sich wieder Leben. Auf einem kleinen Markt bieten Händler Obst und Gemüse an.
Der 18-jährige Abdurrahman Harun steht in einer Warteschlange. Wie haben er und seine Familie die Kämpfe überlebt? Indem sie so wenig wie möglich aus dem Haus gegangen sind, sagt er. In einer Schule sei er deshalb seit Jahren nicht gewesen.
"Erstens, weil wir wegen der Kämpfe Angst hatten, vor die Tür zu gehen. Außerdem hatten die Aufständischen überall Straßenbomben gelegt. Dadurch wollten sie uns die Bewegungsfreiheit nehmen. Sogar vor den Schulen gab es Sprengsätze. Für sie sollten wir als Geiseln dienen. Sie waren nicht daran interessiert, dass wir uns auf den Straßen bewegten und irgendetwas von dem mitbekamen, was sie taten. Manchmal brachten sie ja Leute um, die für den syrischen Staat wichtig waren oder schlugen ihnen Gliedmaßen ab. Das sollte niemand sehen.
Sie errichteten Checkpoints und benutzten sie, um an die Arbeiter zu kommen, die für sie Tunnel graben sollten. Mein Bruder ist auf diese Art verschwunden und bis heute noch nicht wieder aufgetaucht. Ein anderer meiner Verwandten wurde von ihnen gekidnapped. Er konnte fliehen und erzählte uns, was ihm passiert war."
Waren überhaupt Syrer unter den Aufständischen?
Die große Mehrheit der Aufständischen in Duma gehörte zur sogenannten Armee des Islam. Finanziert wird die Gruppe, laut Recherchen der britischen Zeitung The Guardian und der US-Zeitschrift Foreign Policy, von Saudi Arabien. Sind es also hauptsächlich Ausländer oder sind auch Syrer dabei?
"Sie stammten aus allen möglichen Ländern der Welt. Ich kann Ihnen die Nationalitäten nicht sagen, aber ich weiß, dass Ausländer unter ihnen waren. Die Mehrheit von ihnen lief immer maskiert herum. Einige von ihnen kamen aus Gegenden, die nicht weit von hier sind, andere aus Misraba oder Harasta, das konnte ich am Akzent hören. Bei anderen habe ich die Sprachen nicht erkannt. Diejenigen an den Kontrollpunkten waren meistens Araber, ich konnte sie arabisch sprechen hören. Aber man durfte niemals das Wort an sie richten, das war verboten.
Insgesamt hat die Zivilbevölkerung die Aufständischen total abgelehnt wegen ihres Verhaltens. Als die Lage kritisch wurde, haben sie nicht gezögert, abzuziehen. Sie versuchten gar nicht erst , in der Bevölkerung unterzutauchen. Es dürfte ihnen klar gewesen sein, dass die Menschen sie sofort bei den syrischen Behörden anzeigen würden. Alle Zivilisten hassen sie."
Wer zurückgeblieben ist, ist verdächtig
Nihad, der Begleiter vom syrischen Informationsministerium, glaubt die Erzählungen des 18-Jährigen Abdurrahman auf dem Markt einordnen zu müssen. Grundsätzlich sagt er, sollte man allen misstrauen, die noch hiergeblieben sind. All denen also, die nicht im April zusammen mit der "Armee des Islam" in Richtung Norden abgezogen sind.
"Die meisten Zivilisten, die Sie hier sehen, haben inzwischen mit der Regierung Abkommen über ihren Status als Bürger geschlossen. Deshalb dürfen sie jetzt hier bleiben. Aber keiner weiß, ob sie nicht mit den Fraktionen der Aufständischen zusammengearbeitet haben. Es kommt auf die Geschichten an, die sie erzählen. Sie behaupten: Wir wurden als Geiseln gehalten. Die Frage ist nur, ob ihre Geschichten stimmen."
Abstieg ins Tunnelsystem
Neben der Piste taucht jetzt eine Anhöhe auf. Die Fassade eines langgezogenen Gebäudes kommt näher, das Innere ist ausgebrannt. In den Hügel ist ein Eingang wie in eine Höhle hineingebohrt. Darüber hängen eine syrische und eine russische Flagge.
"Hier steht: Landkreis Damaskus, Krankenhaus. Das ist der Eingang zu dem Komplex, der den Aufständischen als Krankenhaus und zugleich Kommandozentrale diente."
Der Leutnant vom Armeegeheimdienst in Damaskus geht voran in den höhlenartigen Eingang, auf eine asphaltierte Fläche. Von hier aus zweigen leicht abschüssige Tunnel in mehrere Richtungen ab.
"Die syrische Armee hat die Stadtviertel von Duma stark beschossen und bombardiert. Deshalb brauchten die Aufständischen solche unterirdischen Verbindungen. Die Zivilisten, die sie als Geiseln hielten, mussten diese Tunnel bauen. Man kann hier Tausende von Metern weiter laufen, so lang sind diese Tunnel."
Wir sind unter der Erde in Duma, in einem riesigen verzweigten Tunnelsystem. Die Tunnel sind sehr professionell gebaut, von Zeit zu Zeit erleuchtet durch kleine Lampen und abgestützt durch Metallteile. Die Seiten sind durch Metallteile stabilisiert.
"Sie haben viele Zivilisten als Geiseln gehalten. Einige von ihnen waren Ingenieure, andere auf Tiefbau spezialisiert oder auf den Umgang mit Metall, wie wir es hier in den Stützverstrebungen sehen. Die einzelnen Tunnel sind etwa zwischen einem bis fünf Kilometer lang. Es kommt auf die Lage der einzelnen Kommandozentren an, die sich an ihrem Ende finden."
Keine Opfer - Ist der Giftgasangriff inszeniert?
"Solche Anlagen kann man nicht durch Bombardements zerstören. Die Aufständischen hielten hier auch viele Zivilisten gefangen, die ihnen die Tunnel bauten. Es hat die syrische Armee viel Geduld gekostet, ganze Jahre, um diese Orte hier zu befreien. Sie brauchten Jahre, um das alles zu bauen. Es ist eine professionell gebaute, gut durchgeplante Anlage. Es ging darum, sie mit allem nötigen Nachschub zu versorgen: Waffen, Material, Nahrung. Aber wir reden hier nicht nur über Logistik. Das entsprechende Know How, bis hin zu Fachleuten und Militärexperten, kam von den arabischen Golfstaaten und den Großmächten, die die Terrororganisationen unterstützen."
Am Ende eines Tunnels öffnet sich die Tür zu einem Krankenhaus. Es ist die Notaufnahme.
Auf Pritschen, die sich die Wände entlang reihen, werden gerade Patienten versorgt. Der Leutnant macht eine Rundumbewegung mit der Hand. Dies sei der Saal, in dem die Aufständischen im April 2018 ihren Film gefälscht hätten, das Video über den angeblichen Giftgaseinsatz der syrischen Armee. Malik al Nadschar, der Arzt, der hier behandelt, war auch an diesem 7. April 2018 im Krankenhaus. Dem Tag, dessen Ereignisse die internationale OPCW aufzuklären versucht, die Organisation zur Kontrolle von Chemiewaffen. War Dr. Nadschar an diesem Tag, dem 7. April 2018 anwesend und hat er behandelt?
"Nichts als Täuschung"
Ja, er habe an diesem Tag behandelt, sagt der Arzt. Den 7. April 2018 hat er so erlebt:
"An diesem Tag gab es dieselben schweren Kämpfe wie an den Tagen zuvor. Es kam dadurch zu einer starken Staubentwicklung. Das war besonders schlimm für Menschen mit Atemproblemen, besonders für die Kinder. Viele sind an dem Tag hierher gekommen, um sich deshalb behandeln zu lassen. Das haben die Terroristen ausgenutzt. Sie tauchten plötzlich auf und schrien: 'Chemieangriff! Chemieangriff!'
Die Sprays, mit denen die Terroristen auf dem Video agierten, waren nichts als Täuschung. Das waren ganz normale Sprays gegen Atembeschwerden. Sogar meine eigene Mutter hat so was zu Hause. Und bei uns im Krankenhaus gibt es viele davon. Wir setzen sie bei Asthma ein. Sie sind nicht geeignet für die Behandlung chemischer Vergiftungen, wie später von den Aufständischen behauptet wurden."
Und als Arzt versichert er, dass er am 7. April niemanden wegen chemischer Angriffe behandelt hat: "Ich hatte an diesem Tag Dienst und alles lief normal. Es gab zu keinem Zeitpunkt irgendeine Behandlung aufgrund von chemischen Vergiftungen."
Gab es also gar keinen Giftgaseinsatz? War alles inszeniert?
Die Experten der OPCW, der internationalen Organisation zur Kontrolle von Chemiewaffen konnten erst nach langen Verhandlungen und mit wochenlanger Verspätung nach Duma fahren. Die dort gesammelten Proben wertet die OPCW zur Zeit noch aus.
Muriel Asseburg, Syrienexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, wartet gespannt auf den Abschlussbericht zum Giftgasangriff auf Duma, der von der Internationalen Kommission zur Kontrolle der Chemiewaffen untersucht wird. Aber bereits aus dem Zwischenbericht geht ihrer Meinung nach Wesentliches hervor.
"Der bisherige Erkenntnisstand macht klar, ja, es wurden Chemiewaffen eingesetzt. Und auch das ist wichtig: Es gibt keine Hinweise auf eine Chemiewaffenproduktionsstätte der Rebellen. Aber die Aufklärung ist sehr, sehr schwierig", erklärt sie im flankierenden Gespräch, das Sie hier im folgenden hören können:
Duma war einmal eine Rebellenhochburg, inzwischen haben die Assad-Truppen die Stadt zurückerobert. Die Gruppe "Armee des Islams" soll unter anderem von Saudi Arabien unterstützt worden sein. Die Rolle des Golfstaates hat sich aber inzwischen gewandelt, meint die Expertin.
"Wenn es von Saudi Arabien aus Unterstützung für die Rebellen gab, dann waren das Privatpersonen. Aber die Saudis haben in den letzten Jahren sehr viel Wert darauf gelegt, dass dies auch nicht mehr über Privatpersonen geschieht."
Schnelle Enteignungen nach neuer Gesetzeslage
Alles deutet darauf hin, dass das Assad-Regime einen Bevölkerungsaustausch vornimmt. Durch Kämpfe, Flucht und Vertreibung sowie durch Abkommen konnte Assad jetzt schon regimetreue Bevölkerungsgruppen strategisch geschickt ansiedeln. Gesetze, die für den Wiederaufbau verabschiedet wurden, lassen schnelle Enteignungen zu.
Keine guten Aussichten für Syrer, die nicht im Land sind.
"Flüchtlinge werden sehr schlechte Chancen haben, ihre Ansprüche auf Eigentum , Besitz und Entschädigung geltend zu machen. Das wird auch dazu beitragen, dass ein Großteil der Flüchtlinge in Deutschland nicht zurück nach Syrien gehen wird."