Daten, Prozente und Dunkelziffern

Warum wir zu wenig über falsche Zahlen wissen

29:23 Minuten
Illustration: Farbige Zahlen von Null bis Neun.
"Wir können mithilfe unserer selbstgeschaffenen Zahlen die Welt der Sinne sortieren, zählen, strukturieren – natürlich auch umgestalten, sagt der Mathematiker Gregor Nickel. © Getty Images / iStock / SpringNymph
Von Florian Felix Weyh |
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Ob Corona-Inzidenz, Konjunkturdaten oder CO2-Werte – Zahlen haben eine enorme Macht. Sie sollen die Welt messbar und damit auch kalkulierbar machen. Aber wie verlässlich sind diese Daten überhaupt?
Es gibt Menschen, die schauen eine Buchstabenwolke an und lesen ein Gedicht heraus. Es gibt Menschen, die blicken auf ein Notenblatt und hören die darauf notierte Musik. Und es gibt Menschen, die sehen Zahlen und erkennen sofort deren inneren Zusammenhang.
"Wir können mithilfe unserer selbstgeschaffenen Zahlen die Welt der Sinne sortieren, zählen, strukturieren – natürlich auch umgestalten", sagt Mathematiker Gregor Nickel.
"So ein Datensatz ist ja einfach nur eine riesige Matrix an Zahlen! Fall 1 hat 2000 Zahlen, das ist jede Sache, die die Person gefragt wurde, und Geschlecht ist als 0 oder 1 codiert, und das ist ja eigentlich die Verarbeitung der Welt in Zahlen, in Daten“, erklärt Martin Schröder.
"Das Mathematische ist schwer zu detektieren! Man muss es sich überhaupt erst mal klarmachen, wie wirksam es ist. Und es kann sich viel leichter und schneller eben wieder zurückziehen auf den Standpunkt: ´Das ist ja erst mal gültig, dafür kann ich ja nichts!` Wenn ich sieben und fünf Bomben abzähle, dann sind das eben zwölf, da ist doch der Mathematiker nicht schuld! Und dass eben gesellschaftliche Verhältnisse direkt durch mathematische Strukturen gestaltet werden, die zugleich normativ und deskriptiv wirken – das muss man überhaupt erst mal sehen“, sagt Gregor Nickel.
Ich sehe hin – ich sehe nichts. Mathematik macht mir Muskelkater im Gehirn. Auch die Sprache des Experten stellt Ansprüche.
Normativ – Regeln setzend. Deskriptiv – beschreibend.
Mathematik beschreibt also… Wen, die Welt? … und setzt dabei Regeln. Wem, der Gesellschaft? 
"Es gibt schon auch Versuche – sagen wir mal im Rahmen einer Kulturphilosophie – zu sagen: Ja, Mathematik ist so entscheidend für Kultur, prägt so stark das Wesen von Gesellschaften, dass wir die mit betrachten müssen, zumindest. Und versuchen müssen zu verstehen“, sagt Gregor Nickel. Mathematikprofessor an der Universität Siegen. Zuvor Diplom in Chemie und Parallelstudium der Theologie. Mitbegründer der „Siegener Beiträge zur Geschichte und Philosophie der Mathematik“.
"Und dann ist genau die Frage: Was ist jetzt Zahl? Wir können das in der modernen Mathematik operationalisieren durch eine Axiomatik."
Heißt: Wir können einfach etwas festlegen – wie es uns gefällt.
"Dann ist das ein Spiel nach bestimmten Regeln. Und die Regeln lauten: Es gibt einen Startpunkt, eine Startzahl, wie auch immer ich sie nenne, und einen immer wiederholbaren Schritt von der einen zur nächsten. Und mit diesen Schritten komme ich sozusagen durch die gesamte Zahlenreihe durch. Jede Zahl ist dann nur bestimmt dadurch, dass sie Nachfolger ihres Vorgängers ist. Und das ist alles!"
Wenn das alles ist, wäre die Sendung hier zu Ende.
"Das beantwortet die Frage nach dem Wesen der Zahl natürlich überhaupt nicht. Das sagt, wie man damit umgehen kann – und das kann man natürlich auch in der mathematischen Zahlentheorie ungeheuer erfolgreich. Was das Wesen der Zahl ausmacht, ist natürlich ganz was anderes", so Gregor Nickel.

Konjunkturdaten, Arbeitslosenquote, CO2-Werte

"Meine Arbeit ist ja eigentlich immer nur eine Repräsentation der Welt mit Statistik", sagt Martin Schröder. Soziologieprofessor an der Universität Marburg. Autor des Sachbuchs: „Wann sind wir wirklich zufrieden?“.
"Und die Frage ist ja immer, ob diese Statistik die Welt überhaupt richtig erfasst! Wenn man jetzt alles andere als ´Dunkelziffer` versteht, dann ist die Dunkelziffer, wenn man so will, ein ewiges Problem."
Es gibt Zahlen, die sind da. Die dröhnen allabendlich aus den Fernsehnachrichten: Inzidenzen, Konjunkturdaten, Arbeitslosenquote, CO2-Werte. Alle verdichten sie in sich Wirklichkeit. Zustande gekommen nach Regeln, die oft schwer verständlich sind, aber immer ihren Ursprung in Messungen, Zählungen, Tiefenlotungen der realen Welt haben. 

„Der Zahlencode ist unverhältnismäßig besser geeignet als der Buchstabencode, um die Welt zu erkennen. Die Welt ist unbeschreiblich, aber sie ist perfekt zählbar.“

Vilém Flusser, Philosoph

Reden wir über Zahlen, die da sind. Zugleich wissen wir jedoch: Sie sind nicht alles. Zum Beispiel gibt es eine Dunkelziffer.
"Die offizielle Definition kenne ich auch gar nicht. Aber für mich wäre eine Dunkelziffer einfach das, was statistisch nicht erfasst wird. Also ganz klassisch: Verbrechen werden angezeigt, dann werden sie aktenkundig, aber jedes Verbrechen, das nicht angezeigt wird, wird auch nicht erfasst, und damit ist das dann ´die Dunkelziffer`, sagt Martin Schröder.

Aber gibt es nicht auch die Dunkelziffer anderer Art? Hat nicht jede Zahl eine Seite, die im Schatten liegt? Ist also nicht jede Ziffer zugleich auch eine Dunkelziffer?
"Ja“, sagtGregor Nickel.
Textaufgabe 1, Grundkursniveau: Berechne die Schnittmenge von Zahl und Wirklichkeit.
Und Nickel weiter: „Da ist natürlich jetzt die Frage, wie fasse ich Zahl auf? Also geht’s mir drum, Zahl im Zusammenhang von rationaler Erfassung von der uns umgebenden, sinnlich erfassbaren Welt aufzufassen? Dann habe ich natürlich sofort so ein Wechselspiel von Anwendbarkeit oder nicht, Genauigkeit oder nicht? Genauigkeit zutreffend oder weniger zutreffend?“, sagt Gregor Nickel.

„In der Mathematik ist folgende Rechnung kein Problem: 2-3+1=0. Auf die Realität umgesetzt könnte man daraus folgende Story machen: Wenn aus einem Zimmer, in dem sich zwei Personen befinden, drei herauskommen, muss wieder einer hineingehen, damit niemand drinnen ist.“

Gerhard Schwarz, Philosoph

"Die Möglichkeit, in einem ganz klar geregelten, absolut fairen Spiel sich kreativ entfalten zu dürfen – ohne dass irgendwas passiert, keine Konsequenzen, nur dass eventuell eine falsche Rechnung ist, dann muss man sie halt korrigieren –, diesen Möglichkeitsraum spielerisch zu erkunden, ist wunderbar! Macht einen Großteil des wissenschaftlichen Eros in der Mathematik aus. Und leider geht manchmal dann auch das Ethos ein bisschen verloren. Das heißt, die Wahrnehmung, dass diese spielerische Welt nicht rein bleibt, sondern extrem wirksam ist“, sagt Gregor Nickel.
Weil – zum Beispiel – falsche Zahlen Brücken einstürzen lassen? Weil Zahlen falsch werden, wenn man sie über Gebühr belastet.
"Um Zahl anzuwenden, muss ich davon absehen, dass alles, was ich sinnlich erfasse, immer mit einer Ungenauigkeit belegt ist! Da haben wir jetzt dann diese Chiffre ´Dunkelziffer` vielleicht wieder ein bisschen! Brücken halten, ja, aber auch nicht ideal! Wir haben da auch die Spannung zwischen Ewigkeitscharakter der Zahlgesetze, die wir hervorbringen, und Wandelbarkeit der sinnlichen Welt. Da bleibt nichts irgendwie ewig“, erklärt Gregor Nickel.

Was die Welt im Inneren zusammenhält

Die Welt ist ungenau und verfallsbedroht. Aber wir gehen damit um, ohne jeden Morgen davon überrascht zu sein, was alles klappt: dass Teewasser kocht, unser Radio auf Knopfdruck angeht, die U-Bahn fährt. So ungewiss kann die Welt also gar nicht sein! Im Grunde funktioniert sie wie ein Algorithmus: Wenn ich etwas 100 Mal mache, wird es auch beim 101. Mal noch eintreten – weil die Welt im Inneren aus Zahlen zusammengefügt ist und damit einer unbestechlichen mathematischen Logik folgt. Oder, Professor Nickel?
"Das wäre jetzt sozusagen die pythagoräische Sicht noch mal ganz stark gemacht: Die Welt ist schon gezählt, und wir zählen nur nach. Radikaler wäre sozusagen schon das Cusanische: Die Welt hat nicht eine verborgene Zahl, sondern die Zahl ist unsere."

„Überhaupt ist die Zahl nichts Anderes als ausgefalteter Verstand.“

Nikolaus von Kues, genannt Cusanus. Mittelalterlicher Universaldenker

Von der griechischen Antike des Pythagoras bis ins 15. Jahrhundert hinein, dem Zeitalter des Cusanus, galten Zahlen als real gegebene Dinge. Neun Eier kann man abzählen, weil die neun an sich existiert; andernfalls ginge auch das Zählen nicht.
"Da gibt es dann mit der Wende zur Moderne ein Schwenk hinein in eine Sicht, die dem Menschen selbst das kreative Potenzial zuspricht, so was wie Zahl zu entfalten! Also der menschliche Geist ist in der Lage, Einheit und Vielheit so zusammenzubringen, dass daraus Zahl entsteht“, sagt Gregor Nickel.

„Wenn der Verstand die Zahl ausfaltet, (…) so ist das nichts anderes, als wenn der Verstand (...) alles nach dem nächsten natürlichen Abbild seiner selbst bildet. (…) Durch das Zählen faltest Du die Einheit aus und die Mehrheit in der Einheit irgendeiner Zahl ein.“ 

Nikolaus von Kues

Was für eine Kathederphilosophie! Sind Zahlen nun versteckte Konstruktionsbausteine der Natur – oder sind sie geistige Produkte des Menschen?
Hören wir dazu den 2019 verstorbenen Mathematiker Claus Peter Ortlieb, bekannt geworden durch Kritik am „Mathematikwahn“ der Wissenschaften.
„Wenn ich die Welt durch eine rosa Brille betrachte, so erscheint mir die Welt als rosa. Aber das ist offenbar keine Eigenschaft der Welt, sondern eine der Brille. Man könnte hinzufügen, dass die Welt rosa Komponenten haben muss, damit man durch die rosa Brille überhaupt etwas sehen kann. Aber niemand würde behaupten, dass die Welt lediglich aus diesen Komponenten besteht, nur weil alle anderen von der Brille ausgeblendet werden. Für die mathematische Brille, durch die die neuzeitliche Wissenschaft die Welt betrachtet, gilt das entsprechend.“
Das leuchtet ein.
Gegenposition mittels einer Evolutionsanalogie, vorgebracht vom Mathematiker Peter Ullrich: Pflanzen werden nur bestäubt, wenn Insekten sie farblich wahrnehmen können. Also passen manche Pflanzen …
„… ihre Morphologie den Vorlieben ihrer Bestäuber an. (…) Vielleicht färbt sich gerade ein Teil der Wirklichkeit rosa ein, um mit mathematischen Methoden (besser) erkennbar zu werden.“
Das leuchtet nicht ein.
Ist auch bloß ein Versuch der Selbstironie: Für Mathematiker braucht die Welt nicht auf die Zahlen zuzuwachsen. Sie ist längst in ihnen enthalten. 
Womit wir beim Ergebnis von Textaufgabe 1 angekommen wären. Zur Erinnerung: Wie lautet die Schnittmenge von Zahl und Wirklichkeit? Lösung: Die Übereinstimmung von Zahl und Wirklichkeit liegt zwischen 0 und unendlich … mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit für den oberen Wert.
Textaufgabe 2, gehobenes Niveau.
"Ein vielleicht halbwegs bekanntes Ergebnis meiner Arbeit war zum Beispiel, dass Väter umso zufriedener sind, umso länger sie arbeiten, Mütter aber nicht“, sagt Martin Schröder.
Aufgabenstellung: Analysiere eine Zahlenwolke auf darin versteckte Zusammenhänge verschiedener Variablen und lasse dich nicht von den Ergebnissen irritieren.

Kann man Zufriedenheit mit Zahlen messen?

"Oder man sieht auch: Wenn Frauen mehr Hausarbeit machen, sind sie nicht im selben Ausmaß unzufrieden, wie wenn Männer mehr Hausarbeit machen. Und da muss man aber zugeben, da ist die Interpretation jetzt total wichtig! Weil man eben nicht sagen kann: Der Effekt der Stunden Hausarbeit auf die Zufriedenheit ist direkt kausal, ja? Also man kann nicht sagen: ´Weil die Väter länger arbeiten, sind sie deswegen zufrieden!` Also jede Stunde, die ich länger im Büro bleibe, gibt mir noch so ein kleines bisschen mehr Zufriedenheit. Korrelation ist nicht Kausalität. Und – und das ist auch immer die Krux – ich weiß nicht, was mit diesen Arbeitsstunden zusammenhängt, das zur Zufriedenheit führt. Und da muss man wirklich immer ganz vorsichtig sein mit Zahlen!“
Der Soziologe Martin Schröder ist Zufriedenheitsforscher, zugleich ein begeisterter Anhänger statistischer Methoden. Schröder kommt dabei ein einzigartiges wissenschaftliches Projekt zugute, das Sozio-oekonomische Panel, kurz SOEP.
Seit fast 40 Jahren wurden dafür bislang 84.954 Deutsche genau 639.144 mal über ihre Lebensumstände befragt. Das Forschungsprojekt ermöglicht faszinierende Langzeitstudien. Man kann ermitteln, wie sich Einstellungen über Jahrzehnte verändern – oder stabil bleiben. Und man kann sehen, dass manche Bauchwahrheiten eher einer Wunschvorstellung von Gesellschaft entsprechen als den tatsächlichen Gegebenheiten.
"Jetzt gerade – da wird dieses Thema ganz, ganz furchtbar heikel – schreibe ich an einem Buch, wo man sieht, diese ganze Argumentation: ´Den Frauen geht es so schlimm, das sind ganz große Opfer, die sind mit ihrem Job unzufrieden und werden in ihren Beziehungen unterdrückt` – das sieht man in den Zahlen überhaupt nicht! Also überhaupt nicht! Die Frauen fühlen sich in ihrem Job genauso anerkannt wie Männer, in Beziehungen, wenn man nachfragt: ´Kann ich alles machen, was ich will, ohne dass es Konflikt gibt?` sind die Frauen sogar noch etwas … also sagen sie eher als die Männer: ´So, ich kann hier machen, was ich will!`“, sagt Martin Schröder.
Die Zahlen lügen? Nein! Zahlen lügen nicht, Zahlen sagen nur nicht alles.
"Da ist es dann immer schwierig! Also ich kann das messen und zeigen, und jetzt würden aber vielleicht Gender-Theoretikerinnen sagen: ´Ja, das Problem ist aber, die Frauen wissen selber nicht, was gut für sie ist.´"
Vor allem weiß aber der Forscher nicht, was womit zusammenhängt. Und das weist auf das Doppelproblem quantitativer Soziologie hin. Sie untersucht einerseits Daten, aus denen sich Zusammenhänge herauslesen lassen, braucht aber andererseits eine Theorie, was sich inhaltlich hinter diesen Zahlen versteckt. Und die folgt – durchaus schon mal außerwissenschaftlichen, ja politischen Weltannahmen. 

„Die eine Art der Soziologie verfährt positivistisch, die andere kritisch. Erstere lässt, grobschlächtig formuliert, die Realität entscheiden, was wahr und falsch ist, letztere hält (…) sich selbst für gelungen und Gesellschaft für misslungen.“

Thilo Hagendorff, Soziologe, über den Methodenstreit seines Faches.

In der Öffentlichkeit unterliegt deshalb die Soziologie insgesamt häufig dem Verdacht, ein spezielles Süppchen kochen zu wollen. Auch der Marburger Zufriedenheitsforscher kennt solche Vorbehalte:
"Wo dann auch manche manchmal denken: Martin Schröder will provozieren! Das ist nicht so, ich sitz jetzt hier nicht rum und denk mir: ´Jetzt mach ich mal wen ärgerlich!` Aber es bringt nichts, irgendein Ergebnis herauszufinden, das sowieso keiner bezweifelt hätte. Und so kommt’s dann oft zu diesem … dass dann natürlich immer auch irgendwer stutzt, bei den Ergebnissen, die am Ende rauskommen“, sagt Martin Schröder.
„Besonders verstörend ist, dass die meisten Eltern zwar sagen, dass sie es gut finden, Kinder zu haben, jedoch die mit ihren Kindern tatsächlich verbrachte Zeit in Wirklichkeit kaum mögen.“
… schreibt Martin Schröder in seinem Buch „Wann sind wir wirklich zufrieden?“
„Mit den eigenen Kindern verbrachte Zeit landete auf dem elften Rang von fünfzehn Aktivitäten, abgeschlagen hinter Freunde treffen, Essen gehen oder Sport. (…) Insofern betrügen Eltern sich selbst. Die mit ihren Kindern verbrachte Zeit gefällt ihnen kaum, doch anderen und sich selbst erzählen sie, dass ihre Kinder ihr Leben bereichern.
Sollten Paare deswegen auf Nachwuchs verzichten? Vorsicht vor übereilten Schlüssen aus scheinbar sicheren Zahlendiagnosen! 
Und wir kommen zum Ergebnis von Textaufgabe 2, die bekanntlich lautete: Analysiere eine Zahlenwolke auf darin versteckte Zusammenhänge.
Lösung: Die Zahlen liefern oft verblüffende Datencluster, aber sie zu interpretieren, ist kein mathematischer Vorgang. Die Aufgabe wird deshalb als fachfremd markiert und an den Sozialkunde-, Politik- und Philosophieunterricht weitergereicht.
Textaufgabe 3, Minimalniveau. 
"Wenn wir 90 Prozent den Ball haben, dann ist es mir scheißegal, wie wir verteidigen, weil wir dann nicht verteidigen müssen.“
Prozent- und Bruchrechnen als Herausforderung. Hier vom Fußballtrainer Julian Nagelsmann durchexerziert.
„Wenn wir aber halt nur 44 Prozent den Ball haben, dann müssen wir 56 Prozent verteidigen, und wenn wir von den 56 Prozent, was ja dann wie 100 Prozent ist, nur 10 Prozent gut verteidigen, hat der Gegner 90 Prozent Chance, ein Tor zu schießen. Das ist am Ende des Tages zu viel."

Zahlenwirrwarr in der Pandemie

"Sie hören dann irgendwann, dass wir jetzt 40.000 gemeldete Infektionen haben, was ja auch wieder von der Begrifflichkeit her verschleiert, dass wir eigentlich Tests haben, aber nicht echte Infektionen. Dann ist man wieder bei der Dunkelziffer!“, sagt Mathematiker Gerd Antes.
Aufgabenstellung: Erkläre den Zusammenhang zwischen Zähler und Nenner und diskutiere das inszenatorische Potenzial der Prozentrechnung.
"Vor einer Woche waren 2000 weniger oder 2000 mehr, und die Art und Weise, wie das transportiert wird, impliziert: ´Oh, es geht aufwärts, es geht abwärts!` Und das ist natürlich grober Unfug, weil genau das nicht so ist. Und da gibt’s eine wunderbare Grafik, die habe ich mal irgendwann abfotografiert bei einer Tagung aus einem Lehrbuch von 1977: ´Epidemiologie = Zähler/Nenner`", sagt Gerd Antes, Mathematiker und Schrittmacher der evidenzbasierten Medizin in Deutschland. 
"Und was wir erleben von morgens um 6 in den Radionachrichten bis nachts um 12, ist, dass immer nur der Zähler produziert wird, und der Nenner in einer Konsequenz weggelassen wird, dass es atemberaubend ist! Und das ist ein chronischer Fehler, der vieles von dem, was bei uns passiert, wirklich verschleiert."
„Eine (…) Panikregel heißt: Erwähne vor allem das relative und wenn möglich nicht das absolute Risiko“, empörte sich 2011, also lange vor dem Zahlentornado der Corona-Pandemie, der Statistiker Walter Krämer. „Melde also nie: ‚Im Bundesdurchschnitt bringt sich jedes Jahr einer von 1000 Menschen um, in der Einflugschneise von Flughäfen dagegen zwei‘, sondern: ‚Fluglärm treibt Menschen in den Tod! Selbstmordrate um 100 Prozent erhöht!‘“
"Bei der Impflücke sehen wir irgendwie: ´Ah, wir haben jetzt 80 Prozent geimpft!` Oder 85. Das ist grober Unfug! In den Nenner sollte jetzt rein: Wie viele sind tatsächlich geimpft in der Altersgruppe ab 80 zum Beispiel. Und dann würde man eine Impfquote kriegen von sagen wir mal 95 Prozent. Aber da das nicht gemacht wird, sondern verschmiert wird über alle Altersgruppen, komme ich dann auf eine Zahl, wo auch die Kinder reingerechnet werden, wo bekanntermaßen der Impfnutzen äußerst zweifelhaft ist. Wenn man das aber jetzt nicht einbezieht und altersgruppenspezifisch argumentiert, mit den richtigen Zahlen dazu, dann ist es in dem Moment sofort grob irreführend“, sagt Gerd Antes.
Hilfestellung: Der Zähler sagt etwas über das wie viel. Der Nenner über das Was. Wenn ich ein unzureichendes was verwende, wird jedes wie viel verzerrt. Für die öffentliche Kommunikation bedeutet das: Je nachdem, auf welche Zahlenbasis im Nenner ich mich beziehe, desto eindrucksvoller kann ein Ergebnis klingen. Ich mache die Zahl zur Magd meines Vorteils.
Oder meines Vorurteils.
Die von Gerd Antes eingangs erwähnte Formel „Epidemiologie = Zähler/Nenner“ fasst in einer griffigen Formulierung die Beobachtung einer Krankheit, die nicht als Einzelfall, sondern gehäuft auftritt. Will man etwa eine steigende Tendenz der Krankenzahlen erkennen, muss der Nenner über den Zeitraum unverändert bleiben. Sprich: Die Erhebungen müssen sich auf dieselbe Basisgröße beziehen. Tun sie das nicht, „verschmiert“ das Ergebnis, wie es Evidenzforscher Antes bezeichnet.
Verschmierte Ergebnisse sind dort willkommen, wo man Material für politische Botschaften braucht.
„Der französische Soziologe Alain Dérosières (…) hat für die Konstruktion der Zahlen den plastischen Ausdruck der ‚mise en nombres‘ geprägt“, schreibt der Philosoph Oliver Schlaudt in seinem Buch „Die politischen Zahlen“.
„Diese Wortschöpfung orientiert sich an dem französischen Ausdruck ‚mise en scène‘ für Theaterinszenierungen, wörtlich das ‚In-Szene-Setzen‘. Wie ein Regisseur ein Stück auf die Bühne bringt, so bieten auch die Statistiker ihre Gegenstände dem Publikum dar, indem sie sie ‚in Zahlen setzen‘.“
"Das In-Szene-Setzen von Zahlen gibt’s auf jeden Fall! Beispiel: Diese Zufriedenheitswerte auf einer 10er-Skala … wenn ich das auf einer Grafik mache, und die Grafik geht wirklich von 0 bis 10, und dann schaue ich, wie sich irgendwas entwickelt: Dann sehen die Unterschiede eigentlich nie groß aus, weil sich fast alles immer so um die 7 herum abspielt. Wenn ich dann aber dieselbe Grafik nicht zwischen 0 und 10 die Werte abtrage, und die sind sagen wir mal von 7,4 auf 6,8 gesunken, sondern da nur die Werte von 7 bis 9 abtrage, dann sieht dieselbe Kurve, die runtergeht, wieder als riesige Veränderung aus. Das ist dann auch ein Abwägen … ja, dass ich’s nicht sehr in Szene setze! Da muss man auch wirklich vorsichtig sein“, sagt Martin Schröder.

Imposant inszenierte Zahlen

"Es gab mal eine große Kampagne, und das ist sehr einleuchtend, wo Brustkrebs-Screening wirklich verkauft werden sollte! Und dann lief immer als Beispiel: ´Mit Brustkrebs-Screening´ kann von drei an Brustkrebs sterbenden Frauen ein Tod verhindert werden!´ Das sind 30 Prozent.“
Gerd Antes erinnert hier an einen 20 Jahre alten Klassiker imposant inszenierter Zahlen.
"Wenn man das richtig darstellt, dann überleben statt 997, 998. Man sieht schon, das Prozentuieren ist wirklich eine Allzweckwaffe, um die Öffentlichkeit zu manipulieren! "

Die Studienlage damals besagte Folgendes: Von 1000 Frauen sterben in zehn Jahren drei an Brustkrebs, wenn sie regelmäßig zur Mammografie gehen. Bei 1.000 Frauen, die auf die Röntgenuntersuchung verzichten, sind es vier. Daraus kann man berechnen, dass das Sterberisiko durch die Mammografie um 25 Prozent sinkt. Das klingt nach einer gewaltigen Zahl. Doch absolut betrachtet ist der Unterschied nur eine Frau von 1000. 
"Wenn das grafisch darstellt, dann sieht man natürlich sofort – wenn ich das mit Sternchen male – dass es praktisch kein Effekt ist, wenn ich dieses 1000 Sternchen habe und dann statt 997, 998 habe. Immer, wenn ich die Prozente unten, an der unteren Grenze aufzeichne, dann ist völlig klar, dass die Zahl natürlich gegenüber der Gesamtzahl – also hier eben drei am anderen Ende der Skala – eine völlig andere Außenwirkung hat! Aber wirklich nicht ein bisschen, sondern total das Bild auf den Kopf stellt!"
Bedenklich war diese Inszenierung, weil Mammografie-Screening an sich nicht folgenlos bleibt, wie das Deutsche Ärzteblatt auf dem Höhepunkt der Debatte feststellte:
„Überdiagnostik und Übertherapie sind ein methodeninhärentes Problem des Screenings, auch im qualitätsgesicherten Programm. Beides führt zu individuellem Leid, zu psychischem Stress und zu unnötiger Therapie.“
Woraus sich das Ergebnis von Textaufgabe 3 ableiten lässt. Diskutiere das inszenatorische Potenzial der Prozentrechnung. Wo es um Gesundheit geht, sollten Zahlen nicht nur stimmen, sondern auch angemessen wirken. Das heißt: Sie sollten Denken erleichtern und nicht Ängste schüren oder Hoffnungen stimulieren. 
Die Gesellschaft ist süchtig nach der brutalen Eindeutigkeit der Zahl. Sie liebt Inzidenzen, das Bruttoinlandsprodukt oder den PISA-Vergleich, weil all diese Werte etwas auf den Punkt bringen: Wie hoch soll das Rentenniveau sein? Kein Problem, rechnen wir das aus! Dabei muss man überhaupt erst mal sehen …
"… dass so was wie eine Rentenformel nicht einfach nur eine abstrakte Formel ist, sondern eine Möglichkeit, Generationengerechtigkeit zu implementieren. Besser oder schlechter, ob das funktioniert, ist eine andere Frage und so weiter. Aber zunächst mal zu sehen: Das ist nicht nur eine Beschreibung, wie viel zahlt wer ein und wie viel kriegt wer raus? Sondern es ist die Umsetzung eines normativen Prinzips, einer normativen Vorentscheidung, die diskutabel ist!“, sagt Gregor Nickel, der die Grundlagen des eigenen Faches reflektierende Mathematiker aus Siegen.
"Die Formel kann so oder so lauten, und es muss auch nicht unbedingt eine Formel sein! Also schon die Entscheidung, das monetär abzugleichen und nicht gegenseitige Hilfestellung, wie auch immer, ginge ja auch … das sind alles normative Fragen: Bringe ich Mathematik ins Spiel? Und welche Mathematik bringe ich ins Spiel?"
Normativ – Regeln setzend. Mathematik setzt Regeln, wo immer sie drinsteckt. Und sie steckt fast überall drin.
"Dann komm ich sehr schnell natürlich in einen Bereich, wo es sehr unübersichtlich und kompliziert wird. Deswegen schaut der ethische Diskurs häufig nicht bis in dieses Detail hinein – und umgekehrt: Diejenigen, die jetzt in der Versicherungsgesellschaft die Rente ausrechnen, die sind Spezialisten für ihren Bereich, ja? Können das gut abzinsen, aber blenden aus, dass und welche Vorentscheidungen drinstecken. Und diese beiden Diskurse – der mathematisch-rationale auf der einen Seite, der ethische auf der anderen Seite – die überhaupt erst mal füreinander sichtbar zu machen, das ist natürlich eine wichtige Aufgabe, aber durchaus nicht leicht,"
Wenige stellen sich dieser Aufgabe, weil fachintern selten dazu aufgerufen wird. Nach der Bankenkrise 2007, die maßgeblich von Prozeduren und Produkten der Finanzmathematik verursacht wurde, schrieb der Modellierer Emanuel Derman ein selbstkritisches Buch „Models. Behaving. Badly“.
Modelle funktionieren nicht. Darin stellte er einen „hippokratischen Eid der Modellierer“ auf – ein Eid, der jedem Berufsanfänger abgenommen werden sollte. 
„Ich werde nie vergessen, dass ich die Welt nicht erschaffen habe und dass sie meinen Gleichungen nicht gehorcht. (…) Ich werde mich nicht über Gebühr von der Mathematik beeindrucken lassen. (…) Ich werde alle Verwender meiner Modelle auf deren Annahmen und Lücken hinweisen. Mir ist klar, dass sich meine Arbeit nachhaltig auf Gesellschaft und Wirtschaft auswirkt – vielfach nachhaltiger, als ich abschätzen kann.“
Hausaufgabe: Wende den „hippokratischen Eid der Modellierer“ auf den Gesundheitssektor an und diskutiere, ob sich daraus eine andere Pandemie-Politik hätte ergeben müssen.

Autor: Florian Felix Weyh
Es sprechen: Cathlen Gawlich, Nina West, Max Urlacher, Henri Thaon und Florian Felix Weyh
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Technik: Ralf Perz
Redaktion: Martin Mair

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