Durch die Höhen und Tiefen der Weltgeschichte
Der sechste Band schließt das WBG-Großprojekt der Darstellung der Geschichte der Menscheit ab. Die Herausgeber wollen von einem nicht eurozentrierten Standpunkt aus alle Kulturen fair darstellen. Diesem Anspruch werden sie leider nur partiell gerecht.
Mit dem eben erschienen Band 6 der Weltgeschichte der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft fand das Großprojekt der Darstellung der Geschichte der Menschheit seinen Abschluss. Den Herausgeberprofessoren ging es darum, erstmals von einem nicht eurozentrierten Standpunkt aus alle Kulturen der Menschheit fair darzustellen und zu würdigen. Der Abschlussband steht unter dem Oberthema der Globalisierung von 1880 bis heute. In diesem Band geht es um die globalen politischen Verflechtungen und die kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten 120 Jahre, die Themen Demografie und Wirtschaft, die Wege zur Industrialisierungs-, Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, die Umwelt- und Ressourcenprobleme sowie die Genese unserer Massen- und Weltkultur.
Wie in den vorangegangenen fünf Bänden der 6000 Seiten umspannenden Weltgeschichte spiegelt auch der letzte Band ein enormes Qualitätsgefälle der Beiträge wider. Neben vollkommen misslungenen Beiträgen stehen sehr gute Artikel. Was dieser Weltgeschichte insgesamt fehlt, ist ein alle Beiträge in ein schlüssiges Gesamtwerk integrierendes Konzept unter der Qualitätskontrolle eines kompetenten Lektorats. Die Leser werden leider auf einer wackeligen Achterbahn durch die Höhen und Tiefen der Weltgeschichte transportiert.
Der Herausgeber von Band 6 verfasste den 130 Seiten langen, offensichtlich unlektorierten, schludrigen Eröffnungsaufsatz über die "politischen Ordnungssysteme und sozialen Bewegungen", in dem er Bekanntes im Eiltempo oberflächlich abhakt und Wesentliches, zum Beispiel für das Verständnis des Funktionierens des Nationalsozialismus unterschlägt. Mit keinem Wort geht Hans-Ulrich Thamer, der in Münster Neue Geschichte lehrt, auf das im Juli 1933 zwischen dem Vatikan und Hitler abgeschlossene Reichskonkordat ein. Dieser noch heute gültige völkerrechtliche Vertrag band das gesamte gläubige katholische Milieu Deutschlands an Hitler und sterilisierte den mächtigen deutschen Klerus zur politischen Untätigkeit.
Fast unmittelbar nach dem inakzeptablen Beitrag von Thamer findet der leidensfähige Leser plötzlich einen in jeder Hinsicht herausragend guten Essay. Auf 45 Seiten beschreibt der Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer die bewegende Saga der bis heute unsere Geschichte elementar prägenden Migrationsgeschichte von Abermillionen Menschen. Oltmer zeigt auf, wie auch in den letzten 120 Jahren Migration zu einer der großen Herausforderungen wurde, einer Herausforderung, der wir uns im ureigensten Interesse konstruktiv zu stellen haben, schon allein deshalb, weil – wie eine Unzahl von Studien belege – Zuwanderer zu unserer Prosperität beitragen. Oltmer wirft auch einen Blick in die Zukunft, die nach Vorhersagen der Klimaforscher in den kommenden 30 Jahren bis zu 200 Millionen Menschen zur Migration in die Nordhälfte des Globus zwingen könne.
Band 6 reiht sich ein in die schlechte Tradition der Vorgängerbände mit ihrem Nebeneinader von vorzüglichen und schlampig geschrieben Beiträgen, in denen nicht nur Wichtiges weggelassen wird, sondern auch Sachfehler stören.
Alles wollten die Herausgeber neu und besser machen. Unter anderem wollten sie auch den Religionen und Glaubensbewegungen der gesamten Welt gerecht werden, denn Religionen prägen bekanntlich die Geschichte ganz wesentlich. Aber über die englische Entsprechung zu Martin Luther, also zu William Tyndale, kein Wort. Dabei war der englische Bibelübersetzer der Inspirator der frühen Alphabetisierung Englands. Bereits ab 1540 las man in fast jedem englischen Haushalt seine für jeden verständliche, frische, bildreiche, rhythmisch einprägsame Bibelübersetzung. Ohne Tyndale, so die neue englische Kulturforschung, kein Shakespeare. Ohne Tyndale hätte sich, auch dies weist die neue Forschung nach, Englisch nicht zur ersten wahrhaft globalen Sprache entwickeln können. Dies ist nicht die einzige unverzeihliche Weglassung, auch Behauptungen, in England hätte es bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts die - 1916 erstmals eingeführte - allgemeine Wehrpflicht gegeben, fallen nicht unter die Rubrik von Tippfehlern.
Dem sehr hohen Anspruch, den die Herausgeber vollmundig im Voraus verkündet hatten und der große Erwartungen geweckt hatte, wird die WGB Weltgeschichte – leider – nur partiell gerecht.
Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr
Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.): WBG Weltgeschichte Band VI. Globalisierung. 1880 bis heute
Pattloch, München 2010
512 Seiten, 349 Euro (Vorzugspreis) für die gesamte Reihe, 449 Euro ab Februar 2011
Wie in den vorangegangenen fünf Bänden der 6000 Seiten umspannenden Weltgeschichte spiegelt auch der letzte Band ein enormes Qualitätsgefälle der Beiträge wider. Neben vollkommen misslungenen Beiträgen stehen sehr gute Artikel. Was dieser Weltgeschichte insgesamt fehlt, ist ein alle Beiträge in ein schlüssiges Gesamtwerk integrierendes Konzept unter der Qualitätskontrolle eines kompetenten Lektorats. Die Leser werden leider auf einer wackeligen Achterbahn durch die Höhen und Tiefen der Weltgeschichte transportiert.
Der Herausgeber von Band 6 verfasste den 130 Seiten langen, offensichtlich unlektorierten, schludrigen Eröffnungsaufsatz über die "politischen Ordnungssysteme und sozialen Bewegungen", in dem er Bekanntes im Eiltempo oberflächlich abhakt und Wesentliches, zum Beispiel für das Verständnis des Funktionierens des Nationalsozialismus unterschlägt. Mit keinem Wort geht Hans-Ulrich Thamer, der in Münster Neue Geschichte lehrt, auf das im Juli 1933 zwischen dem Vatikan und Hitler abgeschlossene Reichskonkordat ein. Dieser noch heute gültige völkerrechtliche Vertrag band das gesamte gläubige katholische Milieu Deutschlands an Hitler und sterilisierte den mächtigen deutschen Klerus zur politischen Untätigkeit.
Fast unmittelbar nach dem inakzeptablen Beitrag von Thamer findet der leidensfähige Leser plötzlich einen in jeder Hinsicht herausragend guten Essay. Auf 45 Seiten beschreibt der Osnabrücker Migrationsforscher Jochen Oltmer die bewegende Saga der bis heute unsere Geschichte elementar prägenden Migrationsgeschichte von Abermillionen Menschen. Oltmer zeigt auf, wie auch in den letzten 120 Jahren Migration zu einer der großen Herausforderungen wurde, einer Herausforderung, der wir uns im ureigensten Interesse konstruktiv zu stellen haben, schon allein deshalb, weil – wie eine Unzahl von Studien belege – Zuwanderer zu unserer Prosperität beitragen. Oltmer wirft auch einen Blick in die Zukunft, die nach Vorhersagen der Klimaforscher in den kommenden 30 Jahren bis zu 200 Millionen Menschen zur Migration in die Nordhälfte des Globus zwingen könne.
Band 6 reiht sich ein in die schlechte Tradition der Vorgängerbände mit ihrem Nebeneinader von vorzüglichen und schlampig geschrieben Beiträgen, in denen nicht nur Wichtiges weggelassen wird, sondern auch Sachfehler stören.
Alles wollten die Herausgeber neu und besser machen. Unter anderem wollten sie auch den Religionen und Glaubensbewegungen der gesamten Welt gerecht werden, denn Religionen prägen bekanntlich die Geschichte ganz wesentlich. Aber über die englische Entsprechung zu Martin Luther, also zu William Tyndale, kein Wort. Dabei war der englische Bibelübersetzer der Inspirator der frühen Alphabetisierung Englands. Bereits ab 1540 las man in fast jedem englischen Haushalt seine für jeden verständliche, frische, bildreiche, rhythmisch einprägsame Bibelübersetzung. Ohne Tyndale, so die neue englische Kulturforschung, kein Shakespeare. Ohne Tyndale hätte sich, auch dies weist die neue Forschung nach, Englisch nicht zur ersten wahrhaft globalen Sprache entwickeln können. Dies ist nicht die einzige unverzeihliche Weglassung, auch Behauptungen, in England hätte es bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts die - 1916 erstmals eingeführte - allgemeine Wehrpflicht gegeben, fallen nicht unter die Rubrik von Tippfehlern.
Dem sehr hohen Anspruch, den die Herausgeber vollmundig im Voraus verkündet hatten und der große Erwartungen geweckt hatte, wird die WGB Weltgeschichte – leider – nur partiell gerecht.
Besprochen von Hans-Jörg Modlmayr
Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.): WBG Weltgeschichte Band VI. Globalisierung. 1880 bis heute
Pattloch, München 2010
512 Seiten, 349 Euro (Vorzugspreis) für die gesamte Reihe, 449 Euro ab Februar 2011