Durch Musik zum Glauben

Von Marlene Küster |
Die Langhalslaute Saz gilt den Aleviten als Tor zum Glauben. Sie gehört zu ihrer Kultur wie die Orgel in eine christliche Kirche. Die Aleviten transportieren über die Musik auch ihr gesamtes religiöses Wissen.
Ahmet Taner: "Manche benutzen Heilige Schriften als Instrument und bei uns ist das Heilige eben die Musik. Musik hat diese ganzen Gedichte seit Jahrhunderten aufrechterhalten und bis heute überliefert. Und wenn man diese Gedichte noch mal in Musik einpackt, dann ist auch der Verständnisgrad bei der Bevölkerung viel höher, als wenn man ihnen nur über Gebote, Regeln und Dogmen berichtet. Die alevitische Religion will dem Menschen emotional eine Heimat geben, wo man Hoffnung auftanken kann und dabei spielt die Musik natürlich eine entscheidende Rolle."

Cem-Zeremonie der Aleviten im Gemeindehaus, Berlin Kreuzberg, Samstag 18 Uhr. Längliche Neonleuchten verbreiten helles Licht im weißen Raum. Männer, Frauen sitzen dicht gedrängt auf Kissen, daneben rutschen Kinder ungeduldig auf dem Boden hin und her. Sie sprechen leise türkisch. Alle Anwesenden haben die Schuhe am Eingang zurückgelassen.

Auf dunkelrotem Hintergrund leuchtet ein großes Bildnis von Mohammed Ali mit einem Löwen. Ali, der Schwiegersohn und Cousin des Propheten Mohammed, auf den die Aleviten sich berufen. Links davon ein Porträt des Heiligen Hacý Bektaú mit einer Gazelle und einem Löwen im Arm. Rechts daneben der Dichter und Volkssänger Pir Sultan Abdal – Heiliger und Held, bekannt für seinen Kampf gegen die Unterdrückung des osmanischen Reiches: Er umgreift mit erhobenen Armen die Langhalslaute Baðlama, auch Saz genannt. Dieses Instrument steht hier im Mittelpunkt. Die Anwesenden sitzen aufrecht, die Stimmen verstummen.

Ahmet Taner: "Keine alevitische Zeremonie oder keine Zusammenkunft der Aleviten kann ohne Musik stattfinden. Besonders die Baðlama hat einen Status der Heiligkeit erreicht. Man drückt vieles in Begleitung der Baðlama aus, besonders die Gedichte und diese angesprochene Emotion, die ist dann über die Baðlama auch einfacher und besser zu verstehen."

Die Flamme, die nie erlischt
Ahmet Taner, Vorsitzender der seit 1979 bestehenden Alevitischen Gemeinde zu Berlin, erklärt den Ablauf der Zusammenkunft:

"In einer Cem-Zeremonie werden zwölf Rituale nacheinander aufgeführt, die wird geführt von alevitischen Geistlichen, die wir "Ocaklar" nennen, wenn man es wörtlich übersetzt "Feuerherde", das ist diese ewige Flamme, die nie erlischt. Das ist davon abgeleitet. Diese Familien stehen den Aleviten seit Jahrhunderten vor, die betreuen sie geistlich und leiten dann die Cem-Zeremonie.

In einer Cem-Zeremonie sitzen die Leute im Halbkreis, weil im Türkischen gibt es das Sprichwort "Gegen die Wand zu beten ist nicht unser Anliegen, sondern unser Anliegen ist gegen das Antlitz" und das ist wieder der Mensch. Also der Mensch betet sich selber an und darum im Halbkreis, so dass alle sich sehen. Und das ist eine Form, die uns unterscheidet. Und dann werden nach einander die ganzen Rituale aufgeführt."

Die Blicke der Anwesenden wandern nach vorne zu den alevitischen Geistlichen, und zum so genannten "Asik", dem Saz-Spieler und Sänger. Melancholische Klänge über Ali, Pir Sultan Abdal: Da schwingen Sehnsucht nach einer besseren Welt, Erinnerungen an gemeinsames Leid und kontinuierliche Unterdrückung der Aleviten durch die türkische Staatsmacht mit. Furcht vor Verfolgung war Ergebnis jahrhundertelanger Erfahrung, im Osmanischen Reich als "Ungläubige" zu gelten. Viele türkische Aleviten wanderten besonders in den sechziger und siebziger Jahren nach Deutschland aus.

Aleviten wollen auch Verantwortung in der Stadt übernehmen
Ende der achtziger Jahre entwickelte sich in der Bundesrepublik aus der kaum wahrgenommenen Minderheit eine alevitische Bewegung, ja sogar eine europaweit vernetzte gesellschaftliche Gruppe. Aleviten zeigten auf einmal offen ihre Zughörigkeit, wehrten sich gegen Diskriminierung und forderten ihre Anerkennung in Staat und Gesellschaft.

Ahmet Taner: "Unsere Intention ist, dass wir erst mal den alevitischen Glauben, die Kultur und Geschichte hier in der Gemeinde pflegen, versuchen zu entwickeln, aber gleichzeitig ist uns auch ein großes Anliegen, dass wir einen Beitrag für die Entwicklung der Stadt leisten und dass wir in diesem Zug auch Verantwortung übernehmen. Wir sind eine Glaubensgemeinschaft, aber wir beschäftigen uns nicht nur mit Glauben, sondern die Alltagssorgen der Menschen sind wahrscheinlich mehr für uns von Bedeutung als jetzt nur Glaubensthemen anzubieten.

Dafür sind die Aleviten eigentlich bekannt, dass wir unseren Glauben, unsere Religion immer zu allen Jahrhunderten um den Menschen herum geformt haben. Darum ist auch die alevitische Lehre, der Glaube auch einer Entwicklung unterworfen. Es gibt keinen Stillhalteprozess, sondern alles wird den menschlichen Bedürfnissen und der Zeit angepasst. Für uns bedeutet Zeitalter auch Entwicklung und der Zeitgeist muss auch im Glauben wiederzusehen sein."

Auch wenn die Aelviten sehr auf den Zeitgeist achten – ihr Hauptinstrument ist uralt, ja fast überzeitlich. Der Musikethnologe Martin Greve, Experte auf dem Gebiet der alevitischen Musik:

"Die Baðlama ist völlig zentral im Alevitentum wie die Orgel in der Kirche. Die ganze Zeit wird eigentlich gesungen. Das gehört dazu. Es gibt verschiedene lithurgische Stellen, an denen gesungen werden muss. Und genauso gut kann man umgekehrt sagen, wenn man sich die Baðlama anguckt in der Türkei, dann sind fast alle bedeutenden Spieler Aleviten. Wenn man Baðlama-Lehrer fragt, dann sind 90, 95 Prozent alevitische Kinder. Das war früher gar nicht so bekannt, das war ja ein Tabuthema, Alevite zu sein.

Das war also bis Mitte der siebziger, Ende der siebziger, achtziger Jahre hat das kaum jemand offen gesagt, dass er Alevite ist. Das war riskant, es gab sozialen Druck, auch Morde, Brandanschläge mehrfach in der Türkei. Und erst ab den achtziger Jahren gab es mit den Gruppen Muhabbet Arif Sag, die haben dann offen erklärt, sie sind Aleviten, sie singen alevitische Lieder, alevitische Musik. Und auf einmal hat man gemerkt, ich bin auch Alevite, ich bin auch Alevite. Alle Volksmusiker waren Aleviten."

Es gibt keine verbindliche Heilige Schrift
Die Baðlama begleitet die Gesänge, hält die Kultur, Traditionen lebendig und ist ein Tor zum Glauben der Aleviten. Es gibt keine verbindliche Heilige Schrift, nach der die Gläubigen sich richten. Seit jeher wird die Baðlama verwendet, um das gesamte religiöse Wissen durch Saz-begleitete Lieder zu überliefern und zu verbreiten:

Martin Greve: "Die Baðlama war ein nicht standardisiertes Instrument in allen möglichen Größen mit völlig verschiedenen Bundeinteilungen, mit allen möglichen Stimmungen. Es hat regional totale Unterschiede gegeben. Die Spieltechnik war unterschiedlich und es gibt verschiedene Stile.

Heute lernt man, ich weiß nicht wie viele regionale Anschlagstechniken. Das war früher vielfältiger und beinahe chaotischer. Früher haben die Dedes auf so ganz kleinen gespielt – also dreisaitige kleine Instrumente und die haben in ihren Händen gespielt, also ohne Plektrum. Und jetzt diese Baðlama, die man heute als die klassische Baðlama kennt. Das ist eine Kurzhalslaute, die erst in den achtziger Jahren richtig populär geworden ist."

Für die Aleviten ist die Baðlama viel mehr als nur ein Instrument. Die Baðlama verkörpert für sie Ali, der Resonanzkorpus seinen Körper und der lange Hals das Schwert des Propheten. Die Baðlama ist sozusagen der "Koran der Saiten".

Ahmet Taner: "Wir reden eigentlich von der alevitischen Glaubenswelt. Warum Glaubenswelt? Man sollte sich das Alevitentum wie ein großes Bild oder ein Porträt vorstellen, wo das Bild aus verschiedenen Elementen sich zusammensetzt. Also im Alevitentum finden Sie die zwölf Imame-Lehre genauso wie die Emanationslehre genauso die Lehre vom vollkommenen Menschen oder die Einheit von Hak-Mohammed-Ali.

Das alles ist im Alevitentum präsent. Dass wir insgesamt sagen neben dem mystischen Islam schiitischer Prägung haben auch verschiedene Buchreligionen das Alevitentum beeinflusst. Und dann gibt es auch das Fundament der Naturreligion."

Ahmet Taner: "Aleviten kennen den Dualismus der monotheistischen Religionen im strengen Sinne nicht. Dazu haben wir unten ein Bild. Da ist Hacý Bektaú, ein alevitischer Heiliger aus dem 13. Jahrhundert zu sehen, in seinem Arm hält er einen Löwen und eine Gazelle. Und damit möchten wir zum Ausdruck bringen, dass in der ganzen Existenz und im ganzen Universum man nicht zwischen Gut und Böse oder Licht und Dunkelheit unterscheiden sollte, sondern dass alles seinen Platz hat. Das ist so die alevitische Philosophie. Diese Naturreligionen sind auch die Basis der alevitischen Religion, die auch diese offenen Grenzen der Beeinflussung durch mystischen Islam, durch Buchreligionen und andere Religionen erst möglich gemacht hat."

Der Ethnologe Martin Sökelfeld schreibt in dem Buch "Aleviten in Deutschland" dazu folgendes:

Kern des alevitischen Ethos ist ein besonderes Menschen- (und Gottes-) Bild. Der Mensch steht im Zentrum des Alevitentums, wird häufig gesagt – und nicht Gott, wäre zu ergänzen. Anders ausgedrückt, Gott ist im Menschen zu suchen und zu finden, nicht in etwas Außermenschlichem wie einer Schrift oder einem Glaubenssatz ...

Der Mensch wird als ein Wesen betrachtet, das sich auf dem Weg zu Gott befindet, und auf diesem Weg unterschiedlich weit vorangekommen sein kann. Das Ziel ist der "vollkommene Mensch" (kamil insan), der letztlich die Einheit mit Gott erreicht ...

Während der "orthodoxe" Islam Gott und die Menschen klar von einander trennt, gibt es eine solche Trennung im alevitischen Verständnis letztlich nicht, bzw. das Ziel des alevitischen Weges (Alevi yolu) ist es gerade, diese Trennung aufzuheben. Hintergrund ist die Auffassung von der Einheit von Gott und Schöpfung, von der mystischen Einheit allen Seins).Von dieser Auffassung leitet sich Respekt für alle Teile der Schöpfung ab.


Höhepunkt der Zeremonie ist das Semah
Absolute Ruhe liegt über dem Festsaal, entspannte Gesichtszüge, teils geschlossene Augen, teils nachdenkliche und entrückte Blicke. Der "Dede", der Prediger, übernimmt mit dem Einverständnis der Gemeinde die Leitung der Zeremonie. Unstimmigkeiten in der Gemeinde werden zur Sprache gebracht und besänftigt. Der so genannte "Feger" kehrt symbolisch den Platz. Höhepunkt der Zeremonie: das Semah.

Ahmet Taner: "Das Semah ist ein weiteres Ritual. Wir bezeichnen es nicht als Tanz, sondern als rituellen Lauf, das spielt sich dann als eine bestimmte Zeremonie im Laufe des Cems ab, wo es eigentlich wieder darum geht, diese emotionale Schiene, wo Mensch sich von allen Gedanken trennen sollte, die im Alltag ihm Sorgen bereiten. Durch das ganze Drehen soll der Mensch alles vergessen und ja eins werden mit Gott."

Die Teilnehmer drehen sich nach dem Takt der Baðlama im Kreis wie die Planeten um die Sonne. Der kosmische Charakter des Semah symbolisiert nicht nur die Bewegung der Erde, sondern auch die ständige Bewegung der Natur. Ob groß oder klein – alle sind gebannt, hochkonzentriert und ergriffen. Schon mit jungen Jahren beginnen Kinder mit dem Saz-Spiel. Die alevitische Musik hält die Gemeinschaft zusammen, stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl und verleiht dem Alevitentum das gewisse Mystische, aus der viele ihre Kraft schöpfen.

Ahmet Taner: "Alle diese Rituale werden in Begleitung der Baðlama aufgerufen, zu allen Ritualen gibt es dann auch Gedichte, die gesungen werden. Und insgesamt dauert eine Cem-Zeremonie zwischen zwei bis vier Stunden. Und eine Cem-Zeremonie soll die Gemeinde zusammenschweißen, soll vielleicht auch die Menschen in eine Gefühlslage bringen, wo man das Cem verlässt und mit einem angenehmen Gefühl dann nach Hause geht."