Durchboxen im Leben

Von Susanne Baltharsar |
Brüllen, fluchen, mit der Faust auf den Tisch schlagen. Lothar Kannenberg macht das alles und nennt das Pädagogik. Im Kasernenhofton will er mehr als ein Dutzend Jugendliche zwischen 13 und 20 wieder auf Kurs bringen. Auf das Gut Kragenhof kommen die, die keine Chance mehr haben: Diebe, Dealer, Einbrecher.
"Boxen? Deine Aggressionen kannst du rauslassen. Das heißt, dass es ein Fair Play ist und kein Straßenkampf. Das ist was ganz anders, Boxen."

"Man muss halt die Extrapower aus sich herausholen. Nur so kriegst du deine Ausdauer, und nur so lernst du auch. Weil jeder Mensch hat auch ne zweite Energie, auch wenn er nicht mehr kann, da ist immer noch was drin (...) Man muss sich durchboxen, durchboxen in der Schule, durchboxen im Leben."

"Anders da geht’s nicht bei uns, wie die anderen sagen hoffnungslose Fälle. Man uns schon hart ran nehmen. Anders lernen wir’s nicht. Wir haben Anzeige für Anzeige bekommen und nichts gelernt. Nur so kommen wir weiter, die meisten bleiben stehen, da muss man ein bisschen drillen, sonst kommt man nicht weiter."

Morgengrauen.

Der Himmel ist noch nicht hell, im Gutshaus beginnt der Tag mit dem Weckpfiff: der Drill der ersten Stunde. Drogenabhängige, gewalttätige Jugendliche und Einbrecher zwischen 13 und 18 Jahren öffnen die Augen. Lektion eins: mit der Sonne aufstehen.

"Es ist halb sieben, hoch die Ärsche ...""

Aus dem Bett an die Arbeit.

Alex ist dran. Alex legt Brötchen in die Schüssel und sieht fast wie ein Junge aus der Werbung aus: Schöne, helle Augen, kurze dunkle Haare, ein weicher Mund. Wenn seine Haut nicht so blass wäre, und die Augen nicht so alt aussähen. Seit drei Wochen ist er in dem Boxcamp "Gut Kragenhof".

"Wie die mit einem umgehen, das alles Zwang ist, dass wenn man ein, zwei Minuten zu spät ist, muss man Liegestütze machen oder jedem kann mal beim Essen ein Schimpfwort rausrutschen, dann muss man gleich 30 Liegestütze machen."

Mit Liegestützen fit werden für den Wiedereinstieg ins Leben. Es geht um Struktur, Disziplin und Respekt. Das sollen Alex und die anderen lernen, die hoffnungslosen Fälle. So nennen sie jedenfalls Jugendämter, Eltern und Lehrer. Weil sie sich nirgendwo einfügen können und überall rausfliegen: bei den Eltern, aus der Schule, aus Erziehungsheimen. Mit 13 Jahren hat Alex 14 Anzeigen: Drogen, Einbrüche Schlägereien. Jetzt muss er morgens Kaffee kochen, Salami und Käse auf Teller schichten und Tische decken.

"Es ist wie Fahrradfahren (...) beim Fahrradfahren macht man immer das Gleiche, man tritt in die Pedalen und fährt seinen Weg, halt keine Abwechslung. Der einzige Grund, warum ich nicht abbreche ist, weil ich dann in eine geschlossene Einrichtung komme und meine Anzeigen immer noch am Hals hab."

"Auf, auf du Putze."

Während Alex Kaffee kocht, wischt Dennis die Krümel beiseite. Dennis grinst mit breitem Mund, auf dem Kopf trägt er eine Wollmütze, die wie eine Eierschale auf seinen blonden Locken sitzt. In seinem Ohr steckt ein großer und falscher Brillantohrring, der kleine, stämmige Körper in einem dunkelblauen Trainingsanzug. Dennis stellt die Teller mit Wurst und Käse, die Nutella- und Marmeladengläser für das Frühstück auf den Servierwagen.

"Bisschen was decken, Käse und so."

Acht Monate ist Dennis auf Gut Kragenhof, sechs bleiben die meisten. Mit über 80 Anzeigen ist Dennis einer der schwersten Jungs hier.

"Wenn ich aggressiv war, hatte ich mich nicht mehr unter Kontrolle, dann hat sich das Gehirn ausgeschaltet."

Gut Kragenhof ist seine letzte Chance. Wenn Dennis die vermasselt, muss er wieder dahin zurück, wo er hergekommen ist: ins Gefängnis.

"Ich hasse das vor die Wahl gestellt zu werden, entweder hier oder Knast, das verkrafte ich nicht. Früher war ich zu Hause, aber das habe ich mir selber verbaut."

Dennis schaut aus dem Fenster in den quadratischen Hof. Auf drei Seiten liegen die ehemaligen Scheuen und Stallungen. Um die ganze Anlage fließt die Fulda, Gut Kragenhof liegt auf einer Halbinsel. Eine schmale Straße führt durch den Wald nach Kassel, die einzige Brücke zur Außenwelt. Über die ist Dennis schon mal abgehauen. Jetzt sagt er, dass die Aussicht auf dem Gutshof besser ist als die im Knast:

"Den ganzen Tag in der Zelle, hier hast du deine Freiheit, keine Gitter vor den Fenstern. Die meisten fühlen sich hier gefangen, ich nicht. Hier hast du keine Gitter an den Fenstern oder sonst was, hier hast du deine Freiheit auch."

6:30 Uhr Aufstehen, Frühsport, Küchen- oder Putzdienst, vormittags Überlebenstraining, nachmittags Boxen, abends Gruppensitzung, und alles auf Kommando – so ist der Tagesablauf für Dennis und Alex.

"Die Trillerpfeife heißt Frühstück, wenn die Trainer pfeifen, steht irgendwas an, dann müssen wir in den Hof oder in den Raum, und meistens wissen wir das automatisch, was wir gerade haben und so."

Nach dem Frühstück, wenn die Trainer pfeifen, spurten die 18 Jungs in den Hof. Drei Mann sind nötig, um die Gruppe zusammenzuhalten. Keine ausgebildeten Pädagogen, sondern Männer, die selber eine Drogenkarriere hinter sich haben oder kriminell waren. Sie tragen Sweatshirts, orange, wie die Müllabfuhr. Wer nicht pariert, bekommt Ärger.

"Wenn Marcel nicht mitmacht, muss ich auch nicht."

"Anders da geht’s nicht bei uns, wie die anderen sagen hoffnungslose Fälle. Man muss uns schon hart rannehmen. Anders lernen wir’s nicht. Wir haben Anzeige für Anzeige bekommen und nichts gelernt. Nur so kommen wir weiter, die meisten bleiben stehen, da muss man ein bisschen drillen, sonst kommt man nicht weiter."

"Es geht ja letztendlich darum, dass die dazu kommen, den Hauptschulabschluss zu machen, wenn’s sehr gut läuft den Realschulabschluss, eine Lehre zu machen (...) und da kann ich mir nicht erlauben, dauernd zu spät zu kommen, da haben die dann halt richtig Trouble, und das sollen die dann hier kennenlernen (...) und damit wollen wir die hier konfrontieren (...) So jetzt muss ich mich einreihen, die warten schon auf mich."
Jörg ist einer der Trainer. Er bringt den Jungs bei, Regeln einzuhalten. Sie sollen lernen, dass Grenzen auch Sicherheit geben.

"Aufstellen auf die Linie."

Zwei schiefe Reihen bilden sich, die Jugendlichen wippen mit den Füßen, zappeln mit den Händen, drehen die Köpfe.

"Das ist doch keine Reihe, Ronnie ab in die Reihe. Abzählen, los!"

Antreten zum Aufwärmen. Die Jungen krümmen die Rücken, tänzeln auf den Fußspitzen und schlagen mit geballten Fäusten und ausgestreckten Armen in die Luft. Sport muss sein - ist die Philosophie von Gut Kragenhof, denn beim Sport lernen sie Durchhalten, Disziplin und Respekt. Eine Art Ganztagssporttherapie. Besonders wichtig ist das Boxtraining, das Motto des Trainingscamps heißt "Durchboxen im Leben".

"Auf gehen wir rein, machen wir den Sandsack."

Rein in den ehemaligen Schweinestall, wo rote Sandsäcke von der Decke baumeln. Rissige Wände, feuchtkalte Luft – eine Heizung gibt es nicht. In einer Ecke sind Seile gespannt, der Sparring. Alex sackt gleich auf die Bank neben der Tür, lässt den Rücken durchhängen und schaut auf seine nach innen geklappten Fußsohlen.

"Ich hab keine Lust mitzumachen das Boxtraining, mich interessiert Boxen nicht (...) Ich hab schon zwei, drei Mal mitgemacht, das macht mir keinen Spaß (...) Jedenfalls, wenn ich hier Boxen mach, macht’s mir keinen Spaß, hier alles Zwang uns so. Wenn ich in Verein gehe und keinen Bock mehr hab, kann ich sagen, okay, ich melde mich ab. Hier zwingen die einen. Wir wollten was trinken gehen, nein macht erst Boxtraining fertig noch ne halbe Stunde. Wir sind alle total kaputt und dürfen noch nicht mal was trinken gehen."

Ein paar Meter weiter macht sich Dennis fertig. Die Boxhandschuhe hängen wie Riesenfäuste an seinen Handgelenken.

Manche Boxschüler heben nur matt die Fersen, und lassen die Fäuste schwer gegen die Ledersäcke prallen. Körperkoordination und Lust sind ungleich verteilt. Dennis tänzelt unruhig auf den Zehenspitzen und haut drauf, kurz und schnell. Seine Fäuste fliegen wie Kugeln in einem Flipperautomaten. Vor den Augen einen Sandsack – oder ein Gesicht.

"Irgendein Gesicht. Auf den, wo ich gerade einen Hass hab (...) jetzt grad? Auf nen Kumpel von mir, der mich verraten hat, an den denk ich meistens. Nicht in Wirklichkeit, wenn ich schlage, das lohnt sich nicht, dann geh ich dafür auch gleich in Bau."

Dennis hat schon zu oft zugeschlagen. Boxen, findet Dennis, ist etwas anderes.

"Boxen? Deine Aggressionen kannst du rauslassen. Das heißt, das es ein Fair Play ist und kein Straßenkampf. Das ist was ganz anders, Boxen. Geregelter kämpfen, dass du dir nicht so schnell Verletzungen zufügen kannst, an den Haaren ziehen oder treten. Da ist halt nur die Faust erlaubt."

"Boxen ist nicht einfach draufhauen. Braucht man Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit. Wenn man Erfolg einfährt, kriegt man Selbstbewusstsein und Disziplin, und das hilft einem im Leben."

Boxtrainer Alex und sein Schüler steigen in den Sparring. Mit großen Schutzplatten an den Händen wehrt Alex Dennis Angriffe ab.

Nach wenigen Minuten ist Dennis fertig. Schweißtropfen laufen ihm über die Stirn.

"Anstrengend. Man muss halt die Extrapower aus sich herausholen. Nur so kriegst du deine Ausdauer, und nur so lernst du auch. Weil jeder Mensch hat auch ne zweite Energie, auch wenn er nicht mehr kann, da ist immer noch was drin (...) Man muss sich durchboxen, durchboxen in der Schule, durchboxen im Leben."

Nach 60 Minuten sammeln sich die Jungen wieder auf dem Hof.

"Wir sind im Trainingscamp von Gut Kragenhof, da gibt es Zucht und Ordnung, Drogen sind da nicht erlaubt, weil man damit Scheiße baut, Scheiße bauen, das wollen wir nicht, deshalb helfen wir uns gegenseitig."

Auf zum Überlebenstraining oder auch Ü-Training. Die Jungen joggen durch das Hoftor in den Wald. Nach einigen hundert Metern bleiben sie an einem steilen Uferabhang stehen:

"Immer zu zweit starten!"

Vor dem Start schlittern die Jungs den Hang runter, drehen sich um, laufen dann paarweise wieder hoch. Das Stück ist so steil, dass beim Hochrennen die Nasen nur knapp über dem Boden hängen.

"Los ziehen, schneller!"

"Die sollen sich auspowern tagsüber, damit wir abends unsere Ruhe haben.
Auf! Power. Energie!
Die Aggros einfach mal rauslassen. Das merkt man dann auch abends, wenn die Sport gemacht haben, sind die dann auch ruhiger und entspannter, der Sport hilft uns dabei."

"Das muss schneller gehen, härter."

Knallharter Drill statt Kuschelpädagogik. Das erinnert an Amerika und seine Bootcamps, eine Mischung aus Erziehungslager und Kasernenhof. Bootcamps kennen hier alle aus dem Fernsehen. Aber da sei der Ton härter, meint Dennis.

"Richtig anschreien, die brechen einen. Hier, die brechen uns ja nicht."

"Alles geben, komm hoch, schneller!"

"Das ist für mich nicht anschreien."

"Die Trainer sind für uns wie Kumpels, weil wir uns auch mit denen über alles unterhalten können, das ist kein Camp, wo die Stimmung so angespannt ist."

Und während einige Schweiß triefend rauf und runter rennen ...

"Ich hab schon fünf Mal gemacht!"

... steht Alex unbewegt oben am Hang.

"Alex ‚runter, auf Alex los!
Fulle!
Wer denn?"

Alex bewegt sich nicht.

"Fulle, Fulle!"

Fulle ist die schlimmste aller Strafen. Wer sich aus der Gruppe ausschließt, muss in die Fulda. Alex geht langsam und aufrecht weiter, immer weiter. Erst versinken die Turnschuhen, dann die Socken, die Jogginghose und dann der Trainingsanzug in der Fulda.

"Kuck die mal den Alex an!"

Alex taucht wieder auf. Die dreckigen Sportklamotten kleben wie Schlamm an seinem Körper.

"Fullewasser, Fullewasser, hey."

"Weil ich nicht mitmachen wollte, musste ich in die Fulda (...) was soll’s, ist nicht der Tod, ist nicht so schlimm (...) so kalt ist das gar nicht, ist wie wenn man an einem kalten Tag ins Schwimmbad geht."

Protest im Rahmen der Regeln. Weil Überlebenstraining nichts mit dem Leben zu tun hat, findet Alex.

"Das ist keine Aufgabe, die im täglichen Leben, mehr (...) Ich finde nicht, dass Sport was mit Leben zu tun hat, das ist mehr, um sich fit zu halten und Spaß zu haben (...) Seit ich hier bin, denke ich mir, dass Sport voll Scheiße ist."

Mit dem Gang in die Fulda hat sich Alex vom Überlebenstraining befreit. Er dreht sich um und geht zurück in Richtung Gutshof. Eine feuchte Spur auf dem Waldweg bleibt zurück. Die anderen machen weiter.

"Och nee, nicht schon wieder! Wie viele Stationen denn noch?"

"Es geht darum, dass die Jungs mal feststellen, dass sie auch irgendwas können, weil sie überall erzählt bekommen, dass sie nix können, dass sie schlecht in der Schule sind, Verbrecher. Wir fangen an, ihnen positive Gefühle zu geben. Es geht ja noch weiter hier die Runde."

"Ich schaffe heute 20!"
Super! 1, 2, 3, 4, 5 ..."

Schwer atmende Teenager drücken sich vom Boden ab. Hoch, runter, hoch, runter. Schweißflecken auf den Trainingsanzügen, rote Gesichter. Es ist Zeit für eine Abkühlung: Anjoggen für die nächste Station.

Die Schweinepfütze. Eine modrig schillernde Schlammlache im Wald. Die heißt Schweinepfütze.

"Weil da die Schweine drin baden und pissen und scheißen - Schweinepfütze."

Da sollen Dennis und die anderen mit den Händen rein, in die Schweinepfütze ...

"Ich fass da nicht rein – pervers.
"Kuck mal, da is reingepinkelt, jetzt sieht man’s."

Die Jungs stehen am Rande der Pfütze, andere drehen sich um und treten Laub in die Luft.

"Lauter Mädchen hier. Ich dachte, das wäre ein Jungscamp."

... und dann Liegestütze machen in der Schweinepfütze.

"dass die Jungs sich überwinden, auch den Kopf in Dreck zu stecken, nicht immer leicht machen sich. Dass sie auch mal sehen, dass es unangenehme Dinge im Leben zu erfüllen gibt, Pflichten."

Dreck verschmierte Hände werden ausgeschüttelt, die Nasen gerümpft. Nur Dennis setzt noch einen drauf.

"Du Ferkel!"

Dennis ist mit dem Hintern zuerst in die Schweinpfütze geplatscht. Das macht er jedes Mal.

"Wir sind ja auch hier auf dem Kragenhof und nicht draußen. Wir sind unter Jungs, da können wir das machen, machen, was wir wollen. "

Die Sau rauslassen – im Rahmen der Regeln. Die Gruppe macht sich auf in Richtung Kragenhof. Aus dem Gutshof angekommen stellen sie sich im Kreis aus und legen sich die Arme auf die Schultern: der Durchhaltekreis.

"Wir schaffen das, wir schaffen das, wir schaffen das!"

Für heute haben sie etwas geschafft, motiviert von den Trainern. Aber was wird passieren, wenn sie ins Leben zurückkehren?

"Ich würde mal sagen, wenn wir ne Quote von 10 bis 20 Prozent das umsetzen, also Hauptschulanschluss und Lehre, dann ist das ein gutes Mass."

Aber Jörg, der Trainer sagt auch, dass man über den Erfolg des Trainingscamps noch nicht viel sagen kann. Zwar gibt es positive Rückmeldungen von früheren Kragenhoflern, die jetzt eine Lehre angefangen haben oder den Schulabschluss nachmachen, aber weil das Camp erst vor einem Jahr gegründet worden ist, sind alle Prognosen vorläufig.
Noch eine Stunde bis zum Abendessen. Jetzt haben Dennis und Alex ein bisschen freie Zeit.

"Kommen se mal mit, mein Grab (...) das ist unten am links hinterm Fußballfeld hinterm Acker. Da müssen wir hier links."

Hinter dem Gutshaus hat sich jeder der Jungen ein Grab geschaufelt. Schlichte Holzkreuze ragen aus der Wiese, das Ganze sieht aus wie ein Soldatenfriedhof. Auf jedem der Kreuze steht der Name eines Kragenhof-Jungen. Nur Dennis Name steht auf zwei Gräbern.

"Ich hab zwei Gräber, weil ich zwei Mal hier war, ich bin nach zwei Monaten zurück in den Knast, hab dann ne neue Chance bekommen, ich hab was in mein Grab geschmissen, was ich nicht eingehalten hab, also einen Brief, wo ich mit Ziele drauf geschrieben habe, und die habe ich alle nicht eingehalten, dass ich keine Scheiße mehr bauen will, nicht mehr einbrechen, keine Schlägereien mehr, dass ich meine Mutter nicht mehr anlüge, das hab ich alles nicht eingehalten, ich bin hier überall eingebrochen, ich hab mich hier geschlagen, das Grab war Schrott, das hat keinen Wert mehr für mich gehabt (...) da ist mein altes (...) mein Name ist da ganz klein, weil das mein schlechtes Grab war. Ich hab’s ein Monat eingehalten, weil dadurch hab ich mehr Selbstbewusstsein gehabt, dass ich meine alte Vergangenheit begraben hab, und da hab ich halt einen Monat kein Scheiß gebaut. Und dann kam halt wieder mein Abkacker. Deine Vergangenheit stirbt, aber nicht du."

Dennis hat noch eine allerletzte Chance bekommen. Ein paar Meter weiter liegt sein zweites Grab.

"Also das ist mein Neues (..) ich hab wieder nen Zettel geschrieben, aber diesmal hab ich ne Hose, reingepackt, Pullovers, Mütze, was schlechte Vergangenheit hat (...) ich hab von Einbrüchen Hosen und so gehabt, und die habe ich da rein geschmissen, von A bis Z alles was geklaut war ..."

Alex hat noch kein Grab, erst nach einigen Wochen dürfen die Jungen symbolisch ihre Vergangenheit beerdigen. Aber er weiß schon, wo es hin soll: auf keinen Fall in die Mitte, lieber irgendwo an den Rand. Was wird er verbuddeln?

"Ich weiß nicht. Ich glaube eine Tüte, wo ich Gras auf der Wiese pflücke, und dass das symbolisch Drogen darstellen soll und, was weiß ich, irgendwas von Zuhause, was ich noch Geklautes hab (...) in zwei Tagen ist es soweit, dann kann ich mein Grab machen, ich muss noch überlegen, was ich da rein schmeiße. Ich find's ganz in Ordnung, man fühlt sich leichter, auch wenn’s nur symbolisch ist, aber man hat das Gefühl halt, dass man’s hinter sich gelassen hat."

Und vielleicht auch einen Schritt nach vorn gehen kann?

"Ich weiß nicht, das liegt auch zum Teil an meiner Mutter, ich muss das mit meiner Mutter in den Griff kriegen (...) Wenn ich hier bin und meine Mutter nicht, dann läuft nichts besser zu Hause. Am Ende hat man sich geändert, aber es hilft nichts, genauso geändert wie vorher Probleme."

Zurück im Gutshaus. Der Höhepunkt des Tages ist die Gruppensitzung. Lothar Kannenberg: tritt persönlich auf. Ein Mann Mitte Vierzig, drei tätowierte Punkte auf dem Handrücken, schwarze Kastenbrille, Boxernase. Kannenberg ist das Zentrum des Trainingscamps. Ein Mann mit einer Vergangenheit wie alle hier: Drogen, Kriminalität, eine verkorkste Geschichte. Bis er mit dem Boxen anfing und seine innere Balance fand. Nachdem der gelernte Metzger als Streetworker gearbeitet und ein Boxzentrum für delinquente Jugendliche gegründet hatte, kam letztes Jahr Gut Kragenhof dazu. Das ganze Konzept basiert auf seinem Leben; Kannenberg ist Kragenhof. Einige Tage war er nicht auf dem Gutshof, in der Zwischenzeit ist einiges passiert. Das ist meistens so, wenn Lothar Kannenberg weg ist. Jetzt muss die Gruppendisziplin wieder hergestellt werden.

Lothar Kannenberg betritt wortlos den Raum, sitzt und schweigt. Ein bisschen sieht er aus wie Marlon Brando in "Der Pate": Die Hände thronen auf den Armlehnen. Als er spricht, ist seine Stimme ist so leise, dass sie nur in der Stille zu hören ist. Manchmal unterstreicht er mit präzise kraftlosen Gesten seine Worte. Weghören ist nicht erlaubt.

"Was denn mit dir? Wenn du weiterschläfst, hau ich dich vom Stuhl."

Alex hat eine Lampe und ein Fenster zerschlagen, weil ihn jemand beim Telefonieren mit seiner Mutter gestört hat. Alle Spiegel aus dem Haus sind in der Fulda verschwunden. Und dann ist da noch etwas: Kanneberg wirft ein Päckchen in die Mitte des Kreises. Irgendetwas Weißes in einer Plastikfolie.

"Schimmel ist das, kommt bestimmt aus der Küche."

"Is Rattengift, das ziehen sich Leute in den Kopf. Da ist Strychnin drin, Strychnin."

Rattengift, verstecktes und gefundenes. Rattengift enthält Strychnin. Rattengift rauchen macht high. Wer das war? Keiner will etwas damit zu tun haben. Einer gerät ins Kreuzverhör.

"Ich hab nur gesagt, dass du der Einzige bist, der darauf reagiert hat. Du hast gesagt, du hast das mal genommen, und dann finde ich hier. Da geh ich davon aus, dass du das weiter machst. Ist doch klar."

Klar ist auch, dass es da noch ein paar andere Sachen gibt.

"Es geht doch nicht nur um die Tüte, es geht um den Einbruch, es geht um die Radios rausholen, das Zeug aus dem Lager klauen, es geht darum, wer im Zimmer war und mich beklaut hat, es geht darum, wer beim Bauern in der Scheune war und das Zeug rausgeholt hat, es geht darum, wer beim Bäcker drin war. Es geht nur um die Klauerei. Seit ihr doof oder was? Denkt ihr, ich bin bescheuert?"

Und was jetzt tun?

"Die Gruppe führen. Ihr seid die Alten. Kuck mal wie lange du da bist Dennis, du Dennis. Hier sitzen viele Neue, die alles abgucken, die hier natürlich nach den Alten kucken. Die Alten sollen die Vorbilder sein von den Neuen. Das ist das Thema. Was tun die Alten? Die bleiben im Bett liegen, die bauen Mist."

Zum ersten Mal an diesem Tag sitzt die Gruppe still. Fragende Augen, verlegene Augen, gesenkte Augen. Für heute nimmt die Schuld keiner auf sich, die Sitzung ist beendet.

"So, dann will ich euch mal erlösen."

Inzwischen ist es weit nach Mitternacht. Der Tag, sagt Lothar Kannenberg, war kein Tag wie jeder andere.

"Man darf nicht vergessen, das sind Jugendliche, die daran gewohnt sind einzubrechen, kein Sozialverhalten zu haben, deshalb sind die ja hier. Und so was verändert sich nicht von heute auf morgen, sondern wir wollen ja hier damit arbeiten."

Deshalb ist das Sportprogramm morgen Vormittag gestrichen, auf dem Plan steht jetzt Teil 2 der Sitzung. Wenn sich die Schuldigen nicht melden, wird eine Gruppenstrafe angeordnet werden. Wird einer die Verantwortung übernehmen?

"Ich denk mal nicht. Da hat keiner den Mut zu. Also zu sagen: ich bin bei dir eingebrochen, bei Lothar wurde ja eingebrochen. Aber das sagt keiner, da haben alle Angst, dass er die rausschmeißt, aber der schmeißt die nicht raus. Dann gibt’s Sanktionen und gut ist. Dann müssen wir alle nach Hermünden laufen. Das sind 43 Kilometer. Der Einzelne zählt hier nicht, das hat Lothar auch immer wieder gesagt. Wenn sich einer ausschließt aus der Gruppe, der zählt nicht, der ist für ihn nichts wert, der kann dann wieder gehen."

Es ist weit nach Mitternacht, Zeit ins Bett zu gehen. Morgen wird ein harter Tag werden.