Durs Grünbein: Aus der Traum (Kartei). Aufsätze und Notate
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
569 Seiten, 28 Euro
Facettenreiche Fußnoten eines Dichters
05:55 Minuten
Ein Buch das sich kaum rahmen lässt: In dem Essayband "Aus der Traum" erzählt Durs Grünbein von nächtlichen Träumen, von dichtenden und denkenden Kollegen – und vom anhaltenden Streit um sein untergegangenes Herkunftsland DDR.
"Aus der Traum", so heißt es umgangssprachlich, wenn einen die Realität wieder hat. Durs Grünbein nennt so sein neues Buch, eine Sammlung von Aufsätzen und Notaten, und reicht, in Klammern gesetzt, einen Begriff nach, der für Ordnung steht: Kartei. Zwischen diesen beiden Begriffen, zwischen Traum und Kartei, knistert es. So recht wollen sie nicht zueinander passen. Luftschlösser, die sich im Traum entwerfen lassen, und eine Fakten festhaltende Kartei schließen einander aus. Während wir uns im Traum im Grenzenlosen bewegen, wird mit Karteien zu ordnen gesucht.
Dichterdasein, Traum und Dichtung bildet die Trias, die Grünbeins Aufsatzsammlung zugrunde liegt. Sie bilden den Rahmen für ein Buch, das sich angesichts der verschiedenen Themen, denen sich der 1962 in Dresden geborene Autor zuwendet, eigentlich nicht rahmen lässt. Gegliedert ist es in fünf Kapitel.
Durch Zufall in die DDR hineingeboren
Das erste beginnt damit, dass sich der Autor in "Fußnote zu mir selbst" vorstellt – es versammelt darüber hinaus Traumprotokolle. Die Aufsätze des zweiten Kapitels kreisen um Grünbeins untergegangenes Herkunftsland, im dritten wendet er sich der Dichtung und den schreibenden Kollegen zu. Er präsentiert im vierten zwei philosophische Porträts – sie sind Descartes und Pascal gewidmet –, um sich schließlich im abschließenden fünften Teil Themen zuzuwenden, die sich mit "Verschiedenes" überschreiben ließen.
Grünbein wurde durch Zufall in die DDR hineingeboren. Wer in diesem Land aufwuchs, musste ein geübter Träumer sein, denn die Mauer ließ sich nur so sicher überwinden. Wie er in ihrem Schatten aufwuchs und zu dem Autor wurde, der er heute ist, darüber erzählt er in Texten wie "Aus der Traum" oder "Unfreiheit. Eine Rede". Man erfährt so auch, wie es dazu kam, dass sein erster Lyrikband "grauzone morgens" ein Jahr vor dem Mauerfall nur im Frankfurter Suhrkamp Verlag erschien, aber nicht in der DDR.
Leichentuch für ein untergegangenes Land
Mit kalter Nadel näht Grünbein in diesen Essays am Leichentuch für das untergegangene Land und manchmal ist sein Ton, wenn er über diejenigen spricht, die von der "Wende" überrascht und aus der Bahn geworfen wurden – etwa in "Unfreiheit" – eine Spur zu selbstgerecht.
Anders begegnet man dem Autor in "Die süße Krankheit Dresden". In diesem Bericht über seinen 2018 mit Uwe Tellkamp geführten Dialog ist er besonnener, milder und verständnisvoller, was angesichts des Eifers, mit dem sein Gegenüber meint, die Meinungsfreiheit retten zu müssen, wohltuend anders und überzeugender wirkt.
Kluger Kenner der Werke seiner Kollegen
Grünbein folgt man gern und besonders lesenswert sind die Aufsätze über Autoren wie Johannes Bobrowski, Paul Celan, Imre Kertész oder Ezra Pound, um nur einige zu nennen. Da erweist er sich als kluger Kenner der Werke seiner Kollegen, wobei es ihm durch das Offenlegen neuer Facetten gelingt, den Blick auf das Werk eines Autors zu schärfen, etwa, wenn er in "Geschichtsland Schatten" zu Bobrowski anmerkt, in dessen "Gedichten kommt einem die Gestalt des reumütigen Landsers entgegen." Das ist zugespitzt formuliert, aber weist als Frage in eine Richtung.
Durs Grünbein hat sich entschieden, seine Aufsatzsammlung beinahe ohne Anmerkungen erscheinen lassen. Es gibt keine Hinweise dazu, wann die Texte entstanden sind und aus welchem Anlass beispielsweise die Reden gehalten wurden. Diese Entscheidung ist nicht zu verstehen, denn dadurch werden die Texte ihrer Aura beraubt. Zu zeitlosen Dokumenten werden sie so noch lange nicht. Zeitlose Bedeutung muss ihnen eingeschrieben sein.