Durs Grünbein: "Zündkerzen"

Unsere eigene Tiernatur

Cover des Buches Zündkerzen vor rotem Blumenfeld.
"Zündkerzen": politisch, ohne politisch zu sein. © Suhrkamp / unsplash/Javier Cañada
Von Claudia Kramatschek |
Das Leben, halb vorbei: Zeit für eine Bestandsaufnahme in 83 Gedichten. Der Großteil: Epiphanien, die scheinbar Alltägliches beschreiben, mit dem Blick aufs große Ganze. Ein subversiver Gedichtband von Durs Grünbein.
"Gigantische Agenda, dieses Leben – // Das so ganz anders kam und dann doch so." Mit diesen Zeilen beginnt der neue Gedichtband von Durs Grünbein – und es sind programmatische Zeilen. Denn mit "Zündkerzen", so der anspielungsreiche Titel des Bandes, hält hier einer einerseits inne und liefert mit leiser Melancholie eine Art Bestandsaufnahme der "Hälfte des Lebens" in "Zwölftonmusik".
Und doch ist da auch ein Witz zu vernehmen, eine deutlich neue Freiheit und Gelassenheit des Lyrikers im Umgang mit Versen und Motiven, die alles Säulenheilige abwirft, das man Durs Grünbein (zu seinem eigenen Unglück womöglich) allzu gern und allzu rasch immer wieder anzudichten trachtet.

Mal lang, mal kurz

83 Gedichte versammelt der Band, drei von ihnen sind veritable Prosapoeme – mit Betonung auf Prosa. Die Varianz der Form ist dabei Kennzeichen des Bandes: Die Gedichte kommen in unterschiedlichster Form daher, mal mit langen, mal mit kurzen Zeilen. Mal sind es Sonette – dann stets ironisch gebrochen durch bewusst gesetzte Regelverstösse und ein Parlando, das die drohende Strenge stets augenzwinkernd konterkariert.
Fast immer ist der Vers ein ungebundener und damit so haltlos wie das Leben, das hier vor allem unter dem Diktum der Vergänglichkeit figuriert. Viele der Gedichte sind insofern Epiphanien, die scheinbar Alltägliches beschreiben, darin aber das große Ganze aufleuchten lassen: Der Blick auf ein Dekolleté führt dem lyrischen Ich "Verzicht und Verlust" und damit die eigene Endlichkeit vor Augen – gleiches gilt für das zerdrückte Obst im Gemüseladen, das niemand mehr haben will.

Eine veritable Freilichtmalerei mit Worten

Es geht um Liebe, aber auch durch Dörfer mit hoher Arbeitslosigkeit, wo schon ein Lächeln Grund zum Staunen ist; in "Transit" liefern mit totem Tierfleisch zwischen Norden und Süden rasende Laster einen bürokratischen Tod, "den man nicht sieht"; in Rom geistern Afrikaner durch den Park – "Die Ausgeschlossenen" heißt dieses Poem. Überhaupt Rom: Erneut besingt Durs Grünbein, der in der italienischen Kapitale schon lange eine zweite Heimat gefunden hat, "das römische Licht, das uns hält".
Doch auch hier hält eine neue Note Einzug: In "Photopoem" – einem der beiden Langgedichte, die wie zwei Standbeine den Band zentrieren – liefert Grünbein zwar den Inbegriff der reinen Anschauung dieser südlichen Metropole, eine veritable Freilichtmalerei mit Worten. Doch auch in der Ewigen Stadt ist nunmehr "Alles verwandelt: ... Auch in Rom galt: Mit einem Lidschlag Konnte die Welt eine andere sein."

Untergründige Subversivität

Durs Grünbein nimmt es gelassen – und entwirft im Zyklus "Pinien" ein wunderbar leichtfüßiges "Verbarium", das die Pinie mittels Lautmalerei lexikalisch in vielerlei Richtungen ausbuchstabiert und sie so zwischen mathematischem Pi und der politischen Praxis der Persistenz zum Tanzen bringt. Nicht nur in diesem Verbarium, in allen Texten waltet untergründige Subversivität: Durs Grünbeins "Zündkerzen" sind nämlich letztlich politisch, ohne politisch zu sein. Wem sie den Spiegel vorhalten, ist der Mensch als ‚zoon politikon’. Das Antlitz, in das wir starren, ist: das unserer eigenen Tiernatur.

Durs Grünbein: "Zündkerzen"
Gedichte
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
144 Seiten, 24,00 EUR

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