Duzen statt Siezen
Wer nicht aufpasst, wird nicht nur im Internet, sondern auch anderswo konsequent geduzt: Haus des Gastes in Oberstaufen (2011). © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Tyrannei der Intimität
05:19 Minuten
Jedes Mal, wenn eine neue Social Media-Plattform an den Start geht, werden Fragen der Netiquette diskutiert. Aktuell wird wieder über das Duzen debattiert: Darf man das, bei wildfremden Menschen? Arnd Pollmann plädiert für mehr Distanz.
Dieter Bohlen, der Pop-Titan aus Tötensen, geriet einmal in eine Verkehrskontrolle. Dabei soll er sich mehrfach in den Schritt gefasst und den Polizisten geduzt haben. Das Gericht sprach ihn vom Vorwurf der Beleidigung frei: Es sei bekannt, dass der TV-Star alles und jeden duze. Das sei zwar „unhöflich“, aber es fehle der „ehrverletzende Inhalt“. Die skurrile Logik dieses Urteils: Wenn Duzen „normal“ wird und alle gleich plump adressiert werden, braucht sich keiner mehr belästigt fühlen. Stimmt das?
Ob auf Twitter oder Instagram, ob bei Ikea oder bei der Deutschen Bahn, ob an linken Hochschulen oder auf Deutschlandfunk Nova: Das „Du“ ist nicht nur eine profitable Masche, um sich an die Kundschaft heranzuschleimen. Es gilt als progressiv, weil es zum Abbau von Formalitäten, Hierarchien, Ungleichheiten beiträgt. Wer duzt, ist juvenil, „locker“, nahbar und egalitär. Am liebsten würde man sich mit „Digga“ oder „Alta“ anreden. Wer hingegen auf das Siezen besteht, gilt als gestrig, elitär und scheintot.
Früher wurde von oben herab geduzt
Dies mag dem westlich-kapitalistischen Zeitgeist geschuldet sein. Wer hip und weltoffen ist, hält es mit der englischen Sprache, die mutmaßlich ja auch keinen Unterschied bei der formalen Anrede macht. Aber das ist ein Irrtum. Denn das englische „You“ entspricht grammatikalisch der zweiten Person Plural. Man ist auf Englisch also grundsätzlich höflich und gerade nicht bohlenhaft plump.
Ein zweiter Irrtum betrifft die mutmaßliche Gleichheit, die beim Duzen entsteht. Historisch ist es gerade umgekehrt. Früher wurde von oben herab geduzt; die Herrschaften duzten das Hauspersonal, Fabrikchefs ihre Untergebenen. Und heute duzen überhebliche Inländer ihre migrantischen Putzhilfen. Betrachtet man es so, geht es beim scheinbar progressiven Duzen um eine Gleichheit der Knechtschaft.
Um nicht missverstanden zu werden: In Familien, Partnerschaften, unter Freunden oder in Vereinen ist das Duzen empfehlenswert. Kaum jemand dürfte den Zeiten nachtrauern, in denen sich Eheleute oder auch Studierende noch gesiezt haben. Auch die Philosophie weiß um die biografisch existenzielle Bedeutung der 2. Person Singular: „Der Mensch wird am Du zum Ich“, heißt es etwa bei Martin Buber. Doch worum es an dieser Stelle geht, ist gerade nicht das intime Duzen unter Vertrauten, sondern das völlig unaufgeforderte Duzen unter Unvertrauten.
Bei der dialogischen Anbahnung jeder Form von Intimität gilt: Der Verkehr muss „einvernehmlich“ sein. Die abrupte Nähe, für die ein unerwartetes Duzen sorgt, sollte anderen nicht aufgedrängt werden. Durch Überrumpelung entsteht lediglich eine als zudringlich erlebte Gleichheit mangelnder Distanz. Und es ist bezeichnend, dass sich laut Meinungsumfragen eine große Mehrheit der Befragten – und Frauen deutlich mehr noch als Männer – belästigt fühlen.
Mit dem sensiblen Zeitdiagnostiker Theodor W. Adorno lässt sich diese Kritik noch zuspitzen. Der „pseudodemokratische Abbau (…) altmodischer Höflichkeit“, so Adorno, bewirke nicht etwa Humanität auf gleicher Augenhöhe, sondern eine ganz neue unzivilisierte „Rohheit“. „Die Entfremdung“ so Adorno weiter, „erweist sich an den Menschen gerade daran, daß die Distanzen fortfallen“, und zwar durch ein taktloses Zuviel an übergriffiger Nähe. Oder, um den heute auf Twitter üblichen Jargon der Eifrigkeit zu simulieren: „Duzen ist faschistisch!“
Unverschämtheiten und offener Hass
Das ist natürlich übertrieben, aber wer sich heute in den sozialen Medien umtut, spürt sehr rasch, wie die oberflächliche Informalität dort gerade nicht zu egalitärer Wertschätzung, sondern zu mannigfaltiger Unverschämtheit bis hin zu offenem Hass verführt.
Schon Adorno ahnte, dass unser öffentliches Leben, wenn es „zivil“ zugehen soll, nicht nur eine Frage strafrechtlichen Wohlverhaltens ist, sondern wesentlich auch eine Frage von Stil und Takt. Das Festhalten am „Sie“ jedenfalls ist ein Respekt der „mittleren Entfernung“. Und so paradox es klingen mag: Erst im Zuge einer derart distanzierten Annäherung wird ein wahrhaft ziviles Miteinander möglich.