Dževad Karahasan wird 70

Blick für das Schöne im Schrecklichen

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Der bosnische Autor Dzevad Karahasan
Dževad Karahasan wurde für sein Engagement zu Toleranz und Verständigung 2020 mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt ausgezeichnet. Manchen gilt er auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis. © picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst
Von Tobias Wenzel |
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Der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan hat die Belagerung Sarajevos miterlebt. Von ihr handelt auch sein neuer Roman, den er erst jetzt schreiben konnte - "ohne Angst, verrückt zu werden". Heute feiert Karahasan seinen 70. Geburtstag.
Er glaube, dass die Welt voller Geister ist, sagte der bosnische Autor Dževad Karahasan einmal gewohnt kulturkritisch auf einem muslimischen Friedhof, auf dem er selbst bestattet werden möchte. Doch wir seien nicht mehr fähig, um mit ihnen zu kommunizieren. Dabei blickte er auf das 200 Meter tiefer gelegene Sarajevo, seinen „Schicksalsort“.
Die Stadt, die nicht nur Orient und Okzident auf friedliche und bereichernde Weise vereinte, sondern auch Bosniaken, Serben, Kroaten, Muslime, Christen, Juden und Nichtgläubige. Bis 1992 bosnische Serben Sarajevo belagerten, dabei tausendfach mordeten und die von Karahasan so geliebte National- und Universitätsbibliothek in Brand setzten.
Während des Bürgerkriegs zerstörte Nationalbibliothek in Sarajevo, Innenansicht mit großen Trümmerteilen, die am Boden liegen
Während des Bürgerkriegs wurde die Nationalbibliothek in Sarajevo zerstört.© imago images / Jürgen Eis

Roman über die Gewalt des Krieges

Das Schöne im Schrecklichen, für Dževad Karahasan ist es so notwendig und selbstverständlich wie das Traurige im Schönen: „Ich glaube, auch im Paradies müsste es eine Ecke geben, in der Melancholiker sitzen, rauchen, traurige Geschichten erzählen, ihre Sehnsüchte pflegen und ihre Freude daran, traurig zu sein.“

Dževad Karahasan: "Einübung ins Schweben"
Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Griesshaber
Suhrkamp, Berlin 2023
304 Seiten, 25 Euro

Während Karahasan der Belagerung nach einiger Zeit entkam und im Ausland lebte, fühlt sich Peter Hurd, brillanter Altertumsforscher und Hauptfigur in Karahasans neuem Roman „Einübung ins Schweben“, angezogen vom Krieg, glaubt, er könne so sein wirkliches Selbst kennenlernen.
Hurd ist gerade zufällig in Sarajevo, als die Belagerung der Stadt beginnt. Er beschließt zu bleiben, um durch die Grenzerfahrung Krieg seinem Ich auf den Grund zu gehen und einen intellektuellen Schwebezustand zu erreichen. Gemeinsam mit seinem bosnischen Übersetzer, dem Ich-Erzähler des Romans, wird Hurd ein halbes Jahr Zeuge brutaler Gewalt.
Nach einem Angriff zieht Rauch eines brennenden Gebäudes über die Stadt Sarajevo
35.000 Gebäude wurden bei der Belagerung von Sarajevo zerstört, rund 11.000 Menschen starben.© picture alliance / AP Images / Tanjug / H. Delich
Karahasan beschreibt hier die tagtägliche Dramatik des Kriegs viel expliziter als in seinem essayistischen „Tagebuch der Übersiedlung“, das noch während der Belagerung entstand.
„Hätte ich damals versucht, die Grausamkeiten des Krieges, das Schreckliche, das Unerträgliche zu notieren, wäre ich sicherlich am Ende der Belagerung kein normaler Mensch mehr gewesen." Denn das hatte für ihn bedeutet, zum zweiten Mal etwas Schreckliches zu erleben. "Jetzt, über 30 Jahre nach dem Ende des Krieges, kann ich darüber schreiben ohne Angst, verrückt zu werden.“

Vom Humanisten zum Unmenschen

Die Hauptfigur im Roman, Peter Hurd, macht die Belagerung tatsächlich verrückt. Anstatt wie geplant zu einem Schwebezustand tiefer Selbsterkenntnis zu gelangen, dämmert er schließlich im Rausch und Wahn vor sich hin. Das alles, weil er meinte, eine grenzenlose, amoralische Freiheit ausleben zu müssen, inklusive Drogenkonsum.
Am Ende schießt er sogar von außen auf die belagerte Stadt und wird endgültig vom Humanisten zum Unmenschen, spürt trotz Drogenrausch das Zucken seinen Hand beim Schuss. Karahasan erläutert: „Der Körper denkt und erkennt. Stellen Sie sich vor, mit einem Menschen zu tanzen, der nur mit dem Kopf denkt, nicht mit den Beinen, mit dem Körper. Es wäre eine Katastrophe.“

Leben ohne Handy

Der Körper als Quelle der Erkenntnis ist ein Schlüsselgedanke im Werk Karahasans. Seine Prosafiguren wirken wie aus der Zeit gefallen, meiden moderne, abhängig machende Technik. Der Autor besitzt kein Handy. Wie Peter Hurd sehnt sich der Melancholiker Karahasan zurück ins antike Griechenland und leidet am Zustand der heutigen Welt. Er wäre viel lieber ein Apfelbaum oder Fisch, sagt der Autor:
"Ein einziges Mal in meinem Leben war ich wirklich froh, ein Mensch zu sein: als ich im Fernsehen sah, wie in München Tausende von Menschen kamen, um für Flüchtlinge Nahrungsmittel, Kleidung zu bringen. Willkommen! Da dachte ich, fühlte ich: Es ist doch gut, ein Mensch zu sein.“

Wie ein moderner Sokrates

Karahasan ist der Dialog heilig, Platon ist entsprechend sein Lieblingsphilosoph. Er selbst wirkt wie ein moderner Sokrates, weise und immer für eine Überraschung gut. Etwa, wenn er erzählt, dass er während der Belagerung Sarajevos auch viel gelacht und ihn genau das am Leben erhalten habe.
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