E-Autos auf renaturierten Halden

Von Britta Fecke |
In den kommenden Jahren wird der Bergbau aus dem Ruhrgebiet verschwinden. Um das Revier fit für die Zukunft zu machen, wird es nun zu einer Art Freiluftlabor umgebaut: Bald sollen hier massenhaft E-Autos fahren und Know-how für Erneuerbare Energien in alle Welt verkauft werden.
Mit 12 Metern pro Sekunde rattert der Korb in die Tiefe, hin und wieder blitzt Licht in das Dunkel des Berges, wenn der Förderkorb kurz an einer Sohle vorbei rast. Auf Sohle 7, rund 1200 Meter unter der Erdoberfläche, wartet Thomas Vollmer auf den Korb, der ihn wieder ans Licht bringt:

In fünf Jahren wartet hier keiner mehr auf das Licht, dann ist Schicht im Schacht, auch auf Prosper Haniel in Bottrop - eine 150jährige Tradition wird endgültig zur Geschichte. Für die Bergmänner im Revier kommt das Ende der Steinkohle zwar nicht überraschend, aber für einige vielleicht doch zu früh?

Thomas Vollmer: "Och ich bin noch jung, ich bin jetzt 42 ... dann geh ich in Vorruhestand.. Tja weiter gehts, wat willste machen? "

Der Kumpel neben ihm weiß genau, was er machen will:

"Essen, trinken, schlafen... Mir gefällt dat, ich werd mir in Ruhe setzten!"

Nach 2018 fahren in Bottrop keine Bergmänner mehr ein, dann kommen sie entweder in die sogenannte Anpassung, eine Art Vorruhestand oder sie gehen z.B. in die Schweiz. Beim Bau des Gotthard-Basis-Tunnels ist ihre Erfahrung gefragt, im Pott nicht mehr. Das große Zechensterben gehört auch schon zur jüngeren Geschichte, jetzt wird hier nur noch auf zwei Zechen gefördert: auf der Auguste Viktoria in Marl und auf Prosper Haniel in Bottrop. RAG-Sprecher Frank Kremer:

"Der Prozess ist ja einer, den wir aufgrund der Besonderheiten hier mit nem ausreichenden Vorlauf planen konnten, das heißt, es ist was Besonderes einen ganzen Industriezweig planmäßig auslaufen zu lassen. Das gibt ihnen aber auch die Möglichkeit zu überlegen, was mit den Mitarbeitern passieren soll. Deshalb vermitteln wir schon seit Jahren unsere Mitarbeiter von Arbeit in Arbeit."

Die RAG muss sich neben den Mitarbeitern auch noch um die alten Anlagen kümmern. Was passiert mit einem untertägigen Streckennetz von rund 140 Kilometern, allein unter Bottrop? Der ganze Stadtbereich ist untertunnelt, durchlöchert wie ein Schweizer Käse!

Neue Technologie in alten Schächten
Doch die Pflege der Schächte, Flöze und Stollen ist nicht nur eine Aufgabe, sondern auch eine Chance. Und so sucht die RAG gemeinsam mit der Universität Duisburg-Essen und der Ruhr-Universität Bochum nach neuen Nutzungsmöglichkeiten für die alte Infrastruktur. Eine Idee: Wo früher die fossilen Energieträger aus dem Berg gehauen wurden, soll in Zukunft der Strom von Erneuerbaren Energieträgern gespeichert werden. Neue Technologien in alten Stollen. Der überschüssige Strom, der z.B. aus windumtosten Anlagen auf dem Meer kommen könnte, wird mit Hilfe von Pumpspeicherkraftwerken im Ruhrgebiet zwischengespeichert. Walter Eilert, vom RAG-Bereich Erneuerbar Energien erklärt wie:

""Das Wasser wird in einem Oberbecken gespeichert und aus diesem Becken läuft das Wasser über Rohrleitungen in die Tiefe. Am Ende der Rohrleitung stehen dann die Turbinen und über diese Turbinen wird dann der Strom erzeugt. Das Wasser wird in einem untertägigen Becken wieder aufgefangen und da so lange zwischenspeichert, bis man das Wasser über Pumpen wieder zur Tagesoberfläche fördert."

Seit dem geplanten Atomausstieg in Deutschland wird heiß diskutiert, wie die schwankenden Strommengen aus den erneuerbaren Energiequellen, aus Wind- oder Sonnenkraft gespeichert werden könnten. Das Problem: So viele Bergseen, wie man für die Zwischenspeicherung bräuchte, hat Deutschland gar nicht.

Deshalb wurde schon über eine Kooperation mit Norwegen nachgedacht. Doch warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah - wenn auch tief?

Und so versucht sich die einst als Klimakiller verschriene Energiebranche schon länger an den Möglichkeiten der Erneuerbaren Energiequellen. Zwischenspeicherung ist nur eine Idee, Geothermie eine weitere. Walter Eilert:
"Ein größeres Nahwärmesystem haben wir mit den Stadtwerken Bochum aufgebaut am Standort Robert Mühser, wo ein großes Schulzentrum, ein Hallenbad, die große Feuerwache versorgt werden. Und es sieht so aus, als wenn der eine oder andere Anlieger sich für dieses Wärmenetz interessiert und auch angeschlossen wird."

Auch nach 2018 wird an vielen Standorten weiter Grubenwasser gefördert, das Wasser hat eine Temperatur von mehr als 20 Grad Celsius. Umweltschützer sind begeistert. Statt CO2-haltiger Steinkohle wird im Ruhrgebiet nun nur noch klimaneutrale Energie aus der Tiefe geholt. Die RAG denkt aber bei der Projektentwicklung nicht nur an den Klimaschutz, sondern hofft auch auf die internationale Nachfrage. Frank Kremer:

"...weltweit gibt es eine Menge Minen, Bergwerke, die sich theoretisch und auch praktisch dafür eignen würden, das, was wir hier jetzt erstmals einzigartig entwickeln, auch umzusetzen. Das hier könnte tatsächlich wieder ein Exportschlager werden!"

Exportschlager! Lange Zeit waren das Kohle und Stahl, jetzt sind es Ideen. Das Ruhrgebiet auf dem Weg von der Stahl- zur Ideenschmiede. Das könnte auch NRW-Wirtschafsminister Garrelt Duin gefallen, er sieht das Revier an der Ruhr auf einem guten Weg, es braucht allerdings noch:

"Ein anderes Selbstbewusstsein. Es ist in Baden-Württemberg oder Bayern nicht alles besser, aber die haben es geschafft ihr Image anders aufzustellen. Laptop und Lederhose in Bayern - das haben wir verstanden. Und die Realität im Ruhrgebiet ist auch viel moderner als das Image."

....und auch viel grüner als so manch einer glaubt: Die Halden sind inzwischen bepflanzt, über Ihnen kreist der Bussard und im Norden steht der Wald zum Teil unter Naturschutz. Das Ruhrtal bei Bochum ist so idyllisch, der Baldeneysee in Essen so schick, dass keiner mehr an Schlacke, Koks und Maloche denkt.

Als die Kohle ging, kam nicht mehr viel
Der Himmel über der Ruhr ist schon lange wieder blau, dennoch ist die Luft mancherorts dick, besonders im Norden des Ruhrgebiets. Dort verwalten Städte und Kommunen in erster Linie ihre Vergangenheit. Denn als die Kohle ging, kam nicht mehr viel nach. Was früher Arbeitsplatz war, ist jetzt Industriedenkmal.

Die Arbeitslosenquote liegt z.B. in Marl, einer Stadt am nördlichen Rand des Reviers, bei rund 12 Prozent. Die Stadt ist mit 283 Millionen komplett verschuldet. In zwei Jahren schließt hier der letzte Schacht auf Auguste Victoria und mit ihm gehen tausende Arbeits- und Ausbildungsplätze. Der Marler Bürgermeister Werner Arndt bringt es auf den Punkt.

"Ohne Arbeit ist alles nichts!"

Das Ruhrgebiet sucht seit dem Niedergang der Montanindustrie und dem Ende der Steinkohle nach neuen Wegen. Einige Sackgassen wurden bei dieser Suche nach Arbeitsplätzen schon beschritten: die Ansiedlung anderer Branchen, wie des Elektronikhersteller Nokia in Bochum, verschlang vor allem 60 Millionen Euro Unterstützung vom Land, die Subventionen sind weg, die Arbeitsplätze auch.

...und dann war da auch noch Opel. Ein paar Jahrzehnte konnte der Automobilkonzern in Bochum die schwindenden Arbeitsplätze aus dem Bergbau auffangen, in drei Jahren stehen aber auch hier die Bänder für immer still.

Die Ansiedlung von namhaften Großkonzernen sollte die Arbeitsplätze unter Tage ersetzen. Ein Irrweg oder zumindest keine dauerhafte Lösung. Im Wirtschaftministerium in Düsseldorf glaubt Minister Garrelt Duin deshalb:

"...dass ein sehr viel kleinteiliger Ansatz erfolgsversprechend ist. Wenn man sich Dortmund anguckt, da ist man weg von den alten Industriearbeitsplätzen, es ist inzwischen die Stadt mit mehr als 500 000 Einwohnern, die in Deutschland den größten Anteil an Dienstleistungsarbeitsplätzen hat."

Die Situation in Bochum ist ähnlich. Wenn bei Opel kein Astra mehr vom Band kommt, geht zwar der größte industrielle Arbeitgeber der Stadt, aber mit rund 6000 Angestellten sind schon lange viel mehr Menschen an der Ruhr-Universität beschäftigt, als bei Opel je geschraubt haben. Auch die Narbe von Nokia verheilt langsam. Auf dem ehemaligen Firmengelände hat sich ein renommiertes Unternehmen für medizinische Produkte angesiedelt. Garrelt Duin:

"...und in diese Richtung, denk ich, wird sich auch das nördliche Ruhrgebiet entwickeln müssen. Es wird nicht mehr nur um Schornsteine gehen und großflächige industrielle Produktion."

In Bottrop kann diese Entwicklung in Echtzeit beobachtet werden. In fünf Jahren ist Schicht im Schacht auf Prosper Haniel. Die Stadt nimmt endgültig Abschied vom Bergbau, Wo früher Schlacken und Abraum geschüttet wurden, entstehen vielleicht bald Naherholungsgebiete und Speicherseen. Der Himmel ist blau über der Ruhr, doch sind die Aussichten dabei auch rosig? Wer soll sie ersetzten, die vielen verlorenen Arbeitsplätze der Schwerindustrie? Garrelt Duin:

"Wir haben verschiedene Initiativen auf den Weg gebracht. In Bottrop entwickelt sich etwas unter dem Titel Innovation City, wo wir versuchen, gerade das nördliche Ruhrgebiet bei der jetzt anstehenden Revolution hin zu Erneuerbaren Energien, zu unterstützen. Das Ruhrgebiet war ganz weit vorn, als es um Stahl und Kohle ging. Jetzt hat es wieder eine Chance, die es ergreifen muss."

"Blauer Himmel - grüne Stadt" lautete das Motto des Initiativkreises Ruhr. Und die Stadt Bottrop hat den Ruhrgebietswettbewerb gewonnen. Nun ist sie Modellstadt für den Klimaschutz und soll demonstrieren, wie ein Industriestandort zur Niedrigenergiezone werden kann.

Dabei zogen Wirtschaft, Politik und die Wissenschaft an einem Strang. Es ist auch in Bottrop wie auf dem Bau: Man muss arbeiten mit dem, was da ist. Zum Beispiel mit Abraumhalden, davon hat der Zechenstandort genug. Wie man das Zeugnis vergangener Schwerindustrie, wie man aus einer Renaturierungsmaßnahme ein zukunftsfähiges Energieprojekt macht, erklärt Rüdiger Schumann, Marketingleiter der InnovationCity Bottrop, mit Blick auf die Halde:

"Bei dem Projekt Schöttelheide geht es um eine Studie, um die Speicherung von Erdwärme. Da werden Schläuche in der Halde verbaut und in diesen Schläuchen zirkuliert Wasser. Und das Prinzip ist einfach, dass im Sommer dieses Wasser aufgeheizt wird, um dann in den Wintermonaten diese Wärme über eine Wärmetauscher wieder abzugeben."

Mit der so gespeicherten Sonnenkraft sollen dann naheliegende Wohngebiete versorgt werden. Damit an der Ruhr der Umbau von der fossilen Energiegewinnung zur Nutzung der Erneuerbaren nicht nur auf begrünten Halden funktioniert, sondern auch im auf dem Mehrfamilienhaus, hat die Stadt Bottrop einen Solaratlas erstellt.

Wo sich Solaranlagen lohnen und die Einstrahlung perfekt ist, weiß auch das mittelständische Unternehmen Technobox. Es nutzt die Energie der Bottroper Sonne zur Metallverarbeitung, zum Schweißen, Drehen und Fräsen. "Sonne schweißt Stahl" lautet der wortmalerische Slogan der Firma. Ulrich Kaak von Technobox:

"Wir haben die Fertigungshalle mit Photovoltaikmodulen belegt. Wir produzieren dort im Jahr ca. 60.000 Kilowattstunden und haben für die Fertigung einen Verbrauch von ca. 40.000 Kilowattstunden, das heißt, wir produzieren mehr Strom, als wir verbrauchen."

Dieser Stromüberschuss wird dann ins öffentliche Netzt eingespeist, wo er anderen Haushalten und Betrieben zur Verfügung steht. Und selbst wenn der Bottroper Himmel trübe ist, bleibt das Unternehmen seiner Philosophie treu. Ulrich Kaak:

"Wenn die Sonne nicht scheint und wir haben den kontinuierlichen Stromverbrauch, dann beziehen wir Strom aus dem Netz. Und dabei nehmen wir einen Versorger, der zertifizierten Naturstrom anbietet, so dass die gesamte Produktion mit Ökostrom funktioniert!"

Es ist vor allem die Initiative und auch der Mut dieser Mittelständler, auf den das Revier bauen kann. Und am Bottroper Beispiel wird deutlich, dass es die eine Lösung für das Ruhrgebiet nicht geben wird, der ökologische Strukturwandel ist ein kleinteiliges Puzzelspiel, das wohl nur fertig wird, wenn es die Region schafft, viele Unternehmen vom Format der Technobox anzusiedeln. Um all die Arbeitsplätze aus Bergbau, Stahl- und Chemieindustrie zu ersetzen, bräuchte es davon sehr viele! Garrelt Duin:

"Ich glaube, dass Politik generell jahrzehntelang den Fehler gemacht hat, sich auf die großen Konzerne zu konzentrieren und darüber hinaus ist nicht geguckt worden, was gibt es an mittelständischer Struktur dahinter? Das hat sich aber nun geändert."

Geändert hat sich auch die ökologische Situation zwischen Lippe und Ruhr, deutlich sichtbar bei der Gewässerqualität. Viele Flüsse haben sich von der Kloake der Großindustrie wieder zur Kinderstube für empfindliche Flusskrebse entwickelt. Und das alte Kohlerevier will auch weiterhin in Sachen Umweltschutz Maßstäbe setzten, mit Renaturierungsmaßnahmen kennt man sich hier schließlich aus.

Chancen der E-Mobilität im Revier
Auch wenn der Kohlenstaub schon lange nicht mehr die Sonne verdunkelt oder die Wäsche verdreckt, will man in Bottrop und Essen weiter die Emissionen senken. Aus den Schloten kommen bald keine mehr, aber aus Lastern und PKW. Deshalb erforschen im Revier mehrere Verkehrsverbünde, im Schulterschluss mit den Wissenschaftlern der Universität Duisburg-Essen, die Chancen der Elektromobilität. Auch Bottrop baut mit einer Flotte von 30 Elektroautos das Car-Sharing-Angebot aus. Ladesäulen sind über das Stadtgebiet von Essen und Bottrop verstreut. Dörthe Hoffman von der Wohnungsgesellschaft Vivawest:

"Wir haben inzwischen 150 Nutzer, die sich eingeschrieben haben."

Andreas Morisse ist einer von ihnen, er hat sich Anfang des Jahres registrieren lassen. Will er umsteigen auf klimaschonende Leihfahrzeuge?

"Wenn die Versorgung so ist, dass ich problemlos an ein Auto komme, wenn in der Siedlung eine Station ist, dann ist das eine Alternative. Dann würd ich mir das überlegen."

Dieses Projekt, kurz Ruhrauto genannt, wird mit 1,8 Millionen Euro vom Bundesverkehrsministerium unterstützt. Das Revier fährt voran, die Ergebnisse sollen die Elektromobilität im ganzen Land antreiben. Und so ist das Ruhrgebiet mit seinen vielen Umbrüchen und Baustellen für Politik und Forschung so etwas wie ein Freiluftlabor: Allerdings sind diese "Laborbedingungen" am nördlichen Rand des Ruhrgebietes erheblich schlechter als im Herzen des Reviers. Das weiß keiner so gut wie der Marler Bürgermeister Werner Arndt, denn auch wenn der Himmel über Marl wieder blau ist:

"...es gibt einige Krisenwölkchen am Himmel, aber wir sind frohen Mutes und stecken den Kopf nicht in den..."

Sand ist ein gutes Stichwort, an dem die Situation der Stadt deutlich wird. Vor dem Rathaus, einem Beton-Komplex aus der Zeit, da Marl noch ein aufstrebender Industriestandort war, steht ein Brunnen. Der ist genauso in die Jahre gekommen wie die ganze Anlage, und vor allem ist er trocken. Geld für die Reparatur dieses undichten Rathausbrunnens kann die Stadt nicht aufbringen. Aber Werner Arndt blickt dennoch zuversichtlich nickend aus dem zweiten Stock auf das gekachelte Becken:

"...es gibt schon erste Ideen, ihn vielleicht mit Sand zu befüllen und vielleicht ein Kinderparadies daraus zu machen."

Man kann den Menschen im Revier vielleicht einen eigenwilligen Umgang mit der Sprache nachsagen, aber schlechtgeredet wird hier nichts. Pessimismus? Fehlanzeige. Pragmatismus trifft es schon eher. Doch bei allem Zweckoptimismus, Schönreden will Werner Arndt die Lage der Stadt nicht. Wenn in drei Jahren die Zeche Auguste Victoria schließt und die Kaue nur noch für Konzerte genutzt wird, ist zwar ein weiterer Kulturraum gewonnen, aber 3700 Arbeitsplätze sind verloren. Werner Arndt:

"Wir sind eine Stadt der Industrie immer gewesen. Wenn so viele Arbeitsplätze entfallen, dann ändert das auch Strukturen. Es wird kein Bergmann ins Bergfreie fallen, die werden alle in die sogenannte Anpassung gehen. Aber diese Arbeitsplätze fehlen, denn man muss ja mal sagen, dass an jedem Industriearbeitsplatz in der Folge ungefähr 2,1 Arbeitsplätze in der Dienstleistungsbranche hängen. Deswegen werden wir hier sicher ein anderes Lohnniveau erhalten."

Mehr als die Hälfte der Industriearbeitsplätze gingen im Ballungsgebiet an der Ruhr in den letzten 30 Jahren verloren. Besonders schwer traf es die Städte am nördlichen Rand des Reviers. Die Arbeitslosenquote in Marl liegt bei rund 12 Prozent.

Die geringe Kaufkraft der Bevölkerung zeigt sich auch beim Gang durch die Einkaufszone im Marler Stadtteil Hüls. Elke Karla wohnt hier schon seit 52 Jahren, langsam lässt sie ihren Blick durch die Autofreie Straße schweifen:

""Einkaufen ist schwer geworden..."

Wo früher das Reformhaus war, ist nun ein Nagelstudio, der Bekleidungsladen ist dem Ein-Euro-Kaufhaus gewichen, neben der Drogerie hat sich nun das Pfandhaus Marl eingerichtet.

"...und daneben hatte wir ein wunderbares Bekleidungsgeschäft, da ist jetzt ein Laden für Babybekleidung. Da Hüls aber eine aussterbende Generation ist, brauchen wir keine Kinderwagen, wir brauchen eher Rollatoren als Kinderwagen..."

Die Demographische Entwicklung macht auch dem Bürgermeister zu schaffen. Aber der Jugend fehlt schlicht eine Perspektive in Marl. Werner Arndt:

"...ich hab jedes Jahr ein schlechtes Gewissen, wenn ich die Abiturienten verabschiede, weil ich weiß, dass drei Viertel Marl für immer verlassen werden. Die gehen in die attraktiven Unistädte bis nach Heidelberg und Berlin. Das kann ich den jungen Leuten nicht verbieten, aber die fehlen uns natürlich."

Der Verlust von Humanvermögen, wie es Sozialwissenschaftler nennen, ist ein Problem, das besonders die kleineren Städte des nördlichen Ruhrgebiets trifft. Und tatsächlich hat Marl jüngeren Bürgern nicht mehr so viel zu bieten wie noch vor zwei Jahrzehnten.

Der Kampfgeist ist erwacht
Marl hatte früher ein eigenes Orchester, die Philharmonica Ungarica war ein Klangkörper von Weltrang, an ihrer Spitze auch der Geiger Yehudi Menuhin. Es gab Kinos und immerhin einige Kaffees, jetzt gibt es nicht mal mehr Wasser für den Brunnen, geschweige denn ein Hallenbad. Das musste unter dem Sparzwang schließen und auch den Freibädern sollte das Wasser abgedreht werden. Doch dann erwachte der alte Kampfgeist wieder.

Das Revier war lange Zeit der Wirtschaftsmotor des ganzen Landes, hier schlug das stählerne Herz der Republik, "Kunst für Kohle" war einst der stolze Slogan der Ruhrfestspiele; "Dein Grubengold hat uns wieder hochgeholt", sang Grönemeyer in seiner Ruhrgebietshymne und nun soll es nicht mal mehr für ein Freibad reichen? Für eine Stadt mit 87 000 Einwohner? Wäre doch gelacht! Diese Rechnung haben die Sparkommissare ohne die Eigeninitiative der Bürger gemacht. Werner Arndt lächelt:
"Wir haben gleich zwei Freibäder, die von einem Bürgerschaftlichen Vereinen getragen werden. Das ist etwas, was dieses Gebiet prägt. Und da bin ich auch stolz drauf."

Zupackend und solidarisch war das Ruhrgebiet schon immer - über Tage und unter Tage erst recht. Hier standen die Kumpel zusammen, Generation für Generation, mit dem Bauch auf Stein und den Lungen voller Staub war es schon damals egal, wer Paul, Marek oder Oktu hieß. In der Hitze des Berges wurde wohl ein besonderer Menschenschlag zusammengeschweißt, dessen Fähigkeiten die Region noch antreibt, wenn das Förderrad schon still steht. RAG-Sprecher Michael Sagenschneider:

"Bergleute zeichnet die Teamfähigkeit aus, Bergleute können zusammenarbeiten. Sie sind ja hier unten in der Grube, wo man sich auch aufeinander verlassen muss, weil man hat hier keinen Ausstieg jederzeit nach Übertage..."

Und selbst Übertage wollen viele noch nicht aussteigen. Auch wenn die Arbeitslosigkeit in den westlichen Bundesländern nirgendwo so hoch ist wie im Revier. Auch wenn viele Städte Kredite aufnehmen müssen, um den Solidaritätszuschlag zahlen zu können, während es durch die Dächer ihrer Schulen regnet, und die Kulturhauptstadt 2010 an einigen Stellen ohnehin mehr nach Abriss- als Prestigeobjekt aussieht.

Doch auf den Halden keimt schon lange das Grün und die Hoffnung wächst daneben. Die Hochschullandschaft im Ruhrgebiet wird ausgebaut, die Energiewende schultern Bürger, Unternehmen und Politik gemeinsam in vielen Projekten, wie das Beispiel Bottrop zeigt.

Der ökologische und ökonomische Strukturwandel im Ruhrgebiet ist ein zäher und kleinteiliger Prozess. Doch wo viele Kleine an einem Strang ziehen, kann womöglich Großes geschehen.
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