Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören "Facebook-Gesellschaft" (Matthes & Seitz 2016) und "The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas" (MIT Press 2018).
Die ferngesteuerte Gesellschaft
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Die E-Roller-Debatte wurde heftig geführt. Auch in Bezug auf die Sicherheit der Fußgänger. Eine automatische Tempodrosselung per GPS könnte sie besser schützen. Für Medienwissenschaftler Roberto Simanowski wäre das ein gefährlicher Paradigmenwechsel.
Neulich wurde ich wieder einmal fast von einem E-Roller überfahren. Sie wissen schon, diese elektronisch angetriebenen Dinger, die diesen Sommer in deutschen Städten in Mode kamen. Eine ernst zu nehmende Gefahr auf deutschen Gehwegen, wo sie ja eigentlich gar nicht fahren dürfen und ein Unrecht gegen die Fußgänger, die so den Bereich des öffentlichen Raums verlieren, der bisher für sie, die schwächsten Verkehrsteilnehmer reserviert war.
Und schwach heißt hier nichts weiter als: ohne Verstärkung durch Technik. Denn wenn ein technisches Gerät von einiger Größe und einiger Geschwindigkeit auf einen menschlichen Körper trifft, sind auch Magersüchtige eine ernste Gefahr für den Muskelprotz mit Tattoo am Hals.
Für die Straße zu langsam, für den Fußweg zu schnell
Deswegen ist es richtig, E-Roller eher hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit zu diskutieren als hinsichtlich ihres Beitrags zur ökologischen Verkehrswende – es zeigt sich ja, dass sie vor allem eine Alternative zur umweltfreundlichsten Verkehrsart sind, die es gibt: dem Gehen.
Das Problem ist die richtige Platzanweisung: Für die Straße, auf die er per Gesetz ausweichen muss, wenn es keinen Radweg gibt, ist der E-Roller mit seinen 20 km/h zu langsam. Und auch auf dem Radweg ist er ein Hindernis angesichts der Raserei, die dort inzwischen stattfindet. Bleibt eigentlich nur der Gehweg, wo sich E-Roller-Fahrer ohnehin am wohlsten fühlen, weil sie hier die Schnellsten und Mächtigsten sind.
Um hier schwere Zusammenstöße zu verhindern, gibt es den Vorschlag, die Geschwindigkeit der E-Roller auf 12 km/h zu beschränken. Das ist manchen zu radikal, denn oft ist der Gehweg ja frei und dann könnte man gefahrlos Strom geben.
Smarte Geschwindigkeitsbegrenzung wäre eine Lösung
Der Kompromiss wäre eine smarte Geschwindigkeitsbegrenzung, die nur dann einsetzt, wenn sie auch tatsächlich nötig ist. Es wäre relativ leicht, all jene Roller ferngesteuert abzubremsen, die sich im Umfeld vieler Smartphone-Signale befinden. Diese automatische Tempodrosselung per GPS-Ortung – der Fachbegriff lautet: Geofencing – würde das verantwortungslose Rasen nahe einer Menschenmenge schon technisch verhindern.
Klar, dass die Kommunen von den Anbietern der E-Roller bereits eine entsprechende Nachrüstung der Software fordern. Klar auch, dass die Anbieter zu Zugeständnissen bereit sind, um ihr Geschäftsmodell zu sichern. Allerdings lauert in dieser Art der Problemlösung ein viel tiefer gehendes Problem, für dessen Verständnis wir kurz die Fahrzeugart wechseln müssen.
Moralisches Verhalten muss von Innen kommen
Die Ethik-Kommission, die der deutsche Verkehrsminister im Frühjahr 2016 zum Thema automatisiertes Fahren einberufen hatte, schrieb in ihrem Bericht, dass die Automatisierung des Verkehrs nicht die Missachtung der Verkehrsregeln verhindern dürfe. Ja, Sie haben richtig gehört! Noch einmal, nun als Zitat: "Ausdruck der Autonomie des Menschen ist es, auch objektiv unvernünftige Entscheidungen wie eine aggressivere Fahrhaltung oder ein Überschreiten der Richtgeschwindigkeit zu treffen."
Raserei als Ausdruck menschlicher Selbstbestimmung? Das klingt, als verteidige die Ethik-Kommission unmoralisches Verhalten. Das Gegenteil ist der Fall! Denn moralisches Verhalten gibt es nur, wenn man sich dazu entschließt. Wenn das richtige Handeln von Innen kommt und nicht durch ein äußeres System vorgegeben wird. So erklärte einst Immanuel Kant das Grundprinzip des mündigen Bürgers, an dem die Ethik-Kommission offenbar festhalten will. Und zwar auch auf die Gefahr hin, dass Raser tödliche Unfälle verursachen. Idealistischer Unsinn?
Ersetzung der Eigenverantwortung durch Außenregelung
Verwaltungsspezialisten würden eher auf das Ergebnis schauen, egal wie es zustande kommt. Und wenn man das Richtige mit technischen Mitteln erzwingen kann, warum nicht?! Warum nicht rasende E-Roller zwischen wehrlosen Fußgängern durch moderne Signalverarbeitung verhindern, statt darauf zu hoffen, dass Rabauken sich verantwortungsvoll gegenüber ihren Mitmenschen verhalten?
Wer jetzt zustimmt, belegt damit die eigentliche Gefahr der E-Roller. Während sie gewiss nicht die ersehnte Verkehrswende mit sich bringen, könnten sie sich als das trojanische Pferd erweisen für einen Paradigmenwechsel, von dem Computerfachleute schon lange träumen: die Ersetzung der Eigenverantwortung durch Außenregelung. Man nennt es auch: kybernetische Gesellschaft.
Die Unfallvermeidung auf dem Gehweg wäre ein Unfall der Gesellschaft, die - im Versuch, dem Zusammenstoß mit dem Roller auszuweichen - geradewegs unter die Räder der Technokratie käme.