Epidemie reist Lücken in Familien
Mehr als 11.000 Menschen sind in Westafrika an Ebola gestorben. Sie hinterlassen trauernde und traumatisierte Kinder, Eltern, Ehepartner, Großeltern. Und sie fehlen in den Gemeinschaften, auf den Feldern und Märkten oder im Bergbau. Nun werden die Lebensmittel knapp.
Moa Wharf: ein Slum, mitten in Freetown, Sierra Leone. In einer Bucht, direkt am Hafen, kleben Blechhütten und Holzverschläge aneinander. Dazwischen schmale, dunkle Gassen, durch die sich Menschen drängen. Es riecht beißend nach Fäkalien und verbranntem Plastik. Schweine und Ziegen wühlen im Müll, den der Ozean angeschwemmt hat. Jetzt, in der Regenzeit, schwappt der Dreck bis in die Behausungen.
Rund 30.000 Menschen leben in Moa Wharf. Wer dorthin will, muss eine steile Treppe über die Felsen hinuntersteigen – und wird über eine Endlosschleife aus einem Megaphon ermahnt, vorher die Hände mit Chlorlösung zu waschen.
Bis vor kurzem war Moa Wharf ein sogenannter Ebola-Hotspot. Dutzende Menschen sind gestorben. Das Virus konnte sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Fast unmöglich, hier nichts zu berühren. Gerade erst hat die Polizei das Viertel absperren und wieder Ebola-Kranke jagen müssen: Angehörige hatten sie versteckt, aus Angst vor Quarantäne.
Immer noch gibt es in Moa Wharf neue Ebola-Verdachtsfälle. Es werden weniger, aber es gibt sie. Ein Team von MSF, Ärzte ohne Grenzen, ist in Gummistiefeln und Schutzkleidung unterwegs.
Teamleiter Patrick Sam sitzt in einer Ecke vor einer hochschwangeren Frau. Aminatta Kamara ist im neunten Monat. Ihr Mann ist an Ebola gestorben, sie selbst ist verschont geblieben – die anderen drei Kinder auch. Ein Wunder, sagt Aminatta. Denn sie kennt eine Nachbarin, die durch Ebola den Ehemann und alle vier Kinder verloren hat.
"Meine Mutter und mein Vater helfen mir, so gut sie können - mit den anderen drei Kindern. Sie kümmern sich ums Essen, und sie versuchen, das Schulgeld für die älteste Tochter zusammenzubekommen. Seit mein Mann gestorben ist, haben wir kein Einkommen mehr, jetzt brauche ich meine Familie mehr denn je."
Großer Friedhof, in der Nähe der Mülldeponie
Als ihr Mann starb, war Aminatta nicht dabei. Patrick Sam gibt ihr den Totenschein ihres Mannes, und das letzte Foto. Es wurde aufgenommen, bevor er beerdigt wurde. In einem Plastiksack, auf dem großen Friedhof, in der Nähe der Mülldeponie. Dort, wo tausende weitere Ebola-Opfer liegen, neben den vielen Toten aus Sierra Leones langem Bürgerkrieg.
"Manchmal bin ich wirklich absolut deprimiert. Es gibt einfach Fälle, die mich sehr mitnehmen. Denn ich weiß ja, dass ich selbst eigentlich wenig für sie tun kann – ich kann nur weitergeben, dass sie Hilfe brauchen. Immerhin. Denn erst jetzt, nachdem die Epidemie zurückgegangen ist, kommen wir ja raus in diese Slums hier, erst jetzt sehen wir, was wirklich los ist. Es ist bitter. Es ist furchtbar."
Patricks Kollege Moussa Touré steht vor einer Gruppe von Kindern in der Sonne, der Schweiß rinnt über sein Gesicht. Ein Ebola-Ratespiel. Poster mit Comic-Zeichnungen sollen die Symptome von Ebola zeigen. Fieber, Kopfschmerzen, Durchfall, Erbrechen, Blutungen. Moussa Touré verteilt Luftballons – weil die Kleinen so schön mitmachen. Dann geht es im Geländewagen weiter, zum nächsten Ebola-Hotspot. Viele Kinder wissen nichts über die tödliche Ansteckungsgefahr, die um sie herum lauert. Und viele Eltern wissen auch nichts. Und selbst wenn: Der Schutz vor Ebola kostet Geld, sagt Moussa. Und Geld haben die Menschen hier nicht.
"In den meisten Vierteln hier haben die Leute nicht mal das Geld für ein Stück Seife, vor allem nicht für die Seife, die genug desinfiziert und vor Ebola und anderen Viren schützt. Letzten Sommer, während des großen Lockdowns, der landesweiten Quarantäne, hat die Regierung pro Haushalt ein Stück Seife verteilt. Jetzt macht sie das nicht mehr, und die Leute müssen sehen, wo sie bleiben. Geld für teure Handgels haben sie jedenfalls nicht. Hände waschen sie hier schon deutlich weniger, als es gut wäre. Jeder ist sich selbst überlassen."
Wachsam bleiben
Wie geht es weiter? Das fragen sich die Menschen in Sierra Leone, und das fragt sich auch Gisa Kohler, Landeskoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen. Ihre Organisation hat von Anfang an Alarm geschlagen, gewarnt. Schon damals, als noch niemand zuhören wollte. Ärzte ohne Grenzen unterhält in Sierra Leone wie auch in Liberia und Guinea viele Ebola-Behandlungszentren, kümmert sich um Überlebende, die zum Teil an schweren gesundheitlichen Folgen leiden. Auch wenn Ebola in Sierra Leone langsam zurückgehe, sagt Gisa Kohler: Es gelte, wachsam zu bleiben, die Zentren offen zu halten. Und nach vorne zu denken.
"Wir können jetzt nicht sagen, wir gehen zurück zum alten System, das ganz klar bewiesen hat, dass es nicht in der Lage ist, eine Epidemie wie Ebola unter Kontrolle zu bekommen. Das heißt, wir müssen es besser machen, und das geht nur mit Investitionen. Aber wenn die Internationale Gemeinschaft diese Investitionen nicht leisten will, dann ist es eine Frage der Zeit, bis so etwas einfach wieder passiert."
Mindestens zwei Jahre will Ärzte ohne Grenzen noch bleiben - um den Übergang zu begleiten. Den Übergang ... wohin? In einem Land, in dem viele Krankenhäuser weder fließendes Wasser, noch Toiletten haben, in dem die meisten heimischen Ärzte an Ebola gestorben sind. In einem Land, in dem es für Schwangere und Kinder bald auch keine kostenlose Behandlung mehr gibt.
"Das heißt, ich weiß nicht, was jetzt passieren wird. Aber wenn diese Leute jetzt alle bezahlen müssen, dann hat die Bevölkerung, die unter Ebola sowieso schon sehr gelitten hat und einer Situation gegenübersteht, die noch schlechter ist als vorher, wirklich ein Problem, Hilfe zu suchen im Gesundheitssystem."
Wie im Nachbarland Liberia war der Gesundheitssektor schon lange vor Ebola zusammengebrochen – durch Bürgerkrieg, Korruption, Vernachlässigung. Später waren es aber auch die mit Entwicklungshilfe-Millionen belohnten Privatisierungskampagnen der Weltbank, die das öffentliche Gesundheitssystem immer weiter ausgehöhlten. Fakt ist: Für die Mehrheit der Menschen in den Ebola-Gebieten war Gesundheit noch nie bezahlbar.
Auch deswegen habe Ebola zu einer solchen Katastrophe geführt, sagt Bimbola Carroll, Unternehmer und freiwilliger Ebola-Helfer in Freetown. Denn es geht nicht nur um Ebola. Sondern auch um andere Krankheiten wie Malaria, HIV/Aids, Typhus, Meningitis. Krankheiten, an denen im letzten Jahr Tausende Menschen gestorben sind - weil das mit Ebola überforderte System sie nicht behandeln konnte. Weil Impfprogramme weggefallen sind. Und auch, weil noch dazu eine von westlichen Politikern kaputtgesparte Weltgesundheitsorganisation WHO dem Virus zu wenig entgegensetzen konnte.
"Wir haben so viel verloren ... zuallererst Menschenleben. Ärzte, Krankenpfleger, Krankenschwestern. Unser Gesundheitssystem war immer schon schwach, und Ebola hat uns das schonungslos gezeigt. Wir haben keine Hygiene, keine Krankenwagen. Jetzt wissen wir wenigstens, wie Ebola funktioniert, ich hoffe, wir können diese Epidemie beenden! Aber es wird noch lange dauern, bis wir die Kapazitäten erreichen, bis wir die Infrastruktur haben, das Personal, um alleine mit solchen Herausforderungen wie Ebola fertig zu werden."
Magbass. Holz- und Lehmhütten, ein Brunnen, ein Gemeindehaus. Ein typisches Bauerndorf, tief in den Tropenwäldern von Sierra Leone. Über 40 Menschen sind allein in diesem Dorf an Ebola gestorben. Vier Monate war der größte Teil von Magbass abgeriegelt. Erst seit wenigen Wochen ist das Dorf Ebola-frei. Ibrahim Sesay ist Reisbauer. Das heißt: Er war es, wie die meisten hier.
"Aus Angst sind wir schon lange nicht mehr auf die Felder gegangen. Unser Saatgut, den Reis, den wir jetzt eigentlich säen müssten, haben wir aufessen müssen, während der Quarantäne, als wir eingesperrt waren. Außerdem sind die ausländischen Investoren alle weg – viele Männer aus unserem Dorf waren bei den Chinesen angestellt, die hier in der Nähe Zuckerrohr anbauen. Wegen Ebola haben die alles stehen- und liegenlassen. Unsere Leute haben keine Arbeit mehr. Viele versuchen jetzt, Mangos zu verkaufen - um irgendwie zu überleben."
Ebola hat genau die Kettenreaktion ausgelöst, vor der Agrarexperten immer gewarnt haben: Die Nahrungsmittel sind knapp. Nicht überall im Land. Aber Zehntausenden Menschen stehen harte Zeiten bevor - dabei haben sie gerade erst Ebola überstanden. Jochen Moninger, Landesvertreter der Deutschen Welthungerhilfe in Sierra Leone:
"Ich vermute, dass es sich um vier- bis sechshundert Dörfer handelt, die in Sierra Leone extrem betroffen sind. Die jetzt Probleme haben werden, über die Zeit der Hungersnot hinwegzukommen, die Zeit, in der die Vorräte der letzten Ernte aufgebraucht sind und die neue Ernte nicht eingefahren werden kann. Sie werden große Schwierigkeiten haben, sich über Wasser zu halten."
Endlich kommt Hilfe
In Magbass ist die Aufregung ist groß. Endlich kommt Hilfe. Zwar nicht vom Welternährungsprogramm, das anderswo seinen subventionierten Reis aus dem Ausland verteilt - aber von einer kleinen privaten Hilfsorganisation. Von einem Pick-Up-Geländewagen werden fünfzehn Säcke mit Reis und Erdnüssen abgeladen. Alles soll gerecht unter den Familien verteilt werden. Hier in Magbass ein Tropfen auf dem heißen Stein.
"Nach der Quarantäne haben sie uns viel versprochen, weil wir so gelitten haben: Sie würden sich um die Waisenkinder kümmern, sie wollten endlich für sauberes Wasser sorgen, sie wollten Toiletten bauen. All das ist bis heute nicht passiert. Stattdessen leben wir weiter in absoluter Armut. Wir haben nichts mehr. Und wir wissen nicht, wie wir überleben sollen."
Als der internationale Hilfsapparat im letzten Jahr die Ebola-Gebiete erreichte, waren schon Tausende Menschen gestorben. Dann lief die Hilfe an. Wenn man Mohamed Conteh darauf anspricht, trifft man einen empfindlichen Nerv. Conteh leitet eine kleine lokale Hilfsorganisation in Makeni, im Norden von Sierra Leone. Die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen lobt er ausdrücklich, keine andere Organisation habe so viele Menschenleben gerettet und sich so engagiert – außerdem seien die Mediziner spendenfinanziert und unabhängig von internationalen Gebern und deren Einfluss. Conteh kritisiert die unkoordinierte "Hilfsmaschine" jenseits der Nothilfe, finanziert mit Milliarden von Staaten und Steuergeldern. Diese "Hilfsmaschine" sei das Problem, sagt Conteh - nicht die Lösung.
"Du schickst Dein Geld in die Krisenländer, Du folgst dem Geld, Du nimmst es wieder und Du gehst wieder raus. Ich habe das Gefühl, so läuft das hier. Damit mich niemand falsch versteht: Natürlich brauchen wir internationale Hilfe, wir brauchen diese gut ausgebildeten Ausländer, weil wir ja selbst zu wenige Experten haben, sie machen oft sehr gute Arbeit. Aber was bringt dieses ganze Hilfssystem, wenn die Hälfte der Hilfsgelder wieder dahin zurückfließt, wo sie hergekommen sind?"
Wie viele andere Krisen zeigt auch die Ebola-Epidemie: Hilfe ist ein Geschäft. Ein Großteil der Hilfsfonds, die die Arbeit der UNO-Ebola-Mission, der Regierungsbehörden, aber auch vieler Nichtregierungsorganisationen finanzieren, geht für Gehälter drauf: Gehälter der internationalen Helfer, aber auch vieler lokaler Mitarbeiter, die sozusagen dank Ebola oft zum ersten Mal überhaupt ein regelmäßiges Einkommen haben. Reisekosten verschlingen die Budgets, dazu kommen große Fuhrparks und die horrenden Mieten von Büros und Unterkünften. Daran verdienen vor allem libanesische Geschäftsleute. Ihnen gehören die meisten Hotels und Restaurants, auf Monate hinaus haben steuerfinanzierte Organisationen aus aller Welt die Mieten für ganze Hotelanlagen gezahlt.
Liberias größter Slum
West Point. Liberias größter Slum, direkt vor den Toren der Hauptstadt Monrovia. Hier gibt es keine Gerlib-Clinic, erst recht keine staatliche Gesundheitsversorgung. Hunderte sind hier an Ebola gestorben. Die Überlebenden sind in West Point auf sich allein gestellt. Und auch all diejenigen, die das Virus hier zu Waisen gemacht hat. Menschen wie Jeannette Youé. Wie gelähmt sitzt sie auf einer Holzkiste. Auf dem Boden krabbeln Kinder herum. Es sind ihre Geschwister.
"Es gibt die Babies, einen Fünfjährigen, die Zwillinge sind sieben, die anderen 19, 20, 21 Jahre alt ... wir sind viele."
Insgesamt sind es zwölf Geschwister. Zusammen leben sie in einer Wellblechhütte. Jeannette, die Älteste, muss jetzt für sie sorgen. Seit die Mutter und eine weitere Schwester an Ebola gestorben sind. Das war am 1. September. Dem Tag, als in West Point die Quarantäne wieder aufgehoben wurde.
"Am 2. September, als wir meine Mutter beerdigt haben, kamen Diebe in unser Haus und haben alles mitgenommen. Wir haben nichts mehr. Jetzt verkaufen wir Pfefferschoten."
Am Tag verdient Jeannette damit vielleicht 150 liberianische Dollar, rund Euro 1,50. Das reicht nicht, um für die Geschwister das Schulgeld zu bezahlen. Ihren eigenen großen Traum, irgendwann Krankenschwester zu werden, hat Jeannette längst aufgegeben.
"Es ist sehr schwer für uns. Das war es hier immer schon. Aber seit Ebola denkt jeder nur noch an sich."