"EchtZEIT" im Kunstmuseum Bonn

Die Wiederentdeckung der Langsamkeit

Eine Bahnhofsuhr am Hauptbahnhof in Mailand.
Für viele Menschen besteht der Alltag nur noch aus einem Wettlauf gegen die Zeit - das Kunstmuseum Bonn zeigt, wie die Kunst auf dieses Phänomen regiert © Deutschlandradio / Ellen Wilke
Stephan Berg im Gespräch mit Korbinian Frenzel |
Selbstoptimierung, auch beim Zeitmanagement – daraus besteht der Alltag vieler Menschen. Wie reagiert die Kunst auf dieses hektische Diktat? Damit beschäftigt sich eine Ausstellung im Kunstmuseum Bonn, bei der man die Kunst der Langsamkeit neu entdecken kann.
Wie reflektiert die Kunst das Phänomen "Zeit"? Mit dieser Frage beschäftigt sich eine neue Ausstellung im Kunstmuseum Bonn: "EchtZEIT. Die Kunst der Langsamkeit". Museumsdirektor Stephan Berg beschrieb im Deutschlandradio Kultur die Konzeption der Ausstellung - im Zeitalter eines für viele Menschen "durchgetakteten Alltags":
"Wir müssen unsere Zeit immer mehr optimieren, Multi-Tasking durch Social Media. Und letztlich war die ganze Frage: Wie reagiert die Kunst eigentlich darauf? Wie geht die Kunst heute damit um? Und die Überraschung, die wir bei der Planung erlebt haben, war: Je breiter und tiefer wir geguckt haben, desto mehr Künstler haben wir gefunden, die sich eben dem hektischen Diktat nicht beugen."
Viele Künstler würden "poetische Zwischenlösungen" für die Beschreibung von subjektiver oder objektiver Zeit anbieten, meinte Berg:
"Also ein Kontrast zwischen der gezählten Zeit und der tatsächlich verfließenden Zeit. Und das sind eigentlich immer Themen, die Künstler interessieren: Das Paradox zwischen dem, wie wir Zeit erleben und dem, was Zeit im eigentlichen Sinne - in einem normativen oder absoluten Sinne - sein soll."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Es ist wahrscheinlich der denkbar schlechteste Zeitpunkt, Ihnen jetzt mit so etwas der Kunst der Langsamkeit zu kommen, wenn Sie Schulkinder haben. Dann müssten die um diese Zeit am besten schon los sein, gucken aber vielleicht noch verschlafen und verpeilt in ihr Müsli. Vielleicht stecken Sie selbst schon auf irgendeiner Zufahrtsstraße und müssten eigentlich schon drei Ampeln weiter sein, um pünktlich anzukommen bei der Arbeit. Ein ganz normaler hektischer Mittwochmorgen.
Und wahrscheinlich ist es vielleicht gerade deshalb gut, dass wir uns trotzdem die Zeit nehmen, die Zeit, um über eine Ausstellung zu sprechen im Kunstmuseum Bonn, "EchtZEIT – die Kunst der Langsamkeit" heißt sie. Heute ist die Eröffnung, und am Telefon dazu ist jetzt der Intendant des Bonner Kunstmuseums, Stephan Berg. Guten Morgen!
Stephan Berg: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Frenzel: Ist Ihre Ausstellung das Kontrastprogramm zu unserem durchgetakteten Alltag?
Berg: Das würde ich gar nicht mal ganz so sagen, aber Sie haben schon ein bisschen recht. Wir sind, als wir uns mit dem Thema vor zwei Jahren erstmals beschäftigt haben, genau von dem ausgegangen, was Sie gerade anmoderierend gesagt haben. Wir müssen unsere Zeit immer mehr optimieren, Multitasking durch Social Media – und letztlich war die ganz naive Frage, wie reagiert die Kunst eigentlich darauf, wie geht die Kunst heute um?
Und die Überraschung, die wir erlebt haben bei der Planung dieser Ausstellung, dass je breiter und tiefer wir geguckt haben, wir in der Tat mehr Künstler gefunden haben, die sich eben diesem hektischen Diktat nicht beugen, aber auch jetzt sozusagen nicht nur Gegenmodelle entwickeln, aber so schöne, absurde, paradoxe, poetische Zwischenlösungen, die eigentlich unseren immer effizienter werdenden Umgang mit Zeit so ein bisschen schön wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen.

Poetische Umsetzung von Ignacio Uriarte

Frenzel: Wir haben mal ein Beispiel für eine solche poetische Umsetzung, Ignacio Uriarte, ein spanischer Künstler.
(Einspielung Uriarte: Eins, zwei, drei, vier, fünf sechs, sie- ben, acht, neun, zehn)
Frenzel: Herr Berg, Ignacio Uriarte, der spanische Künstler, was macht er da mit uns? Zählt er uns in den Schlaf?
Berg: Ja, das hat ein bisschen was Meditatives. Ich habe mich selbst mal ein paar Minuten daruntergestellt. Und witzigerweise ist es eigentlich nicht nervig, sondern hat schon einen gewissen musikalischen Rhythmus. Uriarte hat hier was ganz Einfaches gemacht, was wir eigentlich auch kennen. Die Arbeit heißt "From nine to five" und schildert eigentlich einen Büroalltag. Viele von seinen Arbeiten gehen von dieser Langeweile eines Büroalltags aus.
Und was läge da näher oder auch ferner, als diese sich manchmal zäh hinziehenden Stunden dadurch zu verdeutlichen, dass man sie einfach durchzählt. Das Besondere an dieser Arbeit: Dadurch, dass er jeder Silbe eine Sekunde gibt, wird der gezählte Bürotag natürlich von der Gesamtzahl der gezählten Zahlen sehr viel kürzer als die Sekunden, die in Wirklichkeit vergehen. Also ein Kontrast zwischen der gezählten Zeit und der tatsächlich verfließenden Zeit. Und das sind eigentlich immer Themen, die Künstler interessieren. Dieses Paradox zwischen dem, wie wir Zeit erleben, und dem, was Zeit im eigentlichen Sinne, in einem normativen oder absoluten Sinne sein soll.

Zeit als normativer Anspruch

Frenzel: Es ist ja ein wirklich großer Begriff, die Zeit, den Sie sich da vorgenommen haben. Wie haben Sie denn da sozusagen die Markierungen vorgenommen? Oder machen Sie es ganz breit?
Berg: Gut, man kann es nicht ganz breit machen, sie haben völlig recht, weil es ein uferloses, ja auch ein existenzielles Thema ist, ähnlich wie der Raum, der uns auch komplett bestimmt. Wir haben zwei Leitplanken eingezogen, über die ich ganz kurz schon vorher geredet habe. Das eine ist eben der Begriff der Zeit, so wie er als normativer Anspruch auftritt, will sagen, die Uhr, eine Taktung, der wir nicht entgehen können, und auch dieses Gefühl, Zeit sei eine absolute Kategorie, die auch ohne uns existiert.
Die Zeit vergeht, und sie vergeht in einem ganz gleichmäßigen Maß – also all das, was uns zu dem Glauben bringt, in der Zeit ein absolutes Orientierungssystem, einen absoluten Halt gefunden zu haben. Das ist die eine Extremvariante, und die zweite wäre in dem Begriff der Zeitlichkeit zu sehen, also dem menschlichen Umgang mit der Zeit, der, wie wir wissen, einer komplett anderen Form der Zeitmessung unterliegt, denn sonst würden wir nicht zu so schönen Ideen kommen, dass wir irgendwo Zeit vergeuden könnten, um sie an anderer Stelle zu sparen, dass wir uns beeilen müssen, um Zeit aufzuholen, dass die Zeit furchtbar zäh dahinfließt, um dann wieder so zu rasen, dass wir sagen, wo ist der Tag geblieben, wo ist das Jahr geblieben. Also grob zwischen diesen Achsen verortet sich das Ganze und findet seinen Platz in der Zeit.

Der ästhetische Wert von Langeweile

Frenzel: Das Interessante ist, dass dabei aber die Langsamkeit eigentlich normativ immer gut besetzt ist. Man könnte ja aber auch sagen, das ist Langeweile, da ist fehlende Dynamik.
Berg: Ja. Das ist natürlich ein Stück weit auch ein Punkt, bei dem die Dinge nicht so zu trennen sind. Gerade Uriarte ist ja so ein Beispiel. Er hat ja nicht nur die Zeit gezählt, er beschäftigt sich auch mit etwas, was wir auch kennen, Bürokritzeleien, also dieses so etwas selbstvergessen auf irgendeinem Block anfangen, sinnlose kleine Krakel zu machen, mit denen natürlich, wenn das ganze Blatt voll ist, auch Zeit vergangen ist.
Das Interessante ist, dass diese Künstler eben es schaffen, solche Themen und Beschäftigungen, die eigentlich aus unserer funktionalisierten Zeit völlig herausfallen, dadurch wieder sichtbar zu machen als einen eigenen poetischen, ästhetischen Wert, indem sie quasi dieser Langeweile, die darin auch steckt, etwas Produktives unterschieben.
Frenzel: Ist das der Gegenentwurf, die Alternativen, die letztendlich darin stecken, oder ist es vor allem eine Beschreibung der Takte und der Monotonie, die man findet, wenn man durch diese Ausstellung geht?

Roman Signers Modellhubschrauber

Berg: Man findet, glaube ich, nicht die Taktung dieser Monotonie. Man findet ein ganz breites Feld. Da sind natürlich auch sehr viele sehr humorvolle Entwürfe dabei, die in ihrer Witzigkeit, in ihrem Humor aber auch immer etwas Existenzielles haben. Roman Signer lässt 56 kleine Modellhubschrauber fein säuberlich in Reih und Glied auf dem Boden stehen und dann gleichzeitig starten. Die fliegen wie Insekten in die Luft und löschen sich dabei gegenseitig aus. Das ist ein Bild, das sozusagen auch ganz viel das Kind im Manne weckt. Das möchte ich auch mal machen, so möchte ich das auch mal ausprobieren. Und gleichzeitig steckt natürlich Werden und Vergehen, ein bestimmter Kreislauf drin.
Oder wir haben eine Künstlerin wie Marijke van Warmerdam, die ein älteres Paar in einer Videoinstallation beobachtet, die auf einer Bank an einem See sitzen in einem goldenen Sonnenuntergang und quasi das goldene Lebensalter selber betrachten, und die Kamera schwebt körperlos in einem Loop um sie rum eben nicht in einem Sinn, dass dieses Alter jetzt auf das Ende zugeht, sondern als sei das in einer ewigen Zeitschleife gefangen, die immer dieses wunderschöne Bild eines in Frieden und Glück alternden Paares, das letztlich dadurch aber auch alterslos bleibt, einfriert. Es sind ganz viele unterschiedliche Bilder, wie mit Zeit umgegangen werden kann, die Sie in dieser Ausstellung erleben.
Frenzel: All das wird zu sehen sein im Bonner Kunstmuseum, ab morgen fürs Publikum. Heute ist die Eröffnung. Stephan Berg, der Intendant, im Gespräch in jetzt ein bisschen mehr als sieben Minuten. Ich danke Ihnen für diese sieben Minuten!
Berg: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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