Eckart Conze: "Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe"
dtv, München 2020
288 Seiten, 22 Euro
Reichsgründung und Nationalismus
06:23 Minuten
Von den vielen derzeit erscheinenden Büchern über die Reichsgründung vor 150 Jahren ist das des Zeithistorikers Eckart Conze unbedingt lesenswert. Unter anderem, weil es das Thema Nationalismus auch für die Gegenwart in den Blick nimmt.
Manchmal ist es aufschlussreich, mit der Lektüre hinten zu beginnen. In "Schatten des Kaiserreichs" etwa, dem neuen Buch von Eckart Conze, einem der profiliertesten deutschen Zeithistoriker, spiegelt die Literaturliste die umfassende Forschungsleistung, während der schmal gehaltene Anmerkungsapparat den populären Ansatz unterstreicht. Im Dank taucht Thomas Karlauf wieder auf, Agent, Lektor und selbst Autor, der schon zu den Paten von Conzes Buch zum Frieden von Versailles (Die große Illusion, 2018) und der viel diskutierten Studie Das Amt und die Vergangenheit (2010) über das Auswärtige Amt und den Nationalsozialismus gehörte. Was ein fundiertes, rhetorisch pointiertes, um streitbare Thesen nicht verlegenes Buch zu einem historischen Thema von Belang verspricht. Das ist es auch geworden.
Der Dank enthält zudem Inhalt und Impetus des Buchs in nuce: "Dieses Buch, das Geschichte und Gegenwart zu verbinden sucht, gäbe es nicht ohne die Familie Hohenzollern. Die kontroverse öffentliche Diskussion über die Entschädigungsansprüche der Familie hat den letzten Anstoß gegeben. Es ist der Blick eines Zeithistorikers auf das Kaiserreich, geleitet von der Frage, welche Bedeutung der Nationalstaat von 1871 für die historische und politische Selbstverständigung der Deutschen nach 1945 hatte und bis heute hat."
Die Reichsgründung war nicht "alternativlos"
So erzählt das Buch die Geschichte der Einigung Deutschlands zum Kaiserreich vor 150 Jahren nicht nur anlässlich des im Januar anstehenden Jubiläums um ihrer selbst willen, sondern auch mit Blick auf Bedingungen und Konsequenzen, die sich aus ihr ergaben. Die Entwicklungen, die zur Einigung führten, werden konzis dargelegt, wobei deutlich wird, dass diese Einigung als "Kriegsgeburt", als kleindeutsche Lösung (ohne Österreich), als Revolution von oben, unter der Dominanz Preußens, gegen den Willen vieler, unter Ausschluss parlamentarischer Beteiligung, schließlich als autoritärer Nationalstaat alles andere als "alternativlos" war. Der Begriff fällt bei Conze wie auch in anderen Publikationen zum Thema und verdeutlicht einen wichtigen Aspekt, hat doch eine nationalistische Geschichtsschreibung viel darangesetzt, das Gegenteil zu behaupten.
Derzeit macht Conze im wieder zum Nationalstaat vereinten Deutschland "einen neuen Nationalismus" aus. Zur Einordnung der Debatten verlängert er die Ereignisse nach 1871, 1914, 1918 und 1933 in den historiografischen Horizont ihrer Interpretationen bis heute. Vor allem zwei Debatten erscheinen ihm alarmierend: Jene um Christopher Clarks Die Schlafwandler (2013), das viele als Plädoyer für eine deutsche "Kriegsunschuld" gelesen haben, und jene um Restitutionsansprüche der Familie Hohenzollern. Conze spricht von "gegenwärtigen Dynamiken der Renationalisierung". Er resümiert: "Unkritisch und offensiv bekennt sich ein neuer Nationalismus zur preußisch-deutschen Nationalgeschichte und stellt die Berliner Republik in ihre schwarz-weiß-rote Tradition". Davor so streitbar wie fundiert gewarnt zu haben, ist der Impetus dieses Beitrags zum Reichseinheitsjubiläum.