Unter den zahlreichen 9. Novembern, an denen die deutsche Geschichte positive und negative Einschnitte erlebt, gilt der des Jahres 1989 als der wichtigste für Angela Merkel. Tatsächlich wäre sie ohne den Mauerfall nicht die erste Kanzlerin eines wiedervereinigten Deutschlands geworden. Doch ist für ihre Arbeit als Regierungschefin der 9. November 2007 von noch größerer Bedeutung. Das ist der Tag, von dem an das iPhone in Deutschland verkauft wird. Es kostet 399 Euro. Nun dauert es nicht mehr lange, bis die sozialen Netzwerke wie Facebook, Twitter, Instagram oder TikTok von immer mehr Menschen zu jeder Tages- und Nachtzeit genutzt werden. (…) Angela Merkel ist nicht nur die erste Frau und die erste Ostdeutsche im Kanzleramt, sie ist auch die Erste, die Deutschland unter völlig neuen und weitgehend anarchischen Kommunikationsbedingungen führen muss.
Eckart Lohse: "Die Täuschung"
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Wie Angela Merkel wider besseres Wissen handelte
07:41 Minuten
Eckart Lohse
Die Täuschung. Angela Merkel und ihre Deutschendtv, München 2024336 Seiten
25,00 Euro
Eckart Lohse analysiert in "Die Täuschung" die Regierungszeit von Kanzlerin Angela Merkel: zugespitzt, aber nicht polemisch und besserwisserisch. Der FAZ-Journalist liefert damit einen wichtigen Baustein für ein profundes Urteil über die Merkel-Jahre.
Es war – zum Abschluss – eine fröhliche Melodie: Das Stabsmusikkorps der Bundeswehr spielte im Dezember 2021 beim Großen Zapfenstreich für Angela Merkel das Lied von Nina Hagen „Du hast den Farbfilm vergessen“. Das wurde allerorts als eine Erinnerung an Merkels Jugend in der damaligen DDR gewertet. Ihr halbes Leben hatte sie dort verbracht, dies öffentlich jedoch eher verschwiegen. Erst gegen Ende ihrer Kanzlerschaft hatte sich das geändert.
Den Impuls zu seinem Buch, sagt Eckart Lohse, habe Angela Merkels letzte Rede als Kanzlerin zum Tag der Deutschen Einheit gegeben, am 3. Oktober 2021. Das sei die überraschendste Rede gewesen, die er in all den Jahren, in denen er Angela Merkel beobachtet habe, von ihr gehört habe, berichtet Lohse.
Eckart Lohse ist Leiter des Parlamentsbüros der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und hatte Merkel lange begleitet. Er betont: „Sie hat einen völlig neuen Akzent gesetzt und hat klargemacht, dass sie immer den Eindruck hatte, nie so ganz als Bundesdeutsche anerkannt worden zu sein.“
Das sei sein Auslöser gewesen, um ihrer Zeit noch einmal nachzugehen und einige große Entscheidungen vor dieser Folie nochmal anzusehen. Sein Buch sei damit „keine Biografie mit Anspruch auf Vollständigkeit“, sondern eine ausgewählte analytische Bewertung der Regierungszeit.
Keine wohlfeile Besserwisserei
Lohse hat seinem Ansatz, und das ist ungewöhnlich, eine Art Disclaimer vorweg gestellt: „Der Autor dieses Buches will gleich zu Beginn eine grundsätzliche Bemerkung in eigener Sache machen. Auch er hat als journalistischer Beobachter angesichts der Geschwindigkeit der Ereignisse manche Dinge nicht in der Schärfe erkannt und benannt, die sich aus dem Rückblick ergibt. (…) Das sei gesagt, um den Eindruck zu vermeiden, es gehe um wohlfeile Besserwisserei, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist. Einsichten und Erkenntnisse mit ein paar Jahren Abstand sind dennoch zulässig. Angela Merkel selbst lässt das zwingend erscheinen, weil sie es zumindest lange Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Amt hat vermissen lassen, ihre Politik selbstkritisch zu reflektieren und Fehler einzugestehen.“
Vorab: Es ist ein wichtiges Buch in der zentralen Debatte – manch einer spricht von Aufarbeitung – der Merkel-Ära, aus deren Zeit sich nun viele aktuelle Krisen entwickelt haben: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine, die europaweit ungelöste Migrationsthematik, der – ebenfalls europaweite – Aufstieg populistischer Parteien, dazu die investitionsbedürftige Infrastruktur hierzulande.
Das Buch besteht aus drei Teilen: Im ersten eine Zustandsbeschreibung Deutschlands nach dem Ende von Merkels Kanzlerschaft, also Zustand der Verteidigungsfähigkeit, Zustand der Infrastruktur, auch Zustand der Wirtschaft und des Haushaltes. Im zweiten Teil, ausgehend von Angela Merkels Rede am 3. Oktober 2021, ihr Weg in die Bundesrepublik und in die CDU. Im dritten Teil: aktuelle Themen wie Migration und der Umgang mit Russland.
Merkels ostdeutsche Herkunft als Motivation
Lohse beschreibt dies anschaulich und plastisch. Das Buch ist tief recherchiert, zugespitzt, aber nicht polemisch. Mal im Stile eines Reporters geschrieben, mal im Stile eines politischen Analysten, der auf wenig beachtete, aber wichtige Umstände aufmerksam macht. Er schreibt beispielsweise:
Lohse geht dabei, ausgehend von Merkels Herkunft, der Frage nach, warum sie immer wieder auch wider besseres Wissen so handelte, wie sie gehandelt hat. Sein Fazit im Buch:
Sie will nicht nur als Politikerin nicht scheitern. Sie will vor allem als Ostdeutsche nicht scheitern. Dafür ist sie bereit, gegen ihre Überzeugung zu handeln. Besonders deutlich wird das nach der Katastrophe im japanischen Fukushima, als sie in kürzester Zeit von der Befürworterin von Atomstromerzeugung zur Anführerin des Ausstiegs wird, weil sie befürchtet, weder in der eigenen Partei noch in der Wählerschaft den erforderlichen Rückhalt für ihre bisherige Position zu haben. Obwohl sie es besser weiß, geht sie einen Weg, den sie für falsch hält.
Für Lohse ist so auch der durchaus harsche Titel „Die Täuschung“ gerechtfertigt. Er sagt: „Nicht bewusst, um Schaden anzurichten, aber schon in dem Bewusstsein, dass sie etwas, was im Grunde zu tun ist, zum Wohl des Landes, nicht getan hat. Ich unterstelle ihr nicht, dass sie ahnungslos war. Das war sie nicht. Das kann sie nicht gewesen sein als Kanzlerin und noch dazu Ministerin in unterschiedlichen Ämtern.“ Doch habe sie die Deutschen in einem Glauben gelassen, der nicht dauerhaft durch die Wirklichkeit gedeckt war.
Der nahende Erscheinungstermin der Kanzlerinnen-Memoiren für diesen Spätherbst verleihen dieser Sichtweise einen besonderen Reiz. Denn das Bild der Merkel-Jahre, ihr Platz in der Geschichte, das Urteil darüber – es bildet sich gerade immer klarer heraus. Eckardt Lohse liefert dafür einen wichtigen Baustein – und hält dabei auch der Gesellschaft den Spiegel vor.