Neues Selbstbewusstsein der Indigenen
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In mehreren Ländern Lateinamerikas gab es 2019 heftige soziale Proteste, an denen sich auch die indigenen Ureinwohner beteiligt haben. In Ecuador gehörten sie sogar zu den Anführern. Seither wächst das indigene Selbstbewusstsein in der Region.
Leonidas Iza, ein kleiner Mann, der einen schwarzen Hut und einen roten Poncho trägt, ergreift im Saal der Bischofskonferenz in Quito das Mikrofon. Leonidas Iza ist ein bekannter Mann in Ecuador, seit er im Oktober vergangenen Jahres als einer der Wortführer der indigenen Proteste die Regierung in die Knie zwang. Er zeigt sich kämpferisch.
"Wir Indigenen produzieren in Ecuador die Nahrungsmittel, wir tragen zur Wirtschaft dieses Landes bei. Hören Sie auf mit dem Klassenhass! Nicht wir indigenen Völker generieren diesen Hass, sondern die vermögenden Schichten."
Izas selbstbewusste Worte sind an Ecuadors politische und wirtschaftliche Eliten gerichtet, die einen westlichen Lebensstandard pflegen, während die indigene Bevölkerung mehrheitlich in Armut lebt.
Die Eliten leben im Überfluss
Das Verhältnis der indigenen Bewegung zur Regierung ist angespannt: Im Oktober 2019 führte sie einen Generalstreik an, nachdem die Regierung die Streichung der Treibstoffsubventionen verkündet hatte. Elf Tage lang legten indigene Demonstranten ganz Ecuador lahm - dann nahm die geschwächte Regierung von Präsident Lenin Moreno die Verordnung schließlich zurück.
Dabei muss sie eigentlich die strengen Sparauflagen des Internationalen Währungsfonds erfüllen, bei dem sie hochverschuldet ist. Bei den Treibstoffsubventionen wollte Moreno daher den Rotstift ansetzen. Die Bewegung der Indigenen aber fordert eine vom Währungsfonds unabhängige Politik: Eine Politik, die Armut und soziale Ungleichheit verringern soll.
"Wir Ecuadorianer müssen souveräne Entscheidungen über die Entwicklung unseres Landes treffen. Wir dürfen nicht erlauben, dass uns eine Politik von außen aufgestülpt wird. Das Prinzip, das uns leiten sollte, ist: Die, die am meisten besitzen, sollen am meisten für die Allgemeinheit zahlen."
Für die indigene Bewegung war die Rücknahme des Spardekrets ein Triumpf. Warum die geplante Verteuerung von Benzin und Diesel die Rebellion auslöste, erklärt der Kommunalpolitiker José Parco in seinem Büro in Riobamba – einer Stadt mit 220.000 Einwohnern, die wie Quito im Hochland von Ecuador liegt:
"Eine Stunde Pflügen mit dem Traktor kostet in den indigenen Gemeinden auf dem Land 15 Dollar. Ohne die Treibstoffsubventionierung hätte die Stunde plötzlich 25 Dollar gekostet! Geld, das die Menschen etwa für die Ausbildung ihrer Kinder brauchen, wäre in den Traktorbetrieb geflossen."
Kulturelle Identität und ein Leben in Würde
José Parco, der seine glatten, schwarzen Haare zu einem langen Zopf geflochten hat, ist selbst ein Indígena. In der Stadtverwaltung von Riobamba ist er für die Interkulturalität zuständig, das heißt, für die Beziehungen zwischen der indigenen und der nicht indigenen Bevölkerung. Der Posten ist erst vor ein paar Jahren geschaffen worden: Ein Ergebnis des langen Kampfes der Indigenen um die Anerkennung ihrer kulturellen Identität.
Riobamba, das am Fuß des Vulkans Chimborazo liegt, ist umgeben von Ureinwohner-Gemeinden, die – mehr schlecht als recht – von der Landwirtschaft leben. Hier, im Hochland Ecuadors, konzentriert sich der größte Teil der indigenen Bevölkerung des Landes. Kleinere Gruppen leben im Amazonas-Gebiet und an der Pazifikküste. Der letzten Volkszählung von 2010 zufolge sind sieben Prozent der Ecuadorianer Indigene, doch viele schätzen ihre Zahl höher. José Parco spricht von etwa einem Viertel der Landesbevölkerung.
Protest gegen Benachteiligung
Fest steht: Der größte Teil der indigenen Gemeinschaft ist arm und sozial benachteiligt.
"Straßen, Bewässerungskanäle, Trinkwasser – der Zugang zu dieser Grundversorgung ist für die Indigenen schlechter als für den Rest der Ecuadorianer. Auch fehlt ein Markt, auf dem die Kleinbauern ihre Produkte zu fairen Preisen verkaufen können. Deshalb müssen viele junge Indigene vom Land in die Städte ziehen. Außerdem brauchen wir auf dem Land Schulen, in denen der Unterricht nicht schlechter ist als in der Stadt. Der Aufstand vom Oktober hat sich gegen all diese Benachteiligungen der indigenen Gemeinschaft gerichtet."
José Parco stammt aus der indigenen Gemeinde Puchi Guallavin. Mit dem Auto dauert die Fahrt von Riobamba in Parcos Heimatdorf eine gute halbe Stunde. Unterwegs bricht die dichte Wolkendecke auf und gibt den Blick auf den schneebedeckten Gipfel des Chimborazo-Vulkans frei. Puchi Guallavin besteht aus ein paar Dutzend verstreuten, ärmlichen Gehöften. Früher lebten hier fünfzig Familien, aber wegen der Abwanderung in die Städte seien es heute nur noch dreißig, sagt José Parco. Auf dem Grundstück seiner Eltern zeigt er als erstes den Meerschweinchen-Stall.
"In dieser Gegend züchten und verkaufen die Bauern Meerschweinchen, die in Ecuador wegen ihres hohen Proteingehalts verzehrt werden – nicht nur auf dem Land, auch in den Städten. Sogar in die USA werden sie exportiert. Außerdem bauen meine Eltern und die anderen Leute hier Kartoffeln, Quinoa und Lupinenbohnen an – für den Eigenkonsum und für den Verkauf."
Die eigene Sprache wird gepflegt
Auf dem kleinen Bauernhof gibt es auch ein paar Schafe, Schweine und Hühner. José Parco begrüßt seine Eltern in der indigenen Sprache Kichwa. Die Mutter trägt die traditionelle Kleidung der Indígenas dieser Gegend: Einen langen schwarzen Rock, eine bestickte Bluse und einen kurzen Poncho.
Der Vater willigt freundlich, aber schüchtern in ein Interview ein. Sein Spanisch ist stockend, er hat es nie so gut gelernt wie sein Sohn. Dennoch will Vicente Parco erzählen, von seiner Familie und ihrem entbehrungsreichen, mühsamen Leben.
"Früher lebten hier Weiße, die eine große Hacienda unterhielten. Auf der haben meine Eltern wie Sklaven geschuftet, von früh bis spät. Heute bewirtschafte ich zwar mein eigenes Land, aber die Probleme sind verdammt groß! Wir produzieren Nahrungsmittel, bringen sie auf den Markt und erzielen dafür miserable Preise. Man kann davon kaum leben, deshalb sind alle meine Kinder weggezogen. Außerdem haben wir kein Wasser, um unsere Felder zu bewässern. Nur das Wasser, das uns Gott von oben schickt – den Regen."
Trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten: Vicente Parco hat es seinen acht Kindern ermöglicht, bis zum Abitur die Schule zu besuchen. Sie sollten es einmal besser haben als er und seine Frau, als die ausgebeuteten Vorfahren. Alle Söhne und Töchter arbeiten heute in der Stadt. José Parco, der Älteste, hat es mit seinem Posten in der Kommunalregierung von Riobamba besonders weit gebracht. Zuvor hatte er in Quito studiert: Soziologie und Anthropologie. Um im ecuadorianischen Bildungssystem zu reüssieren, musste er, der als Kind zuhause nur Kichwa gesprochen hatte, zunächst einmal Spanisch lernen.
"Wenn wir in der Schule untereinander Kichwa redeten, schimpften die Lehrer mit uns: Sprecht wie Christen, sprecht Spanisch! Da haben wir angefangen, uns für unsere Muttersprache zu schämen. Viele Indigene, die zur Ausbildung und zum Arbeiten in die Städte ziehen, verlieren ihre Sprache und damit auch ihre Identität. Aber die indigenen Organisationen Ecuadors versuchen seit langem, diesen Prozess zu stoppen. So haben wir erreicht, dass unsere kulturellen Traditionen in der Schulausbildung berücksichtigt werden."
Die Indigenen sind gut organisiert
Anfang der 1980er-Jahre hat Ecuador die sogenannte "Interkulturelle Bilinguale Ausbildung" eingeführt - ein System zweisprachiger Schulen. Die politischen Organisationen der indigenen Bewegung hatten lange dafür gekämpft. In den Schulen, die in den Regionen mit indigener Bevölkerung entstanden sind, findet der Unterricht auf Spanisch und in einer der Sprachen der Ureinwohner statt. Auch in der Stadt Riobamba gibt es eine solche Lehreinrichtung, die Unidad Educativa Monseñor Leonidas Proaño.
Im Hof des modernen, einfachen Schulgebäudes findet gerade Sportunterricht statt, die Schüler und Schülerinnen spielen Fußball und Basketball. In ihrem Stimmendurcheinander sind Sprachfetzen auf Spanisch und auf Kichwa zu erkennen.
"Unsere Schüler stammen fast alle aus indigenen Gemeinden auf dem Land. In dieser Einrichtung werden sie nicht nur auf Spanisch und Kichwa unterrichtet, sondern lernen auch Englisch", erzählt Schuldirektor Pedro Valente in seinem Büro im ersten Stock.
Dann gibt der Pädagoge, selbst ein Indígena, ein paar Beispiele für die Wissensvermittlung in der Kichwa-Sprache. Er zählt bis zehn und nennt die Teile des menschlichen Körpers.
Angst vor Diskriminierung
"Um unsere kulturelle Identität zu erhalten, dürfen wir unsere Sprache nicht verlieren. Aber nicht alle indigenen Familien sehen das so. Es gibt auch Eltern, die in die Stadt gezogen sind und auf keinen Fall wollen, dass ihre Kinder Kichwa sprechen."
Oft steckt dahinter die Angst vor Diskriminierung. An der von Pedro Valente geleiteten Schule wird nicht nur die indigene Muttersprache als etwas Positives vermittelt, sondern auch das Musizieren auf traditionellen Instrumenten – wie etwa der Panflöte Zampoña.
Jung, selbstbewusst, multimedial und "indígena"
Die siebzehnjährige Schülerin Jennifer ist klein und zierlich und wirkt anmutig in der traditionellen Kleidung der Indígenas aus der Chimborazo-Region. Den langen Rock und den Poncho trage sie immer, eine Jeans würde sie nicht anziehen, erklärt sie bestimmt. Seit ihrem vierten Lebensjahr besucht sie diese Schule. In diesem Jahr macht sie Abitur.
Ihr und ihren Eltern gefällt es gut, "dass uns hier unsere Sprache und Gebräuche vermittelt werden. Ich habe keine Angst davor, diskriminiert zu werden. Meine Kleidung bringt zum Ausdruck, wer ich bin. Es ist mir egal, ob Leute schlecht über mich reden. Und die Kichwa-Sprache gehört zu mir, ich werde sie immer sprechen."
Jennifer Quispe gehört zu dem Teil von Ecuadors junger, indigener Generation, der sich seiner Herkunft nicht schämt – und für den Tradition und Modernität keinen Widerspruch darstellen. Die junge Frau hat ehrgeizige Zukunftspläne, sie will Psychologie studieren. Der Aufstand im vergangenen Oktober habe die indigene Gemeinschaft Ecuadors gestärkt, glaubt Jennifer.
"Wir haben erreicht, dass es mehr Wertschätzung und Respekt für unsere kulturelle Identität gibt. Und dass wir wahrgenommen werden, dass unsere Vorschläge gehört werden. Wir als indigene Gemeinschaft Ecuadors sind weltweit bekannt geworden. Es erfüllt mich mit Zufriedenheit, ja mit Stolz, eine Indígena zu sein."
Zwar schmerzt es Jennifer Quispe noch immer, dass ein ecuadorianischer Politiker angesichts der gewalttätigen Ausschreitungen am Rande der Proteste im Oktober sagte, die Indigenen sollten "in ihre Einöde zurückkehren". Aber die junge Generation hat die Demütigung in einen trotzig-selbstbewussten Slogan verwandelt: Somos del Páramo, auf Deutsch sinngemäß "Wir sind die aus der Einöde". Über Twitter und Facebook wurde er tausendfach verbreitet.
Im Konflikt zeigt sich die neue politische Kraft
In der "Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften", kurz FLACSO, in der Hauptstadt Quito beschäftigt sich der Politologe Santiago Basabe mit aktuellen Entwicklungen der ecuadorianischen Politik. Auch er sagt: Die indigene Bewegung hat durch den von ihr angeführten Generalstreik im Oktober an Kraft gewonnen.
"Ich glaube, die Bewegung ist daraus innerlich gestärkt hervorgegangen, sie hat jetzt mehr Zusammenhalt als vorher. Und, die Indigenen haben der Regierung gezeigt, dass sie ein wichtiger Akteur sind, der bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden muss."
Bereits seit den 90er-Jahren ist die gut organisierte indigene Bewegung in Ecuadors Politik aktiv. 1996 gründete sie die Partei Pachakutik, die seitdem ununterbrochen mit mehreren Abgeordneten im Nationalparlament vertreten ist und an mehreren Orten die Bürgermeister stellt. Während der zehnjährigen Regierungszeit des linken Präsidenten Rafael Correa von 2007 bis 2017 habe die indigene Bewegung aber an politischem Einfluss verloren, sagen viele ihrer Mitglieder, sagt auch der politische Analyst Santiago Basabe.
"Ich glaube, ihre Position, die unter Correa geschwächt wurde, behauptet die indigene Bewegung jetzt wieder. Aber meiner Meinung nach hat sie sich zu stark radikalisiert. Stattdessen könnte sie in die verwaiste politische Mitte rücken und dort enormen Einfluss gewinnen."
"Wir wollen anerkannt werden"
Luís Macas ist ein bekannter Veteran der indigenen Bewegung Ecuadors. Er hat mehrere Aufstände mit angeführt und war einer der ersten indigenen Minister: 2003 übernahm er für ein halbes Jahr das Landwirtschaftsressort, verließ dann aber wegen politischer Differenzen die Regierung. Der 69-jährige Macas verteidigt die jüngste Rebellion und betont, die indigene Bewegung habe in ihrer Geschichte stets konstruktiv gehandelt.
"Wir haben nie mit leeren Händen protestiert, sondern immer Vorschläge und Alternativen präsentiert. Viele glauben, die indigenen Völker wollten Ecuador spalten. Aber das stimmt nicht. Wir wollen nur als Bewohner, die hier schon seit Tausenden von Jahren leben, anerkannt werden. Und wir fordern, dass bei der politischen Gestaltung unseres Landes die ganze Vielfalt der Bevölkerung berücksichtigt wird."
Der "plurinationale" Staat soll Wirklichkeit werden
Laut Verfassung ist Ecuador seit 2008 ein sogenannter "plurinationaler und interkultureller Staat". Also ein Staat, der die Vielfalt indigener Völker und Kulturen anerkennt.
"Das steht immerhin auf dem Papier, aber viel weiter sind wir nicht gekommen. Etwa heißt es in der Verfassung, dass alle ecuadorianischen Schüler neben dem Spanischen auch eine indigene Sprache lernen sollen. Aber das ist nicht umgesetzt worden. Und von den zweisprachigen Schulen in den indigenen Gemeinden sind viele wieder geschlossen worden."
Zu den Schulschließungen sei es in der Regierungszeit von Rafael Correa gekommen, sagt Luís Macas. Wie viele andere Indigene beklagt er, ihre Gemeinschaft sei unter dem Ex-Präsidenten geschwächt und gespalten worden.
"Correa hat über uns gesagt: Das sind vier Typen mit Ponchos, oder vier Typen mit Federn auf dem Kopf – so verächtlich hat er sich ausgedrückt. Seine Regierung hat uns fast unsichtbar gemacht."
Wann kommt ein indigener Präsident?
Doch seit dem Aufstand im Oktober sind Ecuadors Indigene alles andere als unsichtbar. Wie die Schülerin Jennifer Quispe es ausgedrückt hat: Ihre Gemeinschaft ist von der Welt wahrgenommen worden. Und während in Bolivien das Ende der Ära Evo Morales auch ein Rückschlag für die Bevölkerungsmehrheit der Ureinwohner ist, träumen in Ecuador manche vom ersten indigenen Präsidenten. Etwa José Parco, der Direktor für interkulturelle Beziehungen in der Stadtregierung von Riobamba:
"Ja, wir streben danach, einmal dieses Land zu regieren. Aber wir wollen nicht einfach an die Macht, sondern das Ziel ist, verantwortungsvoll die Geschicke Ecuadors zu leiten. Das ist eine große Herausforderung, auf die wir uns umfassend vorbereiten müssen."
"Ein zutiefst rassistisches Land"
Der Politologe Santiago Basabe allerdings sieht solche Ambitionen höchst skeptisch:
"Die indigene Bewegung weiß im Grunde, dass sie keine Chance hat, den Präsidenten zu stellen. Sie könnte höchstens eine Allianz mit einer anderen politischen Kraft eingehen, um an die Macht zu kommen. Aber ein indigener Präsident ist in Ecuador unwahrscheinlich, dies ist immer noch ein zutiefst rassistisches Land."
Viel wahrscheinlicher scheint dagegen, dass die Indigenen früher oder später wieder rebellieren werden. Schließlich haben sie das in der jüngeren Geschichte Ecuadors mehrmals getan – und sogar dazu beigetragen, Regierungen zu stürzen. Luís Macas, politischer Veteran der Bewegung:
"Wenn wir irgendwann merken, dass unsere politischen Vorschläge ignoriert werden, dann werden unsere Leute, glaube ich, reagieren. Und falls noch mal ein Dekret erlassen wird, das der indigenen Gemeinschaft schadet, kommt es sicher erneut zum Aufstand."