Eddy de Wind: "Ich blieb in Auschwitz"
Aus dem Niederländischen von Christiane Burkhardt
Piper Verlag, München 2020
256 Seiten, 20 Euro
Zeugnis der nazistischen Vernichtungsmaschinerie
06:35 Minuten
Der niederländische Psychiater Eddy de Wind hat in "Ich blieb in Auschwitz" seine Erinnerungen an das deutsche Vernichtungslager niedergeschrieben. Nach fast 75 Jahren ist das Buch erstmals auch auf Deutsch erschienen.
Einige Bücher von Auschwitz-Überlebenden sind zu Schlüsseltexten der Erinnerungskultur geworden: Primo Levis "Ist das ein Mensch?" oder Imre Kertész "Roman eines Schicksallosen". Nun fügt sich zu diesen ikonischen Texten das Buch des niederländischen Psychiaters Eddy de Wind hinzu.
In den Niederlanden erstmals 1946 erschienen, blieb das Buch weitgehend unbeachtet. Nun wurde es wieder aufgelegt und ist gerade sowohl auf Niederländisch als auch auf Deutsch erschienen, hierzulande unter dem Titel "Ich blieb in Auschwitz. Aufzeichnungen eines Überlebenden 1943-45".
Freiwillig im Lager
Wohl um den Schmerz der Erinnerung zu mildern, hat de Wind seine Eindrücke in "Ich blieb in Auschwitz" in der dritten Person verfasst, was die Kraft des Textes jedoch nicht mindert. Denn die Liebe, die hier beschworen wird, ist jung.
Erst kurz zuvor hatten sich der jüdische Arzt und die Krankenschwester im niederländischen Internierungslager Westerbork kennengelernt und dort sogar geheiratet. Er ist 27, sie 18 Jahre, verliebt, hoffnungsvoll und idealistisch. De Wind, der sich im Buch Hans nennt, war sogar freiwillig ins Lager gekommen, überzeugt davon, dass man ihn dringend brauchen und sicher auch wieder gehen lassen würde.
Immer wieder gelingt es ihm, vermeintlich kranke Lagerinsassen vorerst vor dem Transport in die deutschen Konzentrationslager zu bewahren. Doch im September 1943 müssen auch de Wind und seine Frau Friedel den Zug nach Osten besteigen. Eine Reise, von der sich zu diesem Zeitpunkt niemand vorstellen kann, wie sie endet.
Gewalt in Auschwitz
De Wind protokolliert nüchtern und minutiös die Ankunft in Auschwitz: Die Gewalt, mit der er und seine Frau auseinander gerissen werden, die Ausmaße des Lagers und sein zynisches Personal, das ihnen immer wieder weis machen will, es gäbe noch Rettung.
"Es hätte eine Mustersiedlung sein können, ein Lager mit Tausenden von Arbeitern, die ein großes, nützliches Werk verrichten. Über dem Tor, in schmiedeeisernen Buchstaben, das Motto des Konzentrationslagers. Eindrücklich, aber gefährlich: ‚ARBEIT MACHT FREI‘ - eine Suggestion, die beruhigend auf die unendlich vielen Menschen einwirken sollte, die hier herein gekommen waren. Hier und durch viele ähnliche Tore anderswo in Deutschland. Aber das war nur eine Illusion, denn dieses Tor war nichts anderes als das Höllentor, und statt ‚Arbeit macht frei‘ hätte dort stehen müssen: ‚Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.‘"
Von seiner Frau getrennt
De Wind, alias Hans, wird im Männerblock untergebracht und kann sich als Arzt vor der todbringenden Arbeit in den Steinbrüchen in die Krankenstationen des Lagers retten. Friedel dagegen muss im Frauenblock medizinische Experimente über sich ergehen lassen, die nicht wenige ihrer Mitgefangenen das Leben kosten.
Hin und wieder gelingt es dem jungen Paar, sich zu sehen. Doch ihr Alltag ist erfüllt von Angst und Ungewissheit. Selbst wenn er sich tagsüber tapfer hält, nachts wird Hans von seinen Gefühlen übermannt.
"Hans weinte. Es war kein trotziges Weinen wie früher als Kind, wenn er seinen Willen nicht bekam. Es war ein stummes Weinen. Da tobte nichts in ihm, nur Kummer brach sich Bahn, und die Tränen flossen ganz automatisch."
Alltag in der Lagerhölle
Obwohl man schon so viel darüber gelesen und gehört hat, ist es doch auch bei der Lektüre dieses Buches wieder bemerkenswert, wie anpassungsfähig der Mensch ist, wie er noch in der grauenvollsten Umgebung zu einer Art Alltag findet und zu einem Miteinander, das von Sympathien und Hierarchien geprägt ist. So berichtet de Wind von sogenannten Prominenten, Lagerinsassen, die aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Funktion über Privilegien verfügen und sei es nur, dass sie wärmer gekleidet sind oder besseres Essen bekommen.
Dass er als Niederländer niemals prominent werden würde, wird Hans jedoch schnell klar. Auch als Arzt ist er der Willkür des Lagerpersonals hilflos ausgesetzt:
"‘Wir kommen aus Holland.‘ Der Kapo lachte. ‚Dann werdet ihr bestimmt bald krepieren. Die Holländer krepieren hier alle innerhalb weniger Wochen. Ihr seid zu feingliedrig und könnt nicht arbeiten.‘"
Wiedersehen in Amsterdam
Dank seiner Jugend von knapp 30 Jahren und einer robusten Statur hält Hans durch und erlebt in Januar 1945 die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Doch während seine Frau Friedel sich auf einen winterlichen Marsch ins Ungewisse begibt, verschanzt sich Hans mit einigen Schicksalsgenossen in einem verlassenen Haus in der Nähe des Lagers.
Schließlich kehrt er sogar zurück, betreut noch über Monate hinweg verletzte russische Soldaten und notiert auf der Bettkante seine frischen Erinnerungen, aus denen er bereits eine rohe Zukunftsvision ableitet:
"Sie mussten laut heraus schreien, was sie erlebt hatten. Sie fühlten sich wie Apostel einer Rache, die so gründlich ausfallen musste, dass die Barbarei auf dieser Welt mit Stumpf und Stiel ausgerottet würde. Damit Rache die Welt säuberte und einem neuen Humanismus den Weg bereitete."
Dass seine Frau Friedel den Marsch in die Freiheit überlebt hat, wagt de Wind zu diesem Zeitpunkt nicht zu hoffen. Doch im Sommer 1945 begegnen sie einander in Holland wieder und bleiben noch zwölf Jahre ein Paar.
Spezialisiert auf Kriegstraumata
Als Psychotherapeut spezialisiert sich de Wind auf Kriegstraumata. Sein Leben lang wird er sich den Folgen der Vernichtungslager für die Überlebenden und deren Nachkommen widmen. Denn auch er ist - wie so viele - von Schuldkomplexen geplagt, fragt sich immer wieder, warum er die Hölle überlebt hat, so viele andere aber nicht.
1987 stirbt de Wind im Alter von 71 Jahren in Amsterdam. Seine Erinnerungen "Ich blieb in Auschwitz", die 75 Jahre nach der Befreiung des Lagers erstmals auf Deutsch erscheinen, machen einen eindrücklichen und persönlichen Text zugänglich. Unsentimental und mit genauem Blick für die menschlichen Abgründe versucht er, das Grauen der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie zu fassen.
Dass das 1945 verfasste Buch keineswegs überholt oder angestaubt wirkt, mag man als deutliches Zeichen verstehen. Es gibt Kapitel in der deutschen Geschichte, die sich einem Abschluss kategorisch verweigern, ja verweigern müssen.