Edgar Wolfrum: "Der Aufsteiger. Eine Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute"
Klett-Cotta 2020
368 Seiten, 24 Euro, E-Book 10 Euro
Geschichte einer großen Suchbewegung
08:20 Minuten
30 Jahre nach der Wiedervereinigung zieht Historiker Edgar Wolfrum eine Zwischenbilanz: In "Der Aufsteiger" erzählt er die politische Geschichte Deutschlands der Jahre 1990 bis heute nach - nüchtern, verlässlich, aber an einigen Stellen zu knapp.
Es ist ein mutiges Projekt, eine Geschichte der Bundesrepublik von 1990 bis in unsere Gegenwart zu schreiben: Mutig, weil es so viele unbekannte Enden gibt. Würden sich die Fluchtpunkte einer solchen Darstellung nicht jetzt schon wieder ändern, mitten in der "Coronakrise"? Normalerweise haben Historikerinnen und Historiker die Chance auf eine größere Distanz zum Gegenstand, gewissermaßen einen "zweiten Blick" auf die Dinge. Gleichzeitig liegt die Wiedervereinigung ja nun bereits 30 Jahre zurück; mehr als eine Generation. Es gibt also gute Gründe, die Vorgeschichte unserer Gegenwart genauer zu untersuchen und noch einmal darauf zu blicken, was die neue Berliner Republik alles beschäftigt hat und noch immer prägt.
Der Heidelberger Zeithistoriker Edgar Wolfrum ist einer der besten Kenner der deutschen Zeitgeschichte, und sein neues Buch ist genau ein solcher Versuch, Geschichte und Gegenwart mit einander zu verbinden. Dafür hat er sein Buch in zwölf systematische Kapitel gegliedert. Er erzählt also nicht der Reihe nach, von Kohl, über Schröder zu Merkel. Sondern er macht das entlang größerer Themen. Ihm geht es um die Veränderung unserer Demokratie- und Parteienlandschaft, den Aufstieg des Rechtspopulismus, die Bedeutung der Bundesrepublik im Prozess der europäischen Einigungen und die Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008/2009; er lässt noch einmal die Probleme des Vereinigungsprozesses Revue passieren, auch der industrielle Wandel, die Geschichte der Digitalisierung spielen eine größere Rolle, die Diskussion um Ökologie und Klimawandel – und natürlich die "Flüchtlingskrise", wie er das nennt, im Jahr 2015.
Mächtiger, unsteter europäischer Player
Ob der Titel "Der Aufsteiger" allerdings dafür passend ist, darüber wird man streiten können. Eigentlich geht es in seiner Darstellung auch nur recht selten um die Bundesrepublik als "Aufsteiger". Sicher: Nach 1990 spielte die Bundesrepublik eine zentrale Rolle für den Europäischen Integrationsprozess, als mächtiger ökonomischer Player, als harter, bisweilen allzu schulmeisterlicher Zuchtmeister allen voran der südeuropäischen Länder. Und sicherlich war die Bundesrepublik nun ein wichtiger Akteur im Konzert der internationalen Staatengemeinschaft. Aber ein "Aufsteiger"? Diese Überschrift trifft eigentlich nur auf einige Kapitel und ein umfassendes analytisches Potenzial entwickelt der Begriff kaum.
Wolfrum geht es eigentlich auch um etwas Anderes – und das ist deutlich überzeugender: Er beschreibt die Geschichte der Berliner Republik als Geschichte einer großen Suchbewegung, eines Versuches, sich zurecht zu finden in der veränderten ökonomischen und politischen Großwetterlage nach dem Zusammenbrauch des Kommunismus nach 1989. Der Musterknabe gebärdete sich, wie es Wolfrum formuliert, eben bisweilen nicht nur als Streber, sondern ihm habe auch etwas "Unstetes" angehaftet. Deutschland, so Wolfrum, habe sich immer auch zugleich unsicher gefühlt und mit seinem neuen Status gerungen.
1990 als historischer Nullpunkt
Das galt für ganz unterschiedliche Bereiche: für das transatlantische Verhältnis, das ja bereits im Irak-Krieg mit Gerhard Schröders Nein zur Kriegsbeteiligung einer dahin ungekannten Belastungsprobe ausgesetzt war, für seine Rolle in Brüssel und natürlich, nach innen, in der Debatte um die Bundesrepublik als "Einwanderungsland". Wolfrum tut gut daran, noch einmal an die rot-grüne Ära und ihre Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zu erinnern. Aber zugleich wird auch in seinem Kapitel über die "Flüchtlingskrise" ein strukturelles Problem seiner Darstellung deutlich: Denn er erzählt die Geschichte der Bundesrepublik beinahe so, als sei 1990 eine Art historischer Nullpunkt gewesen, als hätte es beispielsweise nicht vor 1990 schon lange Auseinandersetzungen um Migration und Flucht geben, als würden viele der Problemlagen des Sozialstaates, der ökologischen Herausforderungen oder der wirtschaftlichen Verflechtungen nicht weit vor die Wiedervereinigung zurückreichen.
Das ist schade, weil Wolfrum sich mit diesen Fragen vielfach beschäftigt hat. Das Problem liegt eher in der Anlage seines Buches, das für diese vertiefte Verortung, und das gilt auch für andere Kapitel, wenig Raum lässt und er sich gerade nicht die Zeit nimmt, darüber nachzudenken, was denn nun das Neue, die Veränderungen sind, die wir in der Gegenwart leben. Damit bleibt er oft bei den zeitgenössischen Begriffen und Deutungsschlachten stecken.
Verlässliche Darstellung
Mit seinen Wertungen ist Wolfrum insgesamt eher zurückhaltend, und so liest sich das Buch als eine erste große Chronologie der Berliner Republik wohltuend nüchtern. Keinen Zweifel lässt er, wie wenig er von der Rhetorik des angeblichen "Kontrollverlustes" der Regierung Merkel hält, die sich tief ins Herz der rechtspopulistischen Staatskritik eingefressen hat, und er verhehlt auch nicht seine Sympathien für das zum Teil chaotisch agierende rot-grüne Experiment.
Bemerkenswert ist dabei, dass seine Bewertung der Agenda-Politik im Vergleich zu früheren Darstellungen doch um einiges kritischer ausfällt. Manchem wird das mit guten Gründen immer noch nicht weit genug gehen, und vermutlich könnte man eben auch argumentieren: Es ist dieser grundlegende Eingriff in die sozialpolitische Architektur der Bonner Republik, die tatsächlich einen Wendepunkt darstellt; eine Veränderung, die für erhebliche Teile der Bevölkerung weitreichende Folgen hatte.
Wo sich Konflikte kreuzen
Das Buch ist dort besonders überzeugend, wo Wolfrum über den politischen Prozess, über Außenpolitik, über die Geschichte der Parteien spricht. Es ist also weitgehend eine politische Geschichte, die er erzählt. Alle, die sich diese Ereignisse noch einmal in Erinnerung rufen wollen, finden hier eine verlässliche Darstellung. Dagegen spielen die Erfahrungen unterschiedlicher Generationen, längerfristige Wertvorstellungen, Geschlechterrollen, Kultur und oder gar Musik, Kino oder Pop, Arbeitsverhältnisse oder Religiosität kaum oder gar keine Rolle.
Dass seine Darstellung nicht mit einer Bilanz endet, mag etwas überraschen. Zugleich ist das letzte Kapitel aber originell und hätte viel mehr Platz verdient. Denn Wolfrum entfaltet geschickt auf wenigen Seiten den Streit um das Berliner Humboldt-Forum, in dem sich tatsächlich zentrale Konflikte der bundesrepublikanischen Geschichte kreuzen: Wie umgehen mit dem architektonische Erbe der beiden deutschen Diktaturen? Was tun mit der preußischen Geschichte, um die derzeit ihre Nachfahren mit harten Bandagen kämpfen? Was tun mit dem nationalsozialistischen und verdrängten kolonialen Erbe der deutschen Geschichte, dass sich die Bundesrepublik so lange vom Hals zu halten versucht hat?
Fast hätte man sich gewünscht, Wolfrum hätte sein Buch von hier aus geschrieben, um über den historischen Ort des wiedervereinigten Deutschlands nachzudenken. Wie wichtig das wäre, auch angesichts der derzeitigen Kontroversen um die Rolle eingeschränkter Grundrechte, daran dürfte kein Zweifel bestehen. Und dabei hilft die Lektüre ganz sicher.