Peter Stephan Jungk: Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart
Geschichten eines Lebens
S. Fischer
320 Seiten, 22,99 Euro
Die Frau, die für die Sowjets spionierte
Edith Tudor-Hart arbeitete jahrzehntelang ebenso unentdeckt wie erfolgreich für den KGB als Spionin in Großbritannien. Ihr Großneffe Peter Stephan Jungk hat sich auf ihre Spuren begeben - und rekonstruiert ihr Leben nun in einem Buch.
"Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer mit 40 immer noch einer ist, keinen Verstand!"
Mit diesem oft zitierten Wort Winston Churchills könnte man Peter Stephan Jungks Buch "Die Dunkelkammern der Edith Tudor-Hart. Geschichten eines Lebens" auf fast tragikomische Weise zusammenfassen: Ausgangspunkt des Buches ist die Frage "Wer war sie wirklich?", die jüdisch-kommunistische Edith Tudor-Hart.
"Zu ihren Lebzeiten hab ich sie nicht gut gekannt", schreibt der 1952 in Kalifornien geborene Autor über seine Großtante, "als 18-Jährige war Edith bereits Mitglied der kommunistischen Jugendbewegung. Was trieb sie an? Wer beeinflusste sie? Wem diente und wen bekämpfte sie?"
Es geht in Jungks Buch jedoch nicht allein um die "Dunkelkammern", also die Geheimnisse, der 1908 in Wien geborenen Tudor-Hart, die jahrzehntelang ebenso unentdeckt wie erfolgreich für den KGB als Spionin arbeitete und damit die Geschichte des 20. Jahrhunderts maßgeblich mitprägte. Es geht um die Motive und Motivationen von Menschen an wichtigen politischen und wissenschaftlichen Schnittstellen. Und nicht zuletzt geht es in dem Buch um die vielen offenen Fragen der Nachgeborenen.
Oktober 1951: "To the Postmaster-General and all others to whom it may concern: Diese Frau, professionelle Fotografin, wohnhaft in Grove End Gardens, London, dürfte in russische Spionageaktivitäten in diesem Land verwickelt gewesen sein. Zurzeit beobachten wir sie in einem neuen Fall vermuteter Spionage. Die Überwachung muss mit größter Vorsicht durchgeführt werden. Besonderes Augenmerk ist auf Briefe zu richten, die sie vom Kontinent erhält." Unterschrieben: One of His Majesty´s Principal Secretaries of State.
Ein sowjetischer Spionagering innerhalb des britischen Geheimdienstes
Fast romanhaft beschreibt Jungk im Folgenden den Besuch des MI5 bei seiner Großtante. Akribisch stellte dieser die Wohnung auf den Kopf und fand - nichts! Edith Tudor-Hart hatte die kompromittierenden Fotos und Negative hinter dem Badezimmerspiegel in einer Mauervertiefung versteckt. Fotos von Persönlichkeiten, die in der britischen Gesellschaft hoch geschätzt waren: Diplomaten, Wissenschaftlern, Politikern. Allesamt Spione oder Doppelspione.
Aufnahmen zum Beispiel von Engelbert Broda - einem ehemaligen Geliebten der Tudor-Hart, einem international renommierten Professor für Physikalische Chemie aus Österreich. Nach seiner Flucht aus dem Nazi-Reich 1938 forschte er in Cambridge über Radioaktivität und setzte diese Tätigkeit in Wien nach 1947 fort. Seit 2009 weiß man, dass er einer der Hauptinformanten der Sowjetunion über die westliche Atombombenforschung gewesen war. Rekrutiert hatte ihn Edith Tudor-Hart.
Hinter dem Badezimmerspiegel der Großtante lagen zum Zeitpunkt der Hausdurchsuchung auch Aufnahmen der Cambridge Five - jener fünf Männer also, aus denen sich der legendäre KGB-Spionage-Ring zusammensetzte. Ein sowjetischer Spionagering innerhalb des britischen und teilweise auch amerikanischen Geheimdienstes. Einer von ihnen war Kim Philby. Heute als "Jahrhundertspion" bezeichnet. Auch ihn hatte die junge Edith Tudor-Hart für den KGB gewonnen. Über den Umweg der Bekanntschaft mit Arnold Deutsch, einem glühenden Kommunisten, der mit 17 ihre erste große, aber leider unglückliche Liebe gewesen war. Kim Philby, übrigens ein gebürtiger Inder, wollte eigentlich nur Mitglied der Kommunistischen Partei werden. Tudor-Hart arrangierte ein konspiratives Treffen mit Arnold Deutsch. Das war 1934:
"Nach allem, was Edith mir über Sie erzählt hat, mache ich Ihnen einen ganz anderen Vorschlag, Mister Philby", legt der Autor Jungk Arnold Deutsch in den Mund.
"Sie haben in Cambridge studiert, alle Türen stehen Ihnen offen im Königreich Großbritannien. Wir brauchen Männer wie Sie, Kim. Aber nicht in der Partei. Es gibt viele mögliche Berufswege für Sie. Vielleicht werden Sie zunächst bloß Journalist. Und bewerben sich erst später um einen Posten im diplomatischen Dienst. Oder um andere Funktionen innerhalb der Regierung. Das sind Orte, zu denen Sie als KP-Parteimitglied niemals Zugang bekämen."
Über zehn Jahre hat Peter Stephan Jungk die Spuren seiner Großtante verfolgt. Hat Familiengeschichte betrieben und dabei eine Geschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben. Unglaubliche Materialmengen - die er finden, sichten, evaluieren und bändigen musste. Auf Informationen aus den russischen Geheimdienstarchiven wartete Jungk vergeblich mehrere Jahre:
"Lassen Sie die Finger davon", hatte ihm bereits in Wien ein Mitarbeiter des Österreichischen Staatsarchivs geraten. "Vielleicht sind einige begleitende Umstände noch nicht so kalt, wenn Sie verstehen, was ich meine, dass sie veröffentlicht werden dürfen. Frau Tudor-Hart war eine sowjetische Agentin, die Russen mögen das absolut nicht, dass man in ihren Geheimnissen herumwühlt."
Jungk arbeitet sowohl mit dokumentarischen als auch mit fiktionalen Mitteln: Er befragt Historiker und Zeitzeugen, zitiert aus Briefen, verwendet Geschichten aus dem Familienkanon, und er schreibt - mit vielleicht etwas zu großer Lust am Detail - die Dialoge der Liebesszenen aus, die für Großtante Edith immer im Desaster endeten.
Wozu das alles, hat es sich gelohnt?
Hochinteressant ist das Kapitel, das der Autor über seinen Vater schreibt. Über Robert Jungk. Im Westen als Friedensaktivist, Zukunftsforscher, Publizist und Träger des alternativen Nobelpreises bekannt - in Moskau als "guter Kommunist". Befreundet war der Vater mit einer Reihe von Leuten, die mittlerweile als KGB-Spione enttarnt sind. Wie es scheint, war es für Peter Stephan Jungk das vielleicht sogar Brisanteste bei den Recherchen zu seiner Großtante auf die bislang unentdeckten "Dunkelkammern" seines Vater zu stoßen:
"War Vater vielleicht ähnlich wie Sartre, Gide, Malraux tatsächlich ein ´fellow traveller´? Das passte so gar nicht zu ihm. Oder doch? Haben die Sowjets ihn missbraucht, und er bemerkte es nicht? Er gehörte – wie Engelbert Broda – der 1957 gegründeten Pugwash-Bewegung an, jener regelmäßig einberufenen Konferenz renommierter Wissenschaftler, die zusammentrafen, um Fragen der atomaren Bedrohung zu diskutieren, und von der es hieß, es sei eine weitgehend kommunistisch gelenkte Initiative. Andererseits sprach er sich immer sehr deutlich gegen das sowjetische Unterdrückungssystem aus. Oder tat er das nur zum Schein?"
Jungk beschreibt in seinem Buch auch die erfolgreichen Arbeiten der Edith Tudor-Hart als Fotografin. Sie hatte sich auf sozialkritische Fotografie spezialisiert – einen Zweig, der sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierte. Die Kamera als Waffe. Sozialkritik durch dokumentarische Bilder. Einige Fotografien finden sich in der Mitte des Buches.
Im Privatleben scheint Edith Tudor-Hart ruhelos gewesen zu sein, eine völlig überforderte Mutter eines schwerkranken Kindes, die zunehmend selbst durch Krankheit gezeichnet war. Immer in notorischen Geldnöten. Immer in unglückliche Liebesaffären verstrickt. Vom Kommunismus hat sich Edith Tudor-Hart nie losgesagt. Trotz Bekanntwerden der stalinistischen Säuberungen und anderer Vergehen:
"Hast du denn von all diesen Vorgängen nichts mitbekommen, Edith? Mit Sicherheit hast du davon gewusst. Aber wenn du Bescheid wusstest, wie konntest du die Tötungsmaschinerie der stalinistischen Tschistka, der systematischen Ermordung als ´unzuverlässig´ gebrandmarkter Parteimitglieder, rechtfertigen? Wie konntest du Stalins Antisemitismus gutheißen, der entgegen allen offiziellen Beteuerungen, sich besonders virulent gebärdete? Du antwortest mir nicht. Ich begreife dein Verhalten nicht, Edith, ich verstehe deine Vasallentreue nicht."
Und so stellt sich für den Leser am Ende des Buches erneut die Frage vom Anfang: "Wozu das alles, hat es sich gelohnt?" - Es wäre einfach, mit unserem heutigen Wissen mit "nein" zu antworten.
Anfang des 20. Jahrhunderts war der Kommunismus eine Utopie, und es gab gute Gründe, sich für ihn einzusetzen. Doch spätestens seit den 60er-Jahren, nachdem die Vorgänge in Ungarn bekannt geworden waren und die Geheimrede Chruschtschows von 1956 durchgesickert war, der Prager Frühling kam und die Toten an der Berliner Mauer nicht länger ignoriert werden konnten, war deutlich, wie Recht Churchill mit seinem eingangs zitierten Ausspruch hatte. Mit anderen Worten: Nein, es hat sich wirklich nicht gelohnt.
Was sich aber immer lohnt, ist, genau hinzuschauen und nachzufragen. Und genau das leistet Peter Stephan Jungk mit seinem Buch und regt dazu an, es ihm gleichzutun.