Edith Wharton: Zeit der Unschuld
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Ott
Manesse Verlag, München 2015
392 Seiten, 26,95 Euro
Glückssucher mit sehr viel Geld
Edith Wharton ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren Geschichten über die vertrockneten Beziehungen der amerikanischen Upper Class zu Ruhm gekommen. Nun wurde ihr 1920 erschienener Roman "Zeit der Unschuld" erneut ins Deutsche übersetzt.
Die amerikanische Autorin Edith Wharton war ganz vorne dabei: 1921 hat sie als erste Frau den Pulitzer-Preis bekommen, zwei Jahre später zeichnete die Yale-Universität sie als erste Frau überhaupt mit der Ehrendoktorwürde aus. Edith Wharton wurde 1862 in die New Yorker Upper Class hineingeboren. Das Leben in dieser Upper Class wurde ihr großes Lebensthema, daraus hat sie viele enorm erfolgreiche Romane gemacht.
Ihren berühmtesten, "Zeit der Unschuld", hat Martin Scorcese 1993 in einer opulenten Filmversion mit Michelle Pfeifer, Winona Ryder und Daniel Day-Lewis in den Hauptrollen in Erinnerung gerufen. Höchste Zeit, dass die Deutschen diese Klassikerin des Gesellschaftsromans als Zeitgenossin entdecken.
Im Mittelpunkt des Romans, der Ende des vergangenen Jahrhunderts spielt, steht eine Dreiecksgeschichte. Der Anwalt Newland Archer hat sich standesgemäß mit der hübschen, aus einer der besten Familien stammenden May verlobt. Da taucht aus Frankreich deren Cousine Ellen Olenska auf, um sich von ihrem Ehemann, einem betrügerischen polnischen Adligen, scheiden zu lassen.
Ein Dickicht verlogen-heuchlerischer Konventionen
Im Auftrag der Familie, die den Skandal fürchtet, versucht Archer die schöne und selbstbewusste Gräfin von ihrem Schritt abzubringen. Die beiden verlieben sich ineinander, zwischen Nachmittagstees und verstohlen geschriebenen Briefen, Rosensträußen und Opernabenden. Doch Archer gelingt es nicht, sich aus dem Dickicht verlogen-heuchlerischer Konventionen zu befreien. Er kehrt zu seiner Verlobten zurück.
Mit den Mitteln des psychologischen Realismus beleuchtet Edith Wharton dieses Melodram in einer auf Schein versessenen Gesellschaft, der es nur um Apanagen, Erbteile und krumme Geschäfte geht. Parfumduft und Kleiderrauschen, Liebesdispute und Kutschfahrten, üppige Diners und Tête-à-têtes vor dem Kaminfeuer − all das wird präzise und mit ausschweifender Lust am Detail geschildert.
Edith Wharton ist eine kühle Beobachterin, ihre distanzierte Erzählweise, der spritzig-subtile Witz wird von Andrea Ott reich nuanciert und glänzend subtil übertragen.
Das Nichtgesagte bringt den Leser auf Touren
Meisterlich, wie nur wenige Striche die zahlreichen Figuren charakterisieren: Dem letztlich antriebslosen Schöngeist Archer genügt es eher, "sich ein bevorstehendes Vergnügen nur vorzustellen, als es tatsächlich zu erleben".
Ausgefeilte Paargeschichten, die Darstellung dessen, was zwischen Mann und Frau gesagt und − verschwiegen wird, das ist Edith Whartons Stärke. Andeutungen genügen. Des Helden stille Verlobte beendet dessen Verhältnis mit der heimlichen Geliebten durch einen vermeintlichen Trick, ohne dass offenbar würde, was sie wirklich weiß. Vieles hält die Autorin geschickt in der Schwebe, was das Vorstellungsvermögen des Lesers immer wieder auf Touren bringt.
In ihrem Nachruf feierte die "New York Times" 1937 Edith Wharton als "Chronistin der Fifth Avenue". Aber man sollte sich nicht täuschen lassen. Diese Autorin ist entschieden modern. Auch wenn es heute weniger Konventionen und mehr Scheidungen gibt: Die happy few jener Epoche und ihre emotionalen Nöte sehen unseren verzweifelt vergeblichen Liebes- und Glückssuchern zum Verwechseln ähnlich.