Edition Nautilus

"Je schlimmer die Realität, desto dringender brauchen wir Utopien"

Martin Luther King am 28. August 1963 in Washington, D. C. winkt den Demonstranten zu.
Martin Luther King am 28. August 1963 in Washington, D. C. © AFP
Katharina Picandet im Gespräch mit Christian Rabhansl |
Reden von Martin Luther King sind einer der ersten Titel der Reihe "Utopien für Hand und Kopf" der Edition Nautilus. Deren Lektorin Katharina Picandet sagt: "Alte Utopien können erstaunlich aktuell sein." Die Nautilus-Bücher sollen verführerisch sein – nicht nur inhaltlich, sondern auch in ihrer Gestaltung.
Christian Rabhansl: Utopische Entwürfe, die haben oft etwas Angestaubtes. Oft liegt das daran, dass sie tatsächlich alt sind und irgendwie die Visionen nicht mehr so richtig in die Gegenwart passen. Dabei gäbe es doch eigentlich nichts Gegenwärtigeres als die Sehnsucht nach einer besseren Welt, und zwar immer und überall. Das scheinen sie sich auch in Hamburg beim Verlag Edition Nautilus gedacht zu haben. Das ist ein kleiner, unabhängiger Verlag, der schon lange nicht nur für Belletristik, sondern auch für aberwitzige, absurde, visionäre und eben utopische politische Texte steht. Jetzt sogar mit einer eigenen Reihe, "Utopien für Hand und Kopf" heißt die. Katharina Picandet ist die verantwortliche Lektorin, hallo!
Katharina Picandet: Ja, hallo!
Rabhansl: Die ersten drei Bände Ihrer neuen Utopie-Reihe, die, ja, sind im Grunde gar nicht neu, wenn ich so sagen darf. Willam Morris hat die "Kunde von nirgendwo" Ende des 19. Jahrhunderts geschrieben, das ist Ihr erster Band, der zweite ist eine Sammlung politischer Reden von Martin Luther King, die sind selbstredend auch nicht neu, und der dritte Band – er ist gerade in Vorbereitung – wird "Die Seele des Menschen im Sozialismus" von Oscar Wilde sein, und dieser Essay ist 1891 erschienen. Warum haben Sie zum Start drei so alte Utopien ausgewählt?
Picandet: Ja, eigentlich um ein bisschen die Reihe vorzustellen, aber auch um zu zeigen, dass alte Utopien erstaunlich aktuell sein können. Also, als wir angefangen haben, diese Reihe zu konzipieren, sind wir vom Kanon ausgegangen und haben uns angeguckt, was gibt es eigentlich an utopischer Literatur? Und William Morris war einer der ersten Texte, die uns dazu eingefallen sind. Und dann habe ich das noch mal gelesen und habe gesagt, das ist eigentlich wirklich erstaunlich aktuell immer noch: eine Gesellschaft ohne Geld, eine Gesellschaft ohne feste Arbeitsverhältnisse, Reökologisierung Londons, eine Deurbanisierung zum Teil auch. Also, das sind Sachen, die immer noch gültig sind. Und ich finde es auch interessant zu sehen, wie sind die Utopien von gestern entstanden, aber was ist davon heute noch lebbar? Und ehrlich gesagt, gerade bei Martin Luther King … Also, es ist ja geradezu erschreckend aktuell, das sind die letzten Reden vor seinem Tod, die wir da veröffentlicht haben, und auch heute werden noch bei Demonstrationen Bilder von Martin Luther King getragen und es gibt derzeit im Übrigen auch gar nichts anderes auf Deutsch lieferbar.
Rabhansl: William Morris, Sie haben das gerade schon beschrieben, da arbeiten die Menschen nur noch aus Vergnügen und schenken einander dann gegenseitig, was sie da so Schönes hergestellt haben, auch Oscar Wilde – in Vorbereitung –, der entwirft eine, ja, libertär-sozialistische Welt. Bin ich jetzt zynisch, wenn ich das ein bisschen naiv finde?
Picandet: Nein, überhaupt nicht, das denke ich nicht. Es ist eine gewisse Naivität dabei, aber ich glaube auch ehrlich gesagt, dass man viel Naivität braucht, um überhaupt eine Utopie entwerfen zu können. Und man muss sich ja irgendwie alternative Welten und alternative Gesellschaften erst mal vorstellen können, um die gegenwärtige Welt zu verändern. Es ist aber schon so, dass wir die Reihe deutlich bewegen wollen, erstens weg von Europa, also auch wirklich andere Utopien kennenlernen, also … oder von Europa und der westlichen Welt, und auch hin zu moderneren Utopien. Aber es ist so ein bisschen so eine zentrifugale Bewegung: also vom Bekannten, Kanonisierten, Herkömmlichen weit in die Utopie eben.
Rabhansl: Was muss ein Text haben, damit Sie ihn aufnehmen?
Picandet: Er muss verführerisch sein. Also, das war unser Reinkonzept. Utopische Texte sind oft bisher in so einer Studentenbewegung-Dünndruck-Engdruck-Anmutung erschienen, und wir wollten nicht nur verführerische Texte haben, sondern auch in einer verführerischen Form. Also, es sind großformatige, illustrierte, schöne Bücher. Und die Texte sollten auch so sein. Ansonsten ist es frei. Also, wir haben Reden, wir haben Essays, wir haben einen Roman, es können Briefe sein, also, formal ist da sozusagen alles möglich. Aber es sollte keine große Hemmschwelle haben, was die Erklärungsbedürftigkeit angeht, und es sollte irgendetwas haben, was heute dann noch verführen kann.

Studenten durften sich "austoben"

Rabhansl: Dieses Verführerische … Ich habe in einer Verlagsankündigung gelesen, Sie wollen, dass Ihre Bücher Fetischobjekte werden oder Coffee Table Books mit Inhalt, und das Ganze, wenn ich richtig verstehe, in Zusammenarbeit mit der Folkwang Universität der Künste. Da gestalten Studierende Ihre Bücher und dürfen sich richtig austoben oder wie läuft das?
Picandet: Ja, genau, das … Also, ursprünglich ist das so, dass wir über einen dem Verlag lange verbundenen Freund, Martin tom Diek, der an der Folkwang Universität der Künste lehrt, der hat uns vorgeschlagen, dass wir das von einer Gruppe von Studenten entwickeln lassen. Und das war auch ganz toll und im Übrigen auch wirklich gelebte Utopie. Also, wir haben uns da häufiger getroffen in Hamburg und in Essen und die haben das zusammen entwickelt und durften sich ganz und gar austoben.
Rabhansl: Was ist die Folge? Woran sehe ich denn jetzt an diesem Buch: Oh, das haben hier Studierende der Universität der Künste gestaltet und nicht ein Profi?
Picandet: Na ja, also, die sind natürlich auch nicht völlig unprofessionell. Und eine Gestalterin hat das dann zu ihrer Diplomarbeit gemacht, Nora Prinz, die das jetzt auch gestaltet. Da ist natürlich eine Professionalität da. Aber man kann es schon … Also, die Illustrationen in den ersten beiden Büchern sind zum Beispiel absolut in Gemeinschaftsarbeit entstanden, also, es gibt nicht einen Illustrator oder eine Illustratorin. Und ich weiß jetzt nicht, ob man das dem Endobjekt so ansehen kann, aber sie sind halt so entstanden, in freiem Zuruf und freiem Austoben.
Rabhansl: Für viele sind Utopien eigentlich gescheitert, so diese Suche nach dem neuen Menschen führt historisch dann doch sehr häufig ins Grauen. Brauchen wir trotzdem wieder Utopien oder warum machen Sie das alles?
Picandet: Na ja, ich würde sagen, je schlimmer die Realität ist, desto dringender brauchen wir Utopien. Ich denke, man … Es wäre ja traurig, wenn man das nicht immer wieder versuchen würde. Ich weiß nicht, ob man sagen kann, man braucht den neuen Menschen und man bekommt den automatisch in einer neuen Gesellschaft. Aber ich finde doch, man sollte immer wieder träumen können und träumen müssen, um zu versuchen, die Gegenwart zu ändern. Und das ist für uns utopisch.
Rabhansl: Katharina Picandet ist Lektorin der Edition Nautilus und gibt dort eine Reihe utopischer Schriften heraus. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
Picandet: Gerne!
Rabhansl: Die ersten beiden Bände sind "Ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Reden von Martin Luther King" und William Morris' "Die Kunde von Nirgendwo".
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